Dienstag, 10. April 2018

Über das unauflösbare Dilemma zwischen Bedürftigkeit und Vermögen in einer steuerfinanzierten bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe oder: Wenn Politiker mal eben die Systemfrage stellen

Grundsätzlich ist die Sache relativ einfach: Sozialhilfe bzw. Grundsicherung kann man bekommen, wenn man nichts (mehr) hat. Wenn aber Einkommen und vor allem wenn Vermögen vorhanden ist, dann muss man darauf zurückgreifen, bevor der Staat bzw. die Gemeinschaft der Steuerzahler helfend einspringen. Also erst einmal verwerten, was da ist und dann auf die Hilfe der anderen vertrauen können. Im Kern geht es um die Vorstellung und die konkrete Voraussetzung von Bedürftigkeit, die gegeben sein muss, bevor das Existenzminimum von anderer Seite gesichert werden muss.


Der Gesetzgeber hat das im SGB II so formuliert: Im § 7 Abs. 1 Nr. 3 dieses Gesetzes findet man den Hinweis, dass Leistungen der Grundsicherung Personen erhalten, die "hilfebedürftig sind". Zum Begriff der Hilfebedürftigkeit wird dann im § 9 SGB II ausgeführt:

»(1) Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.
(2) Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen ... 5) Leben Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten, so wird vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann.«

Es geht bei der Grundsicherung eben um eine "bedürftigkeitsabhängige Leistung" - das ist der elementare Unterschied beispielsweise zu einer Versicherungsleistung wie dem Arbeitslosengeld I (oder der Altersrente), die ausgezahlt werden, ohne dass der Einkommens- und Vermögenshintergrund des Leistungsempfänger irgendeine Rolle spielt. Der geht die Versicherung nichts an.

Abweichend vom eingangs beschriebenen Grundsatz wird aber auch im SGB II nicht das gesamte möglicherweise zufließende Einkommen und vorhandene Vermögen angerechnet, wie man den Ausführungen im § 9 SGB II entnehmen kann - dort wird von einem "zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen" gesprochen. Die Abbildung am Anfang verdeutlicht mit Bezug auf die Erläuterungen von Harald Thomé (Folien zum SGB II, Stand: 02.03.2018), welches Vermögen vor einer ansonsten vorausgesetzten Verwertung geschützt ist und welches Vermögen nicht eingesetzt werden muss zur Bedarfsdeckung, wenn es vorhanden ist. Die gesetzliche Grundlage findet man unter der Überschrift "Zu berücksichtigendes Vermögen" im § 12 SGB II. Schon ein erster Blick auf die entsprechenden Regelungen deutet die Komplexität der Materie an.

Wie immer, wenn es um die möglichst genau Abgrenzung von Sachverhalten geht nach dem Muster, "bis dahin keine Anrechnung, ab dann aber sehr wohl", treten zahlreiche Folgeprobleme in der wirklichen Wirklichkeit auf, die dann oftmals nicht nachvollzogen werden können oder bei den Betroffenen als Ungerechtigkeit aufschlagen. Dazu nur ein Beispiel aus den Regelungen, welches Vermögen nicht eingesetzt werden muss, wenn man Leistungen aus der Grundsicherung in Anspruch nehmen will bzw. muss: Wie ist das, wenn man Wohneigentum hat und dieses selbst nutzt? Offensichtlich handelt es sich bei einem Haus oder einer Eigentumswohnung um Vermögen. Allerdings gibt es hier Ausnahmen von der Verwertungsbedingung. Den Ausführungen von Harald Thomé können wir entnehmen, »selbst genutztes angemessenes Wohneigentum gilt vom Grundsatz her ohne weitere Prüfung bis 80/90 qm (Wohnung/Haus) für ein und zwei Personen als angemessen (BSG v. 29.03.2007 - B 7b AS 12/06 R - Rn 23 zur Auslegung von § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II), für jede weitere Person gelten weitere 20 qm (BSG v. 07.11.2006 - B 7b AS 2/05 R; BSG v. 12.10.2016 – B 4 AS 4/16 R). Die Angemessenheit reduziert sich nach einem Auszug der Kinder immer entsprechend.« Und was machen wir, wenn das kleine Häuschen 110 qm hat? Oder wenn nur durch den Auszug eines Kindes die zulässige Größe verletzt wird? Das sind Wahlich keine theoretischen Fragen, die hier gestellt werden. Was das für Ausformungen annehmen kann, habe ich in diesem Beitrag vom 12. Oktober 2016 beschrieben: Hartz IV: Wenn das Einfamilienhaus nicht nur rechnerisch geschrumpft wird. Von 144 über 130 auf 110 Quadratmeter. Oder: Kinder weg - Haus weg. Der dort beschriebene Fall hat zum einem BSG-Urteil geführt mit dieser Maßgabe: Hartz-IV-Familien mit Eigenheim müssen auf längere Sicht ihr Haus aufgeben, wenn es nach Auszug der Kinder zu groß geworden ist. Denn das Eigenheim gilt dann als verwertbares Vermögen. Nun werden viele nicht nur den Eindruck haben, sondern es ist auch so: Die zulässigen Obergrenzen bei der qm-Zahl erscheinen doch sehr eng bemessen, vor allem wenn man an selbstgenutztes Wohneigentum in ländlichen Regionen denkt. Und das hat Konsequenzen. Zugleich steht dahinter ein Grunddilemma bedürftigkeitsabhängiger Leistungen: Was will man den Betroffenen (noch) zugestehen und was nicht mehr? Würde man keine Grenze ziehen, dann könnte fiktiv auch jemand mit einer großzügig geschnittenen Villa am Stadtrand von der Verwertung eines solchen Vermögens vor Inanspruchnahme der Leistung freigestellt werden, was sicher den einen oder anderen Steuerzahler in Rage treiben würde, wenn das so wäre.

Und noch ein notwendiges zweites Beispiel aus den Untiefen der hier relevanten Materie: Wie ist es beispielsweise mit einem eigenen Auto bei der Vermögensfrage? Jeder würde sofort zustimmen, wenn man argumentiert, dass jemand, der eine S-Klasse von Daimler fährt, kaum bedürftig erscheint. Aber wie ist es mit einem Auto generell? Ist ein Pkw nicht zumindest für diejenigen, die erwerbsfähig sind, ein von der Anrechnung freizustellender Vermögensgegenstand, denn wie soll man eine eventuelle Hilfebedürftigkeit durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beenden oder deutlich verringern können, wenn man gar nicht zur Arbeitsstelle kommen kann ohne ein Auto? Also würde man die vorrangige Verwertung eines jeden Autos vorschreiben, bevor man existenzsichernde Leistungen bezieht, könnte dadurch die Befreiung aus der Hilfebedürftigkeit be- bzw. verhindert werden und der Sozialstaat würde sich selbst ins Knie schießen. Aber sofort stellen sich notwendige Anschlussfragen: Wenn man denn im Angesicht der Argumentation ein Auto freistellt von dem anzurechnenden, mithin also zu verwertenden Vermögen - bis wohin soll das reichen? Ist davon auch ein Neuwagen betroffen oder nur ein gebrauchter Pkw? Und welchen Wert darf der dann haben? Fragen über Fragen tun sich da auf. Auch hier klärt uns Harald Thomé hinsichtlich der Rechtslage bzw. der einschlägigen Rechtsprechung auf: Als Vermögen nicht einzusetzen ist »ein angemessenes Kfz für jeden Erwerbsfähigen in der BG (§ 12 Abs. 3 Nr. 2 SGB II) im Wert von bis zu 7.500 € (BSG v. 06.09.07 - B 14/7b AS 66/06 ER).« Wie immer im Leben kann man Stunden und Tage streiten, wo man denn die Grenze zieht und warum in diesem Fall bei 7.500 Euro - hätten es nicht auch 10.000 Euro sein dürfen?

Der Schlüssel zum Verständnis der immer unbefriedigenden Abgrenzungskriterien ist der unbestimmte Rechtsbegriff der "Angemessenheit" - mit dem und seiner Konsequenz einer Bestimmung per Gesetz, Verordnungen oder über den Weg der richterlichen Ausfüllung wir ja auch in dem höchst problematischen und Konfliktären Bereich der Kosten der Unterkunft konfrontiert werden, denn auch dort gilt die Maßgabe, nur die angemessenen Kosten seitens der Grundsicherung zu finanzieren (vgl. dazu ausführlich den Beitrag Die angemessenen "Kosten der Unterkunft und Heizung" im Hartz IV-System: Wenn ein unbestimmter Rechtsbegriff mit elementaren Folgen von der einen Seite bestimmt werden soll vom 16. Februar 2018).

Aber nun scheint Rettung in Sicht, folgt man solchen Schlagzeilen: SPD-Vize Schäfer-Gümbel:
"Hartz-IV-Empfänger sollen erarbeitetes Vermögen komplett behalten können". Da keimt die Hoffnung bei vielen Betroffenen - aber der fachkundige Beobachter reibt sich wieder einmal die Augen, was politische Vorstöße alles anrichten können. Aber lassen wir den Mann erst mal zu Wort kommen:

»Hartz-IV-Empfänger sollen ihr erarbeitetes Vermögen nicht länger antasten müssen, bevor sie die Grundsicherung in Anspruch nehmen können. Das fordert der stellvertretende SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel. „Umbrüche im Erwerbsleben von Menschen dürfen nicht mehr zu Unsicherheit und gar Abstiegsangst führen“, sagte Schäfer-Gümbel.  „Die Betroffenen müssen das Erarbeitete behalten dürfen – sei es ein Haus, eine Wohnung oder sonstiges Eigentum.“  Die Absicherung der Lebensleistung der Menschen sei ein wichtiger Baustein für einen modernen Sozialstaat, fügte der SPD-Vize hinzu.«

Das hört sich erst einmal sehr fortschrittlich an - aber, unabhängig davon, was man den Menschen gerne zugestehen würde, es ist gewissermaßen die Systemfrage, die hier (sicher völlig unbewusst, also nicht vorher darüber nachgedacht) gleichsam en passant gestellt und scheinbar einfach beantwortet wird.

Denn (noch) haben wir mit der Grundsicherung nach SGB II und der Sozialhilfe nach SGB XII eine "bedürftigkeitsabhängige Sozialleistung" und damit ist die - wie eng oder weit auch immer gefasste - Bedürftigkeit der Betroffenen unabdingbare Zugangsvoraussetzung, um in das System zu kommen.
Und wenn der aufrecht daherkommende Sozialdemokrat nun fordert, dass die Menschen "ihr erarbeitetes Vermögen nicht länger antasten müssen", dann hört sich das nach dem Retter des letzten Spargroschens an - aber in der Wirklichkeit muss man eben sehen, dass bereits heute wie dargestellt ein Teil des Vermögens vor dem Verwertungszugriff geschützt ist (wobei man immer über die Höhe und die Nicht-Anrechnungsvorschriften streiten kann und muss) und außerdem - soll es bei Fortexistenz der Bedürftigkeit wirklich eine vollständige Nicht-Berücksichtigung des Vermögens geben? So wird der Mann zitiert und man sollte, ob einem das gefällt oder nicht, bedenken, was das für Diskussionen bei den Steuerzahlern auslösen wird, die das System Finanzierung zieren müssen.

Nun könnte man anmerken, möglicherweise hat Schäfer-Gümbel nicht ohne Hintergedanken die Formulierung "ihr selbst erarbeitetes Vermögen" verwende, denn dann gibt es ja auch "nicht selbst erarbeitetes Vermögen". Ach, man sieht schon interessante rechtswissenschaftliche Promotionsthemen am Horizont aufziehen. Was ist mit der Stadtrand-Villa, die der Sohnemann vom reichen Vater geerbt hat. Offensichtlich hat er das "nicht selbst erarbeitet". Aber wie ist das mit dem Fuhrpark, bestehend aus hochwertigen Premiumfahrzeugen, die sich die Hartz IV-beziehenden Mitglieder eines Familienclans durch harte händische Tätigkeiten im Rotlicht-Mileu erarbeitet haben? Das soll dann nich angerechnet werden?

Alle, die jetzt den Gang höher schalten und anfangen zu rotieren, sei an dieser Stelle die vielleicht abkühlende, viele aber auch erneut frustrierende Botschaft zugerufen: Das wird sowieso nichts bzw. am Ende kommt - wenn überhaupt - eine leichte Anpassung der Schwellenwerte heraus. Für diese Skepsis spricht, dass Schäfer-Gümbel wahrlich keinen neuen Ansatz in der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt hat. Die treuen Leser dieses Blogs werden sich möglicherweise dunkel erinnern: da war doch schon mal was mit SPD, Vermögen und Hartz IV. Genau, am 27. Dezember 2016, im Schatten des damals bevorstehenden Wahlkampfjahres, wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Jetzt soll die SPD Hartz IV ändern. Also ein wenig. Beim Schonvermögen. Vom anschwellenden Wahlkampf und (nicht nur) juristischen Untiefen in der Grundsicherung. Damals hatte Malu Dreyer die Funktion, die nun Schäfer-Gümbel auszufüllen versucht (übrigens muss man das alles im Kontext seiner bevorstehenden Buchveröffentlichung sehen: „Die sozialdigitale Revolution“, so heißt das Werk, das ab dieser Woche in gut sortierten Buchhandlungen käuflich zu erwerben ist).
Wobei der damalige Vorstoß von Dreyer, das muss man anerkennen, weitaus vorsichtiger und weniger ambitioniert daherkam wie das, was Schäfer-Gümbel (angeblich) jetzt fordert, denn der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin ging es um eine partielle Verbesserung bei den Vermögensanrechnungsvorschriften - in dem Beitrag hieß es: Dreyer will bei einem zentralen Punkt von Schröders Agenda 2010 ansetzen: dem Schonvermögen, das Arbeitslosen bleibt, wenn sie Hartz-IV-Leistungen ... beziehen. Die Höhe dieses geschützten Vermögens soll sich nach Dreyers Willen in Zukunft stärker an der Lebensarbeitszeit orientieren. Arbeitslose, die lange gearbeitet haben, würden dadurch besser gestellt. Zur Begründung sagte die SPD-Politikerin, Menschen, die 30 Jahre gearbeitet hätten, dürften nicht mit Menschen gleichgestellt werden, die am Anfang ihres Berufslebens stünden. „Das müssen wir korrigieren.“

Das wurde schon damals kritisch kommentiert. Der Beitrag endet mit diesen Worten, die man nun, im April 2018, erneut aufrufen kann:

»Vielleicht ist das alles nur heiße (Wahlkampf-)Luft, denn es geht primär um die Botschaft, man will was tun, aber weiß doch genau, dass das nichts wirklich viel kosten würde, wenn man bedenkt, dass zwischen 80 und 90 Prozent der Hartz IV-Empfänger gar kein anrechenbares Vermögen haben. Aber gut, dass wir darüber geredet haben.«

Und man muss ergänzen - der (wahrscheinlich ungeplant) die Systemfrage stellende Schäfer-Gümbel würde auf massiven Widerstand stoßen, wenn er wirklich konsequent die Berücksichtigung auch größerer Vermögen bei der Frage, ob man eine staatliche Leistung zur Existenzsicherung bekommen kann, ausschließen will. Das erscheint alles noch nicht wirklich durchdacht. Aber wie gesagt, schön, dass wir darüber geredet haben.