Sonntag, 29. April 2018

3,7 Millionen - wohlgemerkt - sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als 2.000 Euro brutto pro Monat. Das hat Folgen, nicht nur heute schon


In den vergangenen Wochen wurde mal wieder intensiv über Hartz IV und dabei auch über die Höhe der Regelleistungen in der Grundsicherung diskutiert und gestritten. Und immer wieder wurde dabei auch darauf hingewiesen, dass es viele Menschen gibt, die arbeiten gehen und knapp oberhalb der Bedarfsgrenzen des Hartz IV-Systems liegen. Und um die sich kaum einer kümmern würde, die aber mit dem kargen Entgelt für ihre Arbeit alleine über die Runden kommen müssen. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Zahlen, so nüchtern sie daherkommen, eine notwendige Offenbarung, dass wir hier nicht über eine kleine Minderheit sprechen, die mit niedrigen Löhnen abgespeist wird. Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sabine Zimmermann, hat sich in der Fragestunde des Bundestags danach erkundigt, wie viele Menschen denn weniger als 2.000 Euro brutto pro Monat bekommen für ihre Arbeit - und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat geantwortet. Die Daten aus dieser Antwort sind in der Abbildung visualisiert.

»Nach den jüngsten Zahlen von Ende 2016, neuere Daten liegen nicht vor, waren dies 17,7 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten in Deutschland. Im Westen betrug der Anteil 14,7 Prozent, im Osten sogar 31,2 Prozent«, kann man diesem Artikel entnehmen. Das hat natürlich zahlreiche Folgen, die nicht nur heute ihre Wirkung entfalten, sondern die viele in der Zukunft bitter zu spüren bekommen werden.

Samstag, 28. April 2018

Den Finnen geht beim (angeblichen) "Experiment" zum "bedingungslosen Grundeinkommen" (vorsätzlich) die Puste aus und in Deutschland wird dem ganzen Ansatz ein "Sozialstaat 4.0" entgegengestellt

In diesen Tagen wird man im Kontext der merkwürdigen Debatte über eine "Abschaffung von Hartz IV" (vgl. dazu beispielsweise Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte vom 8. April 2018) immer wieder auf die Vision eines "bedingungslosen Grundeinkommens" angesprochen, mit dem man dann doch das bestehende Grundsicherungssystem ablösen könne. Unabhängig von der eigenen Positionierung bei der Frage, wie man zu der grundsätzlichen Idee bis hin zu einer möglichen (?) Umsetzung steht, wurde man gleichzeitig mit solchen Meldungen konfrontiert: Finnland stellt bedingungsloses Grundeinkommen für Arbeitslose ein: »Fans des bedingungslosen Grundeinkommens hatten große Hoffnung in den Versuch gesetzt. Doch nun lässt die Regierung das Experiment auslaufen«, berichtet Jakob Schulz in seinem Artikel. Der Beitrag bezieht sich sich auf diese Meldung aus dem britischen "Guardian": Finland to end basic income trial after two years: »Government rejects request for funds to expand scheme and plans stricter benefits rules.« Nun wird der eine oder andere schon an dieser Stelle die Stirn runzeln und sich fragen - "stricter benefits rules"? Was hat das noch mit der Bedingungslosigkeit beim Grundeinkommen zu tun, die ja der entscheidende Unterschied ist zu allen anderen heute dominierenden Formen einer eben nicht-bedingungslosen Absicherung?

Donnerstag, 26. April 2018

Nur nicht zu früh freuen: Wenn die nächste Instanz ein wegweisendes Urteil zu Mitbestimmungsrechten bei der Mindestpersonalbesetzung in der Pflege wieder einkassiert

Man kennt das - es gibt Hoffnung und dann wird die wieder zunichte gemacht in der nächsten Runde. So ist das oft in der Sozialpolitik. Sei es, dass man mit einer guten Absicht gestartet ist, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und am Ende dann ganz woanders landet. Oder in der Rechtsprechung - ein Urteil, oftmals überraschend, lässt hoffen - und dann wird es in der nächsten Instanz wieder kassiert. Davon muss hier berichtet werden in einem Themenfeld, das seit einiger Zeit im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte steht: dem Pflegenotstand in den Pflegeheimen und in den Krankenhäusern.

Dabei geht es gar nicht um die optimale Ausstattung der Pflegeeinrichtungen mit Personal, sondern man beschränkt sich schon ob bewusst oder unbewusst angesichts des eklatanten Personalmangels auf die Frage, ob es Mindestpersonalvorgaben geben soll (und darf) und wenn, wie man diese Untergrenzen realisieren könnte. Eine an sich schon amputierte Debatte, die zudem - analog zum gesetzlichen Mindestlohn - immer die Gefahr in sich trägt, dass eine unterste Grenze auf einmal zu einer Referenz für die "normale" Ausstattung wird.

Mittwoch, 25. April 2018

Der Gesetzgeber will den Selbstständigen mit niedrigen Einkommen bei den Krankenkassenbeiträgen helfen. Zur doppelten Ambivalenz der geplanten Absenkung des Mindestbeitragssatzes durch das GKV-Versichertenentlastungsgesetz


Schon seit langem wird die Absicherung der Selbstständigen in der Sozialversicherung, sowohl in der gesetzlichen Kranken- wie auch in den Rentenversicherung diskutiert. Immer wieder gab es kritische Medienberichte vor allem über die Problematik der hohen, teilweisen extremen Belastung von Selbstständigen mit geringen Einkünften durch den Mindestbeitrag als freiwillig Versicherte in der Gesetzlichen Krankenversicherung - zumeist im Zusammenhang mit den stark steigenden Beitragsschulden der Krankenkassen. Die steigen und steigen. So berichtet beispielsweise Florian Staeck unter der Überschrift Kassen laufen 8,2 Milliarden Euro hinterher: »Die vergangene GroKo hat das Problem wachsender Beitragsschulden ausgesessen. Das rächt sich: Der Schuldenberg ist allein im Vorjahr um über zwei Milliarden Euro gewachsen.« Und man kann dem Artikel auch das entnehmen: "Die größten Schulden liefen bei freiwillig Versicherten auf und innerhalb dieser Gruppe dürften vor allem die kleinen hauptberuflich Selbstständigen betroffen sein", so wird Ann Marini, die Sprecherin des Spitzenverbandes der GKV, zitiert. Allgemeine Versicherungspflicht und Beitragsbestimmung passten bei dieser Gruppe oft nicht mit ihrer Lebens- und Einkommenssituation zusammen. "Hier brauchen Krankenkassen wie Versicherte eine rechtliche Anpassung", so Marini. Anders werde man die Spirale aus hohen Grenzen der Beitragsbemessung, unsteten geringen Einnahmen und wachsenden Säumniszinsen nicht in den Griff bekommen. Klare Problembeschreibung, Hinweis auf das, was zu tun wäre - doch bislang wurde das seitens der Verantwortlichen ausgesessen. Aber nun scheint der Gesetzgeber ein Einsehen zu haben und will als eine der ersten Maßnahmen im Bereich der Gesundheitspolitik eine Veränderung der Mindestbemessung auf den Weg bringen.

Montag, 23. April 2018

Ein Schlag ins Gesicht der Pflege, vor allem der Altenpflege. Nach dem Muster: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass

Screenshot BILD Online vom 23.04.2018

»Die Arbeitgeber warnen vor einer Verschärfung des Pflegenotstands, weil die Ausbildung der Pflegekräfte zu anspruchsvoll wird. Viele Bewerber seien damit überfordert, würden die Ausbildung abbrechen.« Das teilt uns Dirk Hoeren in der BILD-Zeitung mit unter der reißerischen und in den üblichen großen Buchstaben gesetzten Überschrift Neues Gesetz überfordert Altenpflege-Azubis! Was soll da mit den armen Azubis passieren, mag der eine oder andere gedacht haben. Und wieso überhaupt warnen hier die Arbeitgeber, die doch ansonsten eher das Schwachmatentum unter den Azubis beklagen? Schauen wir genauer hin.

»Nach dem neuen Pflegeberufegesetz werden die eigenständigen Berufe Altenpfleger, Krankenpfleger und Kinderkrankenpfleger abgeschafft. Ab 2020 soll es nur noch Pflegefachfrau/-mann geben. Sie sollen für alle Bereiche ausgebildet werden – und das auf viel höherem Niveau als bisher.«

Das ist nun schon mal - um es nett zu formulieren - nur in Umrissen richtig. Dazu gleich mehr. Der eigentliche Punkt der Arbeitgeber-Bedenken geht so:

»Laut Ausbildungsverordnung müssen sie z. B. „über ein breites Verständnis von spezifischen Theorien und Modellen zur Pflegeprozessplanung“ verfügen. Und sie sollen „pflegebezogene Daten anhand von pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen erheben und interpretieren“ sowie über „ein integratives Verständnis von psychosomatischen Zusammenhängen verfügen“. Dabei hat über die Hälfte der Altenpflege-Azubis Hauptschulabschluss.«

Und dann wird mit Ingo Kramer der Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) - bislang noch nicht als Pflegeexperte in Erscheinung getreten - höchstselbst zitiert:

„Wir brauchen junge Menschen mit normalen Schulnoten, aber viel Herzenswärme und Geduld gerade in der Altenpflege. Wenn wir sie mit Anforderungen eines Studiums ‚Medizin light‘ abschrecken und überfordern, verschärfen wir den Pflegenotstand.“

Man kann sich vorstellen, wie an dieser Stelle einer Menge Menschen aus der Pflege die Hutschnur hochgeht. Denn die Stoßrichtung der Arbeitgeber-Ausführungen liegt nun wirklich auf der Hand: Man macht sich offensichtlich erhebliche Sorgen um die Personalbeschaffung für die Altenpflege. Und dafür gibt es gute Gründe.

Samstag, 21. April 2018

Wird ein "staatlich organisierter Raub" endlich beendet? Die Doppelverbeitragung von Betriebsrenten ist mal wieder Thema im Bundestag

Blicken wir zurück in die Zeiten der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, konkret in das Jahr 2004. Zu Beginn dieses Jahres trat das "Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung" in Kraft. Seinerzeit waren die Sozialkassen klamm und die rot-grüne Bundesregierung suchte fieberhaft nach neuen Einnahmequellen. Unter der damals zuständigen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) wurde auf der Suche nach zusätzlichen Geldern für die Gesetzliche Krankenversicherung die volle Beitragspflicht für Einkünfte aus der betrieblichen Altersvorsorge eingeführt – und das auch rückwirkend für alle Altverträge.

Dass das als ein massiver Vertrauensbruch von den dadurch Betroffenen wahrgenommen wurde und wird, überrascht jetzt nicht wirklich. Die von den Betroffenen als kalte Enteignung wahrgenommene Doppelverbeitragung wird von ihnen - und beispielsweise vom Verein Direktversicherungsgeschädigte - seit Jahren immer wieder kritisiert und eine Korrektur eingefordert.

Freitag, 20. April 2018

Reicht eine in der Nacht oder müssen es mehr sein? Die finstere Realität bei den (Nicht-)Personalschlüsseln in Pflegeheimen

Der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages hat am 18. April 2018 eine öffentliche Anhörung durchgeführt zum Thema "Pflegepersonalmangel in den Krankenhäusern und in der Altenpflege". Und damit ein derzeit überall diskutiertes Problem aufgegriffen. Auslöser waren in diesem Fall  je zwei Anträge der Fraktionen Die Linke ( Drs. 19/30, Drs. 19/79) und Bündnis 90/Die Grünen ( Drs. 19/446, Drs. 19/447), die darauf abzielen, die Personalausstattung in der Pflege zu verbessern und damit auch die Arbeitsbedingungen der Pflegefachkräfte. Dazu wird eine verbindliche Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen eingefordert. Zudem sprechen sich Grüne und Linke dafür aus, den Pflegevorsorgefonds umzuwidmen oder aufzulösen und mit dem Geld das Pflegepersonal aufzustocken. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ein Sofortprogramm Pflege mit 8.000 neuen Fachkraftstellen in Pflegeeinrichtungen vereinbart - eine Ankündigung, die in den vergangenen Wochen heftig debattiert wurde, zum einen angesichts der von vielen kritisierten Unterdimensionierung vor dem Hintergrund der fehlenden Pflegekräfte insgesamt und zum zweiten, da bereits im bestehenden System in den Pflegeheimen mehr als 17.000 offene Stellen gar nicht besetzt werden können, da es an Bewerber/innen mangelt.

Die Ergebnisse der Anhörung sind nun wirklich nicht überraschend: »Gesundheits- und Sozialexperten sind sich einig: In der Kranken- und Altenpflege werden mehr Fachkräfte gebraucht.« Die Kritik wird seit langem vorgetragen: »Nach Ansicht der Deutschen Stiftung Patientenschutz ist die Pflegeversorgung ,,am Limit". Arbeitsverdichtung und chronischer Personalmangel bestimmten den Alltag der Pflegekräfte. In der Folge drohten vermehrt Behandlungs- und Pflegefehler. Verbindliche Personalschlüssel seien überfällig, wobei eine gute Pflege an den Bedürfnissen der Patienten zu orientieren sei und nicht an Mindestanforderungen.« Das zieht sich durch fast alle schriftliche Stellungnahmen der Organisationen und Einzelsachverständigen.

Mittwoch, 18. April 2018

Ein ordentlicher Schluck aus der Pulle, sagen die einen. Na ja, halb leeres Glas, sagen die anderen: Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen


Habemus Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst - also für die Angestellten bei Bund und in den Kommunen und sofern die Gremien das auch noch abnicken. Und das sei den folgenden Ausführungen gleich vorangestellt - offensichtlich benötigt man ein Master-Studium, um die filigranen Verästelungen des Verhandlungsergebnisses erfassen, geschweige denn durchdringen zu können. Schauen wir uns die Einschätzung von Frank Bsirske, dem Noch-Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ( ein Gewerkschaftstag wird im kommenden Jahr über seine Nachfolge entscheiden) an: »Als „bestes Ergebnis seit vielen Jahren“ hat Verdi-Chef Frank Bsirske die Tarifvereinbarung bezeichnet, auf den sich Gewerkschaften, Bund und Kommunale Arbeitgeber in der Nacht zum Mittwoch geeinigt haben. In drei Stufen und bei einer Laufzeit von 30 Monaten soll es für die 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Kommunen und des Bundes ein Plus von 7,5 Prozent geben – allerdings nur „im Durchschnitt“.« Das Zitat stammt aus dem Artikel Tarifabschluss behandelt nicht alle gleich von Stefan Sauer. Seine Quintessenz, bevor er sich über die Details des Abschlusses beugt: »Der Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst ist hochkomplex. Er begünstigt die unteren und oberen Gehaltsstufen, in der Mitte sieht es nicht ganz so gut aus.« Es hört sich nicht nur komplex an, es ist im vorliegenden Fall auch wahrlich kompliziert.

Dienstag, 17. April 2018

Alte Muster: Damit die "Hartz IV-Debatte" nicht aus dem Ruder läuft, muss man "die" einen gegen "die" anderen in Stellung bringen. Und dann kann man im Windschatten etwas ganz anderes ansteuern

Am 8. April 2018 habe ich den Beitrag Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte so begonnen: »Jetzt wird das Thema durch die Talkshows getrieben - oftmals ein guter Indikator, dass der Höhepunkt einer den Gesetzen der Erregungs- und Aufmerksamkeitsökonomie folgenden öffentlichen Debatte überschritten wurde und dass das Thema demnächst im medialen Mülleimer landet, weil bereits die nächste Sau darauf wartet, durch das Dorf hecheln zu müssen.«

Vorher aber wartet offensichtlich und wieder einmal ein anderer, inhaltlich und menschlich höchst relevanter Mülleimer. Es geht um den Versuch, die "Hartz IV"-Debatte, bei der man mit Abschaffungsvisionen gestartet ist und bei dem die "Ernsthaften"-Fraktion in der Diskussion zumindest versuchen, substanzielle Verbesserungsvorschläge in den öffentlichen Raum zu stellen (vgl. für derartige Bemühungen stellvertretend die Beiträge Was an Hartz IV wirklich abgeschafft gehört von Florian Diekmann und Ken Loach statt Alex Dobrindt von Sebastian Puschner), einerseits wieder runterzuholen, was die Aufgabe der "Rückzieher- und Abkühler"-Fraktion ist, für die stellvertretend der neu zuständige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) steht, der sich jetzt semantisch (und damit auf Zeit spielend) in die Prüfwolke zurückgezogen hat, um die anfänglich wohl reichlich visionären Äußerungen aus seiner Partei, Hartz IV könne abgeschafft werden, wieder auf den Boden der GroKo- und eigenen Agenda-Realität zu holen, also soweit zu verdünnen und die Leute hinzuhalten, dass endlich die nächste Sau zu rennen beginnt und man das Thema los werden kann. Das wird dann sekundiert durch emotionslos daherkommende Basta-Versuche des Vizekanzlers Olaf Scholz (SPD) - Scholz will Hartz IV behalten -, was dann nur noch getoppt wird von den aus seiner Sicht völlig verständlichen, aber von der Außenwirkung her verheerenden Statement der "Genervten", für die der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil steht, der es zu so einer Headline gebracht hat: "Die Agenda-2010-Debatte langweilt mich" (vgl. dazu die Auseinandersetzung von Tom Strohschneider in seinem Artikel Der gelangweilte Herr Klingbeil, die SPD und die Agenda-Reformen). Hier geht es letztendlich nur noch darum, das Spielfeld möglichst schnell wieder zu verlassen, weil man als SPD angesichts der gegebenen Rahmenbedingungen hier keinen Blumentopf gewinnen kann (selbst wenn man richtige Ideen für Verbesserungen hätte, weil die immer an der Unionsfront in der Regierung abprallen würden) und man so eher erneut die Frustrationen der anderen, die immer noch hoffen, ernten würde.

Sonntag, 15. April 2018

Wieder einmal: Von gut gemeinten Verbesserungen für pflegende Angehörige, diesmal bei der Rente. Und einem nicht nur rechnerischen Irrgarten als Folge bürokratischer Differenzierung


Je ausgereifter die sozialpolitischen Systeme werden, desto undurchschaubarer werden die Regelungen in diesen höchst ausdifferenzierten Systemen. Denn auf die seit Jahrzehnten bestehenden Regelungen werden zum einen immer weitere Detailregelungen raufgepackt, ohne - was eigentlich notwendig wäre - hin und wieder eine Generalrevision vorzunehmen, um die zwischenzeitlich zahlreich entstandene Schnittstellenprobleme zu reduzieren oder gar zu beseitigen. Diese Fundamentalproblematik paart sich dann mit dem besonderen deutschen Merkmal einer - gut gemeinten - Produktion von Einzelfallgerechtigkeit bzw. dem Wunsch, unterschiedliche Belastungen auch unterschiedlich abzubilden. Das führt dann aber nicht nur auf Seiten der eigentlich positiv davon Betroffenen dazu, dass sie oftmals gar nicht wissen (können), dass es diese oder jene Regelung für sie gibt, auch die, die sie beraten sollen, sind mehr mit ihrer Fortbildung beschäftigt (oder resignieren). Und dann muss man bedenken, dass es einen Unterschied macht, ob man etwas bekommen kann und ob das auch wirklich angeboten wird.

Dieses generelle und beklagenswerte Muster im deutschen Sozialstaat kann man immer wieder bei den pflegenden Angehörigen beobachten. Über deren gesamtgesellschaftliche Bedeutung - mehr als 70 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt - und den immer wieder berichteten enormen Belastungen dieser sich oftmals aufopfernden Menschen muss hier weiter gesprochen werden. Es gibt zahlreiche und gute Gründe, die in Sonntagsreden beschworene "Pflegeressource" Angehörige zu pflegen und zu fördern (wobei "Pflegeressource" ein sich selbst offenbarender Terminus aus der Debatte über die Pflege ist). Folglich hat der Gesetzgeber in den zurückliegenden Jahren immer wieder - und das sei hier vorangestellt: sicher mit besten Absichten - versucht, unterstützende Regelungen für die pflegenden Angehörigen in die Welt zu setzen. Man denke hier nur an die Regelungen zur Pflegezeit oder Familienpflegezeit, deren Inanspruchnahme aber im molekularen Bereich gemessen werden muss. Gut gemeint ist bekanntlich gerade in der Sozialpolitik nicht immer gut gemacht, sondern man landet tatsächlich oftmals ganz woanders.

Samstag, 14. April 2018

Wir haben doch nur gefragt ... Der Missbrauch einer Kleinen Anfrage im Bundestag. Aus den Untiefen der AfD-Welt, über Menschen mit Behinderungen und ein mehr als nur ungutes Gefühl

Die Sprache kann bekanntlich eine Waffe sein. Von einer furchterregenden, angsteinflößenden Waffe bis hin zu einem filigranen Stichwerkzeug, das man gezielt ansetzen muss, um verheerende Wirkungen zu entfalten. Mit Sprache kann man aber auch spielen und Worte in verschiedensten Relationen zum Strahlen bringen - oder am anderen Ende in nüchtern daherkommender technischer Diktion die Reduktion der unaufhebbaren Individualität jedes Menschen im Sinne einer Transformation zu einer Sache, einem Ding vorantreiben. Den Menschen zu entmenschlichen. Ihn zu einem Produkt von etwas einzudampfen.

Vor allem kann man mit der Sprache polarisieren und teilweise reflexhafte und damit erwartbare Reaktionen auslösen, an denen man sich dann wieder abarbeiten kann. Zuweilen wird man auch überrascht von den Effekten und behauptet dann gerne angebliche Missverständnisse, die sich auf der anderen Seite Bahn gebrochen haben. Oder man skandalisiert. Wir erleben das gerade auf einer bestimmten Ebene im Kontext mit der Verleihung des Echo-Preises an Kollegah und Farid Bang und die von vielen Seiten vorgetragenen Vorwurf, dass man den beiden eine antisemitische Haltung vorwerfen muss, ausgelöst durch die Punchline “Mein Körper [ist] definierter als ein Auschwitzinsasse”. Mit Blick auf den Echo-Preis ist das eine seltsame Argumentation, denn der Echo ist schließlich "ein Preis...der auf Verkaufszahlen basiert" (Vorstandssprecher Florian Drücke) und denen ist es egal, ob man die seriös oder abgründig realisiert hat. Dabei ist die Sache mit Blick auf den Rapper Kollegah weitaus schlimmer (geworden), wie das Leon Dische Becker in seinem differenzierten Artikel Schmocktransformation ausführlich entfaltet hat.

Aber hier soll es um etwas anderes gehen - um Menschen mit schweren Behinderungen. Die unsere besondere Fürsorge bedürfen, die oftmals völlig schutz- und wehrlos sind. Und - da ist eine Verbindungslinie zu dem Thema Antisemitismus, das (nicht nur) in dunkle Jahrzehnte zurückreicht - diese Menschen wurden in der Vergangenheit mit einer abgrundtiefen Konsequenz stigmatisiert, mit Worten und dann mit Taten ausgesondert und "entsorgt". Wiederholt sich die Vergangenheit nie wieder?

Freitag, 13. April 2018

Die einen fallen sehr weich, die vielen anderen hart. Die Belegschaft von Kaufhof soll das Unternehmen vor der Insolvenz retten


»Kauf- und Warenhäuser sind Einzelhandelsgeschäfte, die ein breites Warensortiment auf großer Fläche (in der Regel ab 3.000 Quadratmeter Verkaufsfläche) für Endverbraucher vorhalten. Als letzte große Unternehmen sind in Deutschland nach einer langen Konsolidierungsphase Karstadt und Galeria Kaufhof verblieben.« So beginnen die Hinweise zum Thema Kauf- und Warenhäuser in Deutschland auf der Statista-Seite. Und weiter erfahren wir: »Historisch entwickelten sich Kauf- und Warenhäuser im Tandem mit der Industrialisierung. Die innerstädtischen Konsumtempel verdrängten kleinere Facheinzelhändler durch ihre stärkere Einkaufsmacht und wurden zu einem Symbol der entstehenden Konsumgesellschaft. Diese Stellung haben sie in den letzten Jahrzehnten eingebüßt.« Das schlägt sich auch in den nackten Zahlen nieder: »Der Branche laufen die Kunden davon. Galeria Kaufhof hat nach Schätzungen ... zwischen 2013 und 2016 etwa zwei Millionen Kunden verloren, Karstadt knapp eine Million Kunden.« Man könnte auf die Idee kommen, dass wir hier mit einem Auslaufmodell konfrontiert sind und der Untergang gleichsam unaufhaltsam erscheint.

Donnerstag, 12. April 2018

Neue Zahlen zu den Sanktionen im Hartz IV-System: Die Relativierung eines eigentlich unrelativierbaren Existenzminimums und die erneuten Vorstöße für kleine Korrekturen im System


Das Thema Sanktionen im Hartz IV-System erhitzt die Gemüter seit langem. Auch hier wurde immer wieder über die Sanktionen und die Debatte über Sinn und Unsinn dieses Instrumentariums berichtet. Immerhin geht es hier nicht um die Frage, ob jemand ein Bußgeld zahlen muss, sondern Menschen werden Leistungen gekürzt, die das soziokulturelle Existenzminimum abdecken sollen. Darunter dürfe es also eigentlich nicht weniger geben. Bei sanktionierten Hartz IV-Empfängern wird das aber vollzogen, in einigen tausend Fällen gibt es sogar eine "Vollsanktionierung", was bedeutet, dass alle Leistungen der Jobcenter eingestellt werden (vgl. dazu den Beitrag Sanktionen und Mehrfachsanktionen gegen das Existenzminimum der Menschen in der Willkürzone und der Hinweis auf ein (eigentlich) unverfügbares Grundrecht vom 3. November 2016.

Und nun werden wir mit solchen Meldungen konfrontiert: Mehr Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher: »Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Strafen leicht gestiegen – auf knapp 953.000. Das waren rund 13.700 mehr als im Vorjahr, wie die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg mitteilte.« Nun muss man gleich an dieser Stelle anmerken, dass die "normalen" Bürger meist unbewusst eine ganz konkrete Vorstellung haben hinsichtlich dessen, was sich hinter den Sanktionen im Hartz IV-System verbirgt - nämlich Menschen, die Leistungen beziehen und die sich vor Arbeit drücken, in dem sie eine ihnen angebotene Arbeit ablehnen. Das mag auch erklären, warum Sanktionen aufgrund eines solchen Verhaltens durchaus auf einen breiten Resonanzboden in der Bevölkerung stoßen.

Dienstag, 10. April 2018

Über das unauflösbare Dilemma zwischen Bedürftigkeit und Vermögen in einer steuerfinanzierten bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe oder: Wenn Politiker mal eben die Systemfrage stellen

Grundsätzlich ist die Sache relativ einfach: Sozialhilfe bzw. Grundsicherung kann man bekommen, wenn man nichts (mehr) hat. Wenn aber Einkommen und vor allem wenn Vermögen vorhanden ist, dann muss man darauf zurückgreifen, bevor der Staat bzw. die Gemeinschaft der Steuerzahler helfend einspringen. Also erst einmal verwerten, was da ist und dann auf die Hilfe der anderen vertrauen können. Im Kern geht es um die Vorstellung und die konkrete Voraussetzung von Bedürftigkeit, die gegeben sein muss, bevor das Existenzminimum von anderer Seite gesichert werden muss.


Der Gesetzgeber hat das im SGB II so formuliert: Im § 7 Abs. 1 Nr. 3 dieses Gesetzes findet man den Hinweis, dass Leistungen der Grundsicherung Personen erhalten, die "hilfebedürftig sind". Zum Begriff der Hilfebedürftigkeit wird dann im § 9 SGB II ausgeführt:

»(1) Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.
(2) Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen ... 5) Leben Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten, so wird vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann.«

Es geht bei der Grundsicherung eben um eine "bedürftigkeitsabhängige Leistung" - das ist der elementare Unterschied beispielsweise zu einer Versicherungsleistung wie dem Arbeitslosengeld I (oder der Altersrente), die ausgezahlt werden, ohne dass der Einkommens- und Vermögenshintergrund des Leistungsempfänger irgendeine Rolle spielt. Der geht die Versicherung nichts an.

Montag, 9. April 2018

Der Mangel an (bezahlbarem) Wohnraum in trockenen Zahlen mit viel individueller Not und gesellschaftlichen Sprengsatz dahinter


In Deutschland gibt es 77 Großstädte, in denen jeweils mehr als 100.000 Einwohner leben. Und in den vergangenen Jahren wird immer öfter von der gerade in den wachsenden Großstädten grassierenden Wohnungsnot berichtet. Nehmen wir als ein Beispiel Berlin, die Stadt hat mittlerweile gut 3,7 Millionen Einwohner. Allein im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der offiziellen Einwohner um 41.000 erhöht. Darunter sind zum einen Menschen, die berufsbedingt nach Berlin kommen und sich mit ihren Einkommen auch hohe Mieten leisten können, aber eben auch viele Menschen, die nur sehr niedrige Einkommen haben oder vollständig auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Und beide Gruppen suchen Wohnraum. Während die einkommensstärkeren Zugezogenen das Preisniveau in Berlin nach oben treiben, wird es für die unten immer schwieriger, überhaupt eine halbwegs finanzierbare Bleibe finden zu können.

Eine neue Studie, gefördert von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, hat das, was überall empfunden und wahrgenommen wird, in Zahlen gegossen - die zunehmende Wohnungsnot. Die Befunde sind beunruhigend: »n den 77 deutschen Großstädten fehlen gut 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen, darunter etwa 1,4 Millionen günstige Apartments unter 45 Quadratmetern für Einpersonenhaushalte ... Gemessen an den finanziellen Möglichkeiten der lokalen Bevölkerung besteht ein besonders großer Mangel an bezahlbarem Wohnraum einerseits in einwohnerstarken Städten mit vielen Niedrigverdienern (etwa Berlin, Leipzig, Dresden), andererseits in Großstädten mit hohem Mietniveau (z.B. München, Stuttgart, Düsseldorf)«, kann man dieser zusammenfassenden Meldung zur neuen Studie entnehmen: In Deutschlands Großstädten fehlen fast zwei Millionen bezahlbare Wohnungen: »Konkret fehlen in Berlin mit rund 310.000 bundesweit die meisten bezahlbaren Wohnungen. Es folgen Hamburg mit einer Lücke von 150.000, Köln mit 86.000 und München mit 78.000 Wohnungen. Doch selbst in Großstädten mit relativ kleinen „Versorgungslücken“ wie Moers, Wolfsburg, Koblenz oder Ulm überschreitet der Bedarf an günstigen Wohnungen das Angebot jeweils um mehrere tausend.«

Sonntag, 8. April 2018

Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte


Jetzt wird das Thema durch die Talkshows getrieben - oftmals ein guter Indikator, dass der Höhepunkt einer den Gesetzen der Erregungs- und Aufmerksamkeitsökonomie folgenden öffentlichen Debatte überschritten wurde und dass das Thema demnächst im medialen Mülleimer landet, weil bereits die nächste Sau darauf wartet, durch das Dorf hecheln zu müssen.
Dabei gäbe es wahrlich viele Gründe, über das Thema Hartz IV zu streiten und ernsthaft über Alternativen oder wenigstens doch substanzielle Korrekturen zu streiten. Wir reden hier nicht über irgendeinen Orchideen-Bereich, sondern um den letzten Außenposten unseres Sozialstaats, von dem allerdings eine Menge Menschen betroffen und abhängig sind. Um es genau zu beziffern: 5.950.000. So viele Menschen haben im März 2018 Leistungen aus dem Grundsicherungssystem bezogen. Und schon der etwas genauere Blick auf die Zahlen wird den einen oder anderen irritieren. Von den gut sechs Millionen "Hartz IV-Beziehern" - im Technokraten-Deutsch werden die "Regelleistungsberechtigte" genannt - waren 4,3 Mio. (71,6 Prozent)  erwerbsfähig, davon sind 1,6 Mio. (37,5 Prozent) als arbeitslos bei einem Jobcenter gemeldet.

Irritieren wird das den einen oder anderen, weil in der öffentlichen Debatte - ob bewusst oder unbewusst - in der Regel diese Gleichung aufgemacht wird: Hartz IV-Bezieher = Arbeitslose = Langzeitarbeitslose. Die gehören auch dazu, sie sind aber noch nicht einmal die Mehrheit derjenigen, die sich unter dem weiten Dach des Grundsicherungssystems versammelt haben bzw. dort Unterschlupf suchen müssen.

Freitag, 6. April 2018

Von einer "Kita-Pflicht" als Papiertiger bis hin zu einem Mangel an normalen Kita-Plätzen - ein "Staatsversagen" in Berlin?



Gerade in diesen Tagen kann man wieder einmal erleben, wie gerne und lauthals einige Politiker dem geneigten Publikum ein energisches Durchgreifen "des Staates" in Aussicht stellen bzw. dieses einfordern. Derzeit an vorderster Front dabei der Tausendsassa Jens Spahn (CDU), offiziell nach längeren Geburtswehen neuer Bundesgesundheitsminister, der aber bislang nicht etwa durch mutige und innovative Vorschläge zur Bekämpfung des grassierenden Pflegenotstands auf sich aufmerksam macht, sondern - wie die Tagesschau in ihrer Online-Ausgabe unter der Überschrift Spahn geht fremd zutreffend vermerkt - auf fremden Hochzeiten zu tanzen versucht: »Während sich die Arbeit im Gesundheitsministerium stapelt, beschäftigt sich Minister Spahn lieber mit anderen Themen ... Nach Hartz IV, Frontex und Twittern unter Journalisten geht es dieses Mal um die Handlungsfähigkeit des Staates.« Der Herr Minister wird mit den Worten zitiert, »dass der Staat in den vergangenen Jahren nicht mehr ausreichend für "Recht und Ordnung" habe sorgen können. "Schauen Sie sich doch Arbeiterviertel in Essen, Duisburg oder Berlin an. Da entsteht der Eindruck, dass der Staat gar nicht mehr willens oder in der Lage sei, Recht durchzusetzen", so der CDU-Politiker.« Nicht nur die Wiederauferstehung der Arbeiterviertel wird uns hier en passant ins Nest gelegt - auch das partielle Staatsversagen von einem Politiker, dessen Partei seit ziemlich vielen Jahren das Land regiert. Man könnte das kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen und dann zu den Akten legen, aber das ist alles nur ein Beispiel für die anfangs angesprochene Aktivitätssimulationsmaschine, der die Menschen an vielen Stellen ausgeliefert sind.

Donnerstag, 5. April 2018

"Nicht-arbeitslose" Arbeitslose. Ein gar nicht so kleines Beispiel aus den Eingeweiden der Arbeitsmarktstatistik


Man kennt das - jeden Monat werden in Nürnberg die Arbeitslosenzahlen verkündet. Und in den vergangenen Jahren gingen die nach unten. Schauen wir auf die aktuellen Werte: Für den März 2018 berichtet die Bundesagentur für Arbeit von knapp 2,46 Millionen Arbeitslosen. Das gesamte Ausmaß der Menschen ohne Arbeit bildet die offizielle Zahl jedoch nicht ab. Denn knapp 960.000 "De-facto-Arbeitslose" sind nicht in der Arbeitslosen-, sondern in der separaten Unterbeschäftigungsstatistik enthalten, bei der es sich ebenfalls um eine ganz offizielle Statistik handelt, die von der BA veröffentlicht wird. Statt 2,46 Mio. müsste also die Untergrenze für von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen bei 3,42 Mio. liegen. Und es wäre schön, wenn die Medien endlich diese "ehrlichere" Zahl verwenden würden, was die meisten aber nicht machen. Wer ist denn faktisch arbeitslos, taucht aber in der kleingerechneten Zahl an "offiziellen Arbeitslosen" nicht auf? Da waren im März 2018 beispielsweise 713.000 Menschen, die an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnahmen oder 81.000, die gerade am Tag der Zählung krank geschrieben waren. Und in der Liste der semantisch verkleisternd als "Unterbeschäftigte" titulierten Arbeitslosen, die aber rausgerechnet werden, taucht auch diese, viele sicher erst einmal irritierende Zahl auf: 165.000 über 58-Jährige, die innerhalb der letzten 12 Monate kein Jobangebot erhielten.

Mittwoch, 4. April 2018

Vom Schmuddelkind zur Erfolgsstory? Der gesetzliche Mindestlohn, seine Vermessung und die Frage: Wie hoch darf er denn sein?

Das ist mal eine Ansage: Gewerkschaften wehren sich gegen Mindestlohn. »Die Lohnpolitik müsse den Tarifparteien vorbehalten bleiben, stellte die IG Metall klar.« Aber auch der DGB lehnt einen gesetzlichen Mindestlohn ab, kann man dem Artikel entnehmen. Bevor nun die Vertreter des ökonomischen Mainstreams in unserem Land, die immer noch ein manifestes Mindestlohn-Trauma verarbeiten müssen, weil sich die Arbeitsmarktwirklichkeit nicht an ihre negativen Modellprognosen gehalten hat, jubilieren, sei hier auf das Datum der Veröffentlichung des Artikels hingewiesen: 22. August 2004. Also kurz vor der Einführung dessen, was wir seitdem umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnen. Und wenn man sich den Artikel anschaut, dann ist der trotz (bzw. gerade wegen des langen Zeitraums) nicht nur deshalb interessant, weil offensichtlich die Gewerkschaften damals erhebliche Abwehrreflexe hatten gegenüber dem Instrument eines gesetzlichen Mindestlohns, sondern im Kontext der aktuellen Debatte über Hartz IV und Alternativen zum bestehenden Grundsicherungssystem kann man einiges lernen darüber, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt verpassen kann: Der Vorstoß für einen gesetzlichen Mindestlohn kam 2004 vom damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Mit dieser Begründung, wohlgemerkt 2004:

»Müntefering hatte ... gesagt, er sehe in einem Mindestlohn die Möglichkeit, die von den Gewerkschaften so heftig kritisierten Zumutbarkeitsregeln der Hartz-Reform zu entschärfen. Die Politik habe es versäumt, im unteren Lohnbereich für Klarheit zu sorgen, so dass es außerhalb tarifvertraglicher Regelungen zu Dumpinglöhnen komme.«

Aber die Gewerkschaften haben das damals abgeblockt - das kann man rückblickend vor allem dann als kapitaler Fehler einordnen, wenn es gelungen wäre, einen ordentlichen Mindestlohn auch durchzusetzen, was man aber nicht als sicher unterstellen kann. Und um diesen kurzen historischen Ausflug abzurunden - man kann gerade in so aktuell und neu daherkommenden Debatten wie der derzeitigen über Hartz IV eine Menge besser verstehen und ruhiger einordnen, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass bereits damals heute erneut vorgetragene "Reformvorschläge" präsentiert wurden: In dem Artikel wurde auch Rainer Brüderle von der FDP zitiert, mit diesen Anmerkungen: "Gesetzlich festgelegte Lohnhöhen" seien natürlich abzulehnen. »Stattdessen müssten Modelle entwickelt werden, die Kombi-Einkommen aus staatlichen Transfers und Lohneinkommen ermöglichen.« Genau das wird auch derzeit wieder in der Hartz IV-Debatte von einigen als Lösung präsentiert.

Dienstag, 3. April 2018

Immer mehr Pakete auf der Suche nach Menschen, die sie transportieren und verteilen. Die Paketdienste und ein hausgemachtes Personalproblem

Mehr als sechs Milliarden Sendungen wurden 2016 von Hermes, DPD, UPS, DHL oder anderen Kurier-Express-Paketdiensten ausgeliefert. Rund 21 Milliarden Euro Umsatz erzielte die Branche. Wir alle sind als Kunden des Online-Handels Teil dieser boomenden Branche. Die wächst und wächst, was sich natürlich auch bei der Zahl der Beschäftigten niedergeschlagen hat. Dazu berichtet die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Deutschen Bundestag "Arbeitsbedingungen bei Kurier-, Express- und Postdiensten sowie der Deutschen Post AG" (BT-Drs. 19/656):

»Nach Angaben der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit waren im Juni 2017 in der Wirtschaftsabteilung Post-, Kurier- und Expressdienst (53, WZ 2008) bundesweit 182.000 geringfügige Beschäftigte, 131. 000 sozialversicherungspflichtige Teilzeit- und 152. 000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte tätig. Im Vergleich zum Juni 2008 ist die Zahl der geringfügigen Beschäftigten um 1,8 Prozent, die der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten um 30 Prozent und die der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten um 44 Prozent gestiegen.«

Was für Wachstumsraten. Wir haben also derzeit 283.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bei den Paketdiensten und viele der offiziell 182.000 geringfügig Beschäftigten, die hinzugerechnet werden müssen, arbeiten in der wirklichen Wirklichkeit deutlich mehr als das, was sie offiziell als Minijobber dürften.

Montag, 2. April 2018

Pflegenotstand: (Wieder mal) Ausländer rein! Also in die Pflege. Die verzweifelte Hoffnung stirbt offensichtlich zuletzt


Im Jahr 1963 wurde ein Chefarzt im SPIEGEL mit diesen Worten zitiert: "Das Krankenhaus ist zu einem Taubenschlag geworden." Und in dem Artikel Der weiße Alptraum, veröffentlicht im SPIEGEL Heft 29/1963, wird daran anknüpfend berichtet: »Der Mangel an weißen Hauben-Tauben ist einer der gewichtigsten Gründe für die Misere vieler deutscher Krankenhäuser: Wegen Schwesternmangels mußten in letzter Zeit zahlreiche Stationen und Abteilungen geschlossen, konnte manche neue Klinik gar nicht eröffnet werden.« Damals wurde von 94.352 Krankenschwestern berichtet, die laut Statistik berufstätig waren - und zugleich von 40.000 fehlenden Pflegekräften in den Kliniken.

Wahrhaft putzige Zahlen, wenn man an die heutigen Größenordnungen denkt und die man in der aktuellen Diskussion über einen Pflegenotstand parat haben sollte: Nur bezogen auf die Krankenhäuser wird für 2016 von 325.100 Pflegefachkräften (in Vollzeit) berichtet ( übrigens 1.000 weniger als im Jahr 1991). Aber die Welt der Pflege ist noch weitaus größer: Allein in der stationären und ambulanten Altenpflege sind 1,1 Mio. Beschäftigte tätig und wenn man eine Hierarchie der Dringlichkeit des Pflegenotstands aufstellen müsste, dann steht die Altenpflege ganz oben auf der Liste.