Man kennt das - es gibt Hoffnung und dann wird die wieder zunichte gemacht in der nächsten Runde. So ist das oft in der Sozialpolitik. Sei es, dass man mit einer guten Absicht gestartet ist, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und am Ende dann ganz woanders landet. Oder in der Rechtsprechung - ein Urteil, oftmals überraschend, lässt hoffen - und dann wird es in der nächsten Instanz wieder kassiert. Davon muss hier berichtet werden in einem Themenfeld, das seit einiger Zeit im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte steht: dem Pflegenotstand in den Pflegeheimen und in den Krankenhäusern.
Dabei geht es gar nicht um die optimale Ausstattung der Pflegeeinrichtungen mit Personal, sondern man beschränkt sich schon ob bewusst oder unbewusst angesichts des eklatanten Personalmangels auf die Frage, ob es Mindestpersonalvorgaben geben soll (und darf) und wenn, wie man diese Untergrenzen realisieren könnte. Eine an sich schon amputierte Debatte, die zudem - analog zum gesetzlichen Mindestlohn - immer die Gefahr in sich trägt, dass eine unterste Grenze auf einmal zu einer Referenz für die "normale" Ausstattung wird.
Schauen wir zurück in den November 2017. Da wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Viele dunkle Wolken wie auch einige Lichtblicke in der großen weiten Welt der Pflege. Und die Rechtsprechung als Notnagel auf der Rutschbahn nach unten. Nach einer Beschreibung, wie schwer sich die Politik schon seit Jahren mit dem Anliegen tut, überhaupt Mindestpersonalgrenzen zu definieren, geschweige denn, diese auch verbindlich einzuführen, wurde ein optimistisches Bild von aktuellen Entwicklungen in der Rechtsprechung gezeichnet:
Der angesprochene Optimismus wurde abgeleitet aus solchen Meldungen: Gericht stärkt Schutz der Pflegekräfte: »Arbeitgeber sind verpflichtet, ihre Mitarbeiter vor Überlastung zu schützen. Das gilt selbstverständlich auch für Pflegekräfte im Krankenhaus. Daher ist eine vorgeschriebene Mindestbesetzung von Stationen auch gegen den Willen des Arbeitgebers rechtmäßig. Das hat das Arbeitsgericht Kiel entschieden (Az.: 7 BV 67c/16).« Die Ansage des Arbeitsgerichts war erfreulich eindeutig:
»Das Gericht musste eine Auseinandersetzung zwischen einem Klinikbereich und dem Betriebsrat schlichten. Es ging um die Mindestbesetzung des Pflegedienstes auf bestimmten Stationen. Um Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, bildeten Arbeitgeber und Betriebsrat zunächst eine paritätisch besetzte Einigungsstelle. Doch auch hier konnte der Streit nicht beigelegt werden. Zwar hatten gleich drei Gutachten festgestellt, dass die physische und psychische Belastung des Personals eine kritische Grenze erreicht hatte. Dennoch fanden die Mitglieder der Einigungsstelle keine einvernehmliche Lösung für das Problem. Daher entschied letztlich eine Mehrheit, für bestimmte Belegungssituationen eine Mindestzahl von Pflegekräften vorzuschreiben.
Das passte dem Arbeitgeber jedoch nicht. Er sah seine Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und zog vor Gericht. Dort allerdings hatte er keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht entschied, die Mehrheitsentscheidung der Einigungsstelle sei rechtmäßig. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beziehe sich auch auf Regelungen zum Gesundheitsschutz, inklusive Schutzmaßnahmen bei konkreten Gefährdungen. Eine Mindestbesetzung vorzugeben, sei rechtens.«
Nach dieser Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel sahen zahlreiche Betriebsräte – insbesondere von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen – eine deutliche Erweiterung ihrer Einflussmöglichkeiten bei der Frage von Mindestbesetzungsregelungen beim Pflegepersonal.
Seitens des DGB Rechtsschutz wurde die Entscheidung aus Kiel beispielsweise so kommentiert (wobei die Ausführungen zugleich auch verständlich machen, warum die andere Seite das Feld hier nicht kampflos verlassen wird):
»Soweit erkennbar hat das Arbeitsgericht Kiel als erstes erkannt, dass Gesundheitsschutz sich nicht in ergonomischen Büromöbeln und Hygienevorschriften erschöpft. Auch Überlastung macht krank und eine angemessene Stationsbesetzung kann dem effektiv entgegen wirken.
Das Arbeitsgericht Kiel zeigt hier klare Kante und macht deutlich, dass auch die unternehmerische Freiheit nicht über der Gesundheit der Beschäftigten steht. Wenn es sein muss, kann der Betriebsrat also auch in die Personalhoheit und damit in den Kernbereich der Unternehmerfreiheit eingreifen.
Jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber sich nicht von einem Gutachten überzeugen lässt, das eine Überlastungssituation beschreibt und Abhilfemaßnahmen empfiehlt. Denn in diesem Fall kann die Einigungsstelle auch über seinen Kopf hinweg entscheiden.« (Till Bender: Betriebsrat kann Mindestbesetzung in der Pflege durchsetzen, 07.09.2017)
Die angesprochene Grundsatzfrage steckt natürlich in diesem Satz: »Wenn es sein muss, kann der Betriebsrat also auch in die Personalhoheit und damit in den Kernbereich der Unternehmerfreiheit eingreifen.«
Aber wie heißt es so trefflich: man sollte sich nicht zu früh freuen, vor allem nicht, wenn es um Entscheidungen unterer Instanzen geht, die an obere Instanzen weitergereicht werden (können). In diesem Fall muss man jetzt das zur Kenntnis nehmen:
»Mit der Erweiterung der Mitbestimmung ist es nun aber zumindest zunächst einmal vorbei. Das LAG Schleswig Holstein (16 TaBV 21/17) hat in seinem aktuellen Beschluss vom 25. April 2018 entschieden, dass der Betriebsrat Regelungen zur Mindestpersonalbesetzung nicht erzwingen kann.«
Diese viele aus der Pflege sicher frustrierende Botschaft kann man der dankenswerterweise von Silvio Fricke auf der Seite des Expertenforums Arbeitsrecht (#EFAR) veröffentlichten Besprechung der neuen Entscheidung entnehmen, die er unter diese Überschrift gestellt hat: Arbeits- und Gesundheitsschutz: (Doch) keine Mitbestimmung bei Mindestpersonalbesetzung. Wie aber begründet das Landesarbeitsgericht die Ablehnung der vorinstanzlichen Entscheidung, die ja noch eindeutig für die Mitbestimmung ausgefallen ist?
Zur Ausgangslage weist Fricke darauf hin, dass das Arbeitsgericht Kiel entschieden hat, dass der Betriebsrat gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz habe. Dies bezieht sich auch auf Schutzmaßnahmen des Arbeitgebers zur Verhütung von Gesundheitsschäden bei konkreten Gefährdungen, die im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung festgestellt worden sind.
Die von der Betriebsratsseite angestrebte Reichweite der Mitbestimmung sei nämlich mit der Systematik der Betriebsverfassung nicht in Einklang zu bringen, hat nun das LAG Schleswig-Holstein entschieden, so die Verfahrensbevollmächtigten der Arbeitgeberseite Thomas Ubber und Jutta Heidisch (beide Allen & Overy LLP).
»Offensichtlich wurde das Erfordernis unberücksichtigt gelassen, dass Beteiligungsrechte des BR aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG an die Notwendigkeit geknüpft sind, dass eine Gefährdungsbeurteilung oder daran anknüpfende Maßnahmen des Arbeitgebers zur Beseitigung oder Vermeidung konkreter Gefahren oder Gefährdungen in Rede stehen. So hatte es zuletzt auch das BAG noch einmal ausdrücklich klargestellt.
Ob man bereits auf der Grundlage von Gutachten – so ja das Arbeitsgericht Kiel in seiner Entscheidung im Sommer letzten Jahres – diese Gefährdungen annehmen kann, hielten schon kurz nach der erstinstanzlichen Entscheidung namhafte Fachleute für äußerst zweifelhaft.«
Und dann wohl den Kern der Sache treffend: „Schließlich habe der Gesetzgeber dem Betriebsrat bei Fragen der Personalplanung nur Unterrichtungs- und Beratungsrechte zugestanden (§ 92 BetrVG). Auch mit der unternehmerischen Freiheit sei die vom Betriebsrat angestrebte Erweiterung seiner Einflussmöglichkeiten in der Regel nur schwer vereinbar“, so Thomas Ubber für die Arbeitgeberseite.
Es geht hier also primär um eine mitbestimmungsrechtliche Fragestellung. Und für alle, die dennoch Hoffnung brauchen, kann man hier Silvio Fricke zitieren: »Die Rechtsbeschwerde zum BAG wurde zugelassen.« Es kann also weitergehen bis nach ganz oben.
Und auch dieses Zitat von Fricke sollte man aufrufen: »Es wird ... ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Bedeutung dieser Entscheidung an dieser Stelle ... ausschließlich mit Blick auf die dahinter liegende Gesetzessystematik und -technik, insbesondere der Betriebsverfassung, hergeleitet wird. Eine generelle Bewertung, ob ein Pflegenotstand in Deutschland vorliegt und – wenn ja – wie dieser behoben werden kann, ist nicht Gegenstand der juristischen Würdigung dieser aktuellen Gerichtsentscheidung.«
Diese Einschränkung ist einerseits wichtig für die Interpretation des Urteils - aber man muss zugleich aus fachlicher Sicht ergänzen: Ob ein Pflegenotstand vorliegt, kann als beantwortet gelten. Er liegt vor und er wird tagtäglich schlimmer.