Die Sprache kann bekanntlich eine Waffe sein. Von einer furchterregenden, angsteinflößenden Waffe bis hin zu einem filigranen Stichwerkzeug, das man gezielt ansetzen muss, um verheerende Wirkungen zu entfalten. Mit Sprache kann man aber auch spielen und Worte in verschiedensten Relationen zum Strahlen bringen - oder am anderen Ende in nüchtern daherkommender technischer Diktion die Reduktion der unaufhebbaren Individualität jedes Menschen im Sinne einer Transformation zu einer Sache, einem Ding vorantreiben. Den Menschen zu entmenschlichen. Ihn zu einem Produkt von etwas einzudampfen.
Vor allem kann man mit der Sprache polarisieren und teilweise reflexhafte und damit erwartbare Reaktionen auslösen, an denen man sich dann wieder abarbeiten kann. Zuweilen wird man auch überrascht von den Effekten und behauptet dann gerne angebliche Missverständnisse, die sich auf der anderen Seite Bahn gebrochen haben. Oder man skandalisiert. Wir erleben das gerade auf einer bestimmten Ebene im Kontext mit der Verleihung des Echo-Preises an Kollegah und Farid Bang und die von vielen Seiten vorgetragenen Vorwurf, dass man den beiden eine antisemitische Haltung vorwerfen muss, ausgelöst durch die Punchline “Mein Körper [ist] definierter als ein Auschwitzinsasse”. Mit Blick auf den Echo-Preis ist das eine seltsame Argumentation, denn der Echo ist schließlich "ein Preis...der auf Verkaufszahlen basiert" (Vorstandssprecher Florian Drücke) und denen ist es egal, ob man die seriös oder abgründig realisiert hat. Dabei ist die Sache mit Blick auf den Rapper Kollegah weitaus schlimmer (geworden), wie das Leon Dische Becker in seinem differenzierten Artikel Schmocktransformation ausführlich entfaltet hat.
Aber hier soll es um etwas anderes gehen - um Menschen mit schweren Behinderungen. Die unsere besondere Fürsorge bedürfen, die oftmals völlig schutz- und wehrlos sind. Und - da ist eine Verbindungslinie zu dem Thema Antisemitismus, das (nicht nur) in dunkle Jahrzehnte zurückreicht - diese Menschen wurden in der Vergangenheit mit einer abgrundtiefen Konsequenz stigmatisiert, mit Worten und dann mit Taten ausgesondert und "entsorgt". Wiederholt sich die Vergangenheit nie wieder?
Oder werden wir gerade Zeugen von einer erneuten Inszenierung des alten Musters? Manche Beobachter haben diesen Eindruck, beispielsweise Mark Kleber vom SWR, der seine dunklen Gedanken dazu unter der Überschrift "Ein Menschenbild, das unsäglich ist" veröffentlicht hat: »Die AfD greift sich ein paar Zahlen, deutet sie in ihrem Sinne und stellt eine Frage. Muss man ja schließlich dürfen, oder? Nein, darf man nicht.« Um was genau geht es?
»In ihrer Anfrage wollte die AfD unter anderem von der Bundesregierung wissen, wie sich die Zahl der Menschen mit Behinderung seit 2012 entwickelt habe, "insbesondere die durch Heirat innerhalb der Familie". Außerdem wollten die Abgeordneten wissen, wie viele Menschen mit einer Schwerbehinderung keine deutsche Staatsangehörigkeit hätten.«
Schauen wir in das Original der angesprochenen Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, auf die Kleber sich hier bezieht: