Informationen, Analysen und Kommentare aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik
Montag, 9. April 2018
Der Mangel an (bezahlbarem) Wohnraum in trockenen Zahlen mit viel individueller Not und gesellschaftlichen Sprengsatz dahinter
In Deutschland gibt es 77 Großstädte, in denen jeweils mehr als 100.000 Einwohner leben. Und in den vergangenen Jahren wird immer öfter von der gerade in den wachsenden Großstädten grassierenden Wohnungsnot berichtet. Nehmen wir als ein Beispiel Berlin, die Stadt hat mittlerweile gut 3,7 Millionen Einwohner. Allein im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der offiziellen Einwohner um 41.000 erhöht. Darunter sind zum einen Menschen, die berufsbedingt nach Berlin kommen und sich mit ihren Einkommen auch hohe Mieten leisten können, aber eben auch viele Menschen, die nur sehr niedrige Einkommen haben oder vollständig auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Und beide Gruppen suchen Wohnraum. Während die einkommensstärkeren Zugezogenen das Preisniveau in Berlin nach oben treiben, wird es für die unten immer schwieriger, überhaupt eine halbwegs finanzierbare Bleibe finden zu können.
Eine neue Studie, gefördert von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, hat das, was überall empfunden und wahrgenommen wird, in Zahlen gegossen - die zunehmende Wohnungsnot. Die Befunde sind beunruhigend: »n den 77 deutschen Großstädten fehlen gut 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen, darunter etwa 1,4 Millionen günstige Apartments unter 45 Quadratmetern für Einpersonenhaushalte ... Gemessen an den finanziellen Möglichkeiten der lokalen Bevölkerung besteht ein besonders großer Mangel an bezahlbarem Wohnraum einerseits in einwohnerstarken Städten mit vielen Niedrigverdienern (etwa Berlin, Leipzig, Dresden), andererseits in Großstädten mit hohem Mietniveau (z.B. München, Stuttgart, Düsseldorf)«, kann man dieser zusammenfassenden Meldung zur neuen Studie entnehmen: In Deutschlands Großstädten fehlen fast zwei Millionen bezahlbare Wohnungen: »Konkret fehlen in Berlin mit rund 310.000 bundesweit die meisten bezahlbaren Wohnungen. Es folgen Hamburg mit einer Lücke von 150.000, Köln mit 86.000 und München mit 78.000 Wohnungen. Doch selbst in Großstädten mit relativ kleinen „Versorgungslücken“ wie Moers, Wolfsburg, Koblenz oder Ulm überschreitet der Bedarf an günstigen Wohnungen das Angebot jeweils um mehrere tausend.«
In der Untersuchung haben Stadtsoziologen der Humboldt-Universität Berlin und der Goethe-Universität Frankfurt die jeweiligen Einkommen von Großstadthaushalten und das lokale Angebot an Mietwohnungen miteinander abgeglichen.
Nun wird der eine oder andere einwenden, es gibt doch seit einiger Zeit eine stärkere Neubautätigkeit. Das ist von oben betrachtet richtig, aber die Angebotsmieten bei Neuvermietung sind in fast allen Großstädten höher als die Bestandsmieten und sie bieten keinen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Wohnungsversorgung in den Großstädten.
Um die Lücke bei bezahlbaren Wohnungen zu verkleinern, sei es sehr wichtig, das Angebot an Kleinwohnungen mit Nettokaltmieten von vier bis fünf Euro pro Quadratmeter stark auszubauen. „Das ist nur durch eine deutliche Stärkung des sozialen Wohnungsbau möglich“, betonen die Wissenschaftler. „Dazu müssen einerseits weitaus mehr Sozialwohnungen als in den vergangenen Jahren neu entstehen. Andererseits muss auch die Sozial- und Mietpreisbindung im Wohnungsbestand wieder ausgeweitet werden.“ Dazu könnten beispielsweise öffentliche Träger Privatvermietern Wohnungen abkaufen.
»Die Forscher hatten in einer ebenfalls von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung vom September 2017 bereits ermittelt, dass vier von 10 Großstadt-Haushalten in Deutschland mindestens 30 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Bruttokaltmiete – das heißt, inklusive Nebenkosten, ohne Heizkosten – zahlen müssen. Bei Sozialwissenschaftlern wie bei Immobilienexperten gilt eine Mietbelastungsquote oberhalb von 30 Prozent des Haushaltseinkommens als problematisch. Auch viele Vermieter ziehen hier eine Grenze, weil sie zweifeln, dass Mieter sich ihre Wohnung dauerhaft leisten können.« Vgl. zu den damals veröffentlichten Befunden auch den Beitrag Wohnverhältnisse in den deutschen Großstädten: Hohe Mieten bringen kleine Einkommen an den Rand der Armut und darüber hinaus vom 13. September 2017.
Zum methodischen Vorgehen der nunmehr veröffentlichten Untersuchung erfahren wir: »In der neuen Studie widmen sich die Forscher nun dem „harten Kern“ der aktuellen Wohnungsnot. Dazu leuchten sie die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot aus, die sich im vorhandenen Wohnungsbestand auch theoretisch nicht schließen ließe – indem man etwa alle Haushalte in einer Stadt zu einem Stichtag in die in Puncto Größe und Miethöhe für sie am ehesten passende Wohnung umziehen ließe. Selbst unter diesen – faktisch unrealistischen – „Idealbedingungen“ bleiben in den Großstädten 1,9 Millionen Haushalte mit etwas über zwei Millionen Personen übrig, die keine finanziell passende Unterkunft finden und auf Wohnungen ausweichen müssen, die eigentlich einen zu hohen Mietpreis pro Quadratmeter haben und/oder zu groß sind. Daher müssen diese Haushalte mehr als 30 Prozent ihres Haushaltseinkommens für die Bruttowarmmiete (inklusive Neben- und Heizkosten) ausgeben und sind dadurch überlastet. Sozialtransfers und Wohngeld sind bei der Berechnung bereits berücksichtigt.«
Und auch das sollte man berücksichtigen: »Da sich die Zahl von 1,9 Millionen Haushalten, für die bezahlbare Wohnungen fehlen, aus dem Mikrozensus 2014 ergibt und die Mieten seitdem weiter deutlich gestiegen sind, gehen die Forscher davon aus, dass die Lücke mittlerweile sogar noch größer ist.«
Einkommensschwache Haushalte haben es flächendeckend mehr als schwer: »So haben maximal 40 Prozent unter den armutsgefährdeten Haushalten in sämtlichen Millionenstädten, aber auch in zahlreichen anderen Orten wie Freiburg, Stuttgart, Düsseldorf, Kiel, Bonn, Münster, Regensburg, Aachen oder Darmstadt eine für sie bezahlbare Wohnung.«
Wer sich die Studie im Original anschauen möchte, der wird hier fündig:
Andrej Holm, Henrik Lebuhn, Stephan Junker und Kevin Neitzel (2018): Wie viele und welche Wohnungen fehlen in deutschen Großstädten? Die soziale Versorgungslücke nach Einkommen und Wohnungsgröße. Working Paper Forschungsförderung, Nr. 63, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, April 2018
Es gibt auch ein separates Datenblatt zu allen 77 Großstädten.
In den Befunden der Wissenschaftler wird eine bedrohliche Polarisierung erkennbar. Dazu nur zwei Erkenntnisse aus der Studie:
»In knapp 50 Prozent aller Haushalte in den 77 deutschen Großstädten lebt nur eine Person. Den 6,7 Mio. Einpersonenhaushalten stehen aber nur rund 2,5 Mio. Kleinstwohnungen gegenüber. Der Wohnungsbestand passt heutzutage also nicht mehr zu der Struktur der Bewohnerschaft in den Großstädten und ist damit ein wesentlicher Grund für die soziale Versorgungslücke.«
Aber auch die Mehrpersonenhaushalte, also vor allem die kinderreichen Familien, haben massive Probleme:
»Haushalte mit mehr als fünf Personen benötigen große Wohnungen. Wenn sie über ein mittleres Einkommen verfügen, sind nur 18% des Wohnungsbestands für sie leistbar, d.h. dann wäre ihre Mietbelastungsquote nicht höher als 30%.«
Hinter der hier angesprochenen Problematik verbergen sich nicht nur unzählige individuelle Problemlagen, sondern wir werden hier mit einem massiven gesellschaftlichen Sprengsatz konfrontiert. Vor allem im sehr großen Segment der Nachfrage nach bezahlbaren Wohnraum treffen unterschiedliche Personengruppen auf immer mehr Konkurrenz.
Und wenn wir schon das Thema Wohnungspolitik und Wohnungsmärkte behandeln, dann darf am 9. April 2018, am Vorabend einer Entscheidungsverkündung des Bundesverfassungsgerichts, das hier nicht fehlen: Grundsteuer wird vom Bundesverfassungsgericht geprüft – horrende Mehrkosten drohen, so hat Reiner Reichel seinen Artikel überschrieben. Am morgigen Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht darüber, ob die Grundsteuer verfassungswidrig ist. Nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung am 16. Januar haben nahezu alle Beobachter den Eindruck gewonnen, dass das Gericht die gegenwärtige Grundsteuer-Praxis als verfassungswidrig verwerfen wird, weil sie gegen den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz verstößt.
Das Bundesverfassungsgericht - so die Einschätzung von Reichel - wird auf eine schnelle Änderung des Grundsteuerrechts drängen. Von einer Gesetzesänderung sind nicht nur die Eigentümer von 35 Millionen Grundstücken in Deutschland betroffen, sondern auch rund 41 Millionen Wohnungsmieter.
Offensichtlich geht es hier um richtig viel Geld: »Vermieter legen vollkommen rechtmäßig die Grundsteuer über die Nebenkosten auf die Mieter um. Auch die Kämmerer der rund 11.000 deutschen Gemeinden werden gespannt nach Karlsruhe blicken. Denn sie kassieren in diesem Jahr noch nach altem Recht voraussichtlich rund 14 Milliarden Euro Grundsteuern.«
Das Problem, an dem sich die Verfassungsrichter abgearbeitet haben, ist »das Auslaufmodell der Grundsteuererhebung auf Basis von Einheitswerten. Die Einheitswerte haben nichts mit den aktuellen Marktwerten zu tun. Sie gehen im Westen zurück auf Werte von 1964 und im Osten auf solche von 1935.«
Wir werden sehen, wie das BVerfG entscheidet und welche Hinweise es dem Gesetzgeber mit auf den Weg geben wird.
Aber man kann das alles auch durchaus so sehen: In jeder Krise liegt auch eine Chance, vielleicht für diese hier: »Mieten und Immobilienpreise in Deutschland steigen rasant. Das liegt zu einem großen Teil am Anstieg der Bodenpreise - was Spekulanten anlockt und es den Kommunen erschwert, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Initiativen fordern daher, die Grundsteuer durch eine Bodensteuer zu ersetzen. Der Zeitpunkt scheint günstig.« So beginnt der Hintergrund-Beitrag des Deutschlandfunks unter der Überschrift Modell Bodensteuer: Wundermittel gegen Wohnungsnot?
»Vor allem in den Metropolen ächzen Bewohner, weil die Miete einen immer größeren Anteil des Einkommens frisst. Gleichzeitig ist es für immer mehr Menschen unerschwinglich, sich eine Immobilie zu kaufen. Steigende Mieten und Immobilienpreise haben wesentlich etwas mit den drastisch steigenden Bodenpreisen zu tun. Anleger reiben sich die Hände. Dirk Löhr, Ökonom an der Universität Trier, spricht von einer ungerechten "Umverteilungsmaschinerie" zugunsten der Grundstückseigentümer.«
Der in dem Zitat angesprochene Dirk Löhr hatte in diesem Interview im vergangenen Jahr Gelegenheit, seien Bewertung ausführlich dazulegen: "Der Boden stellt eine gigantische Umverteilungsmaschinerie dar".
Bereits 2012 wurde die Initiative "Grundsteuer: Zeitgemäß. Ein bundesweiter Aufruf zur Grundsteuerreform" gegründet. Der Grundgedanke geht so:
»Heute wird die Grundsteuer in Deutschland auf Grundstück und Bebauung erhoben. Eine Bodenwertsteuer bezöge sich dagegen nur auf den Grundstückswert, was wettbewerbsgerechter wäre. Schließlich hängt der Wert der Gebäude von der Höhe der Investitionen und guten Ideen des Eigentümers ab. Dagegen richtet sich der Grundstückswert nach Faktoren wie der Lage, der Erschließung und der Nachfrage. Darauf hat der Eigentümer keinen Einfluss. Verändern sich diese Faktoren, steigt der Wert des Bodens, ohne dass der Eigentümer selbst dafür etwas getan hat. Ökonomen sprechen von leistungslosen Bodenrenten.«
Die Idee der Bodenwertsteuer hat viele Sympathisanten, aber in der Politik geht man lieber auf Tauchstation. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Frage nach den Gewinnern und Verlierern einer solchen Reform beantwortet Löhr so: Es ist davon auszugehen, dass »der Umfang der Steuereinnahmen aus der Grundsteuer für die Kommunen gleich bleiben würde. Es gäbe aber erhebliche Verschiebungen, ganz im Sinne der Verfechter einer Bodenwertsteuer: Auf Reihenhausgrundstücke in mäßiger Lage würde etwa weniger, auf Villengrundstücke in teuren Lagen spürbar mehr Grundsteuer fällig. Deutlich um das Vier- bis Fünffache würde die Grundsteuer für unbebaute, aber bebaubare Grundstücke ansteigen.«
Es geht um die Frage, ob der Boden zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören sollte und ob nicht privaten Verwertungsinteressen gegenüber sozialen Bedürfnissen viel öfter Einhalt geboten werden müsste. So die eine Seite. Die andere Seite wird sich nach der BVerfG-Entscheidung positionieren müssen für den weiteren politischen Prozess.
Foto: © Stefan Sell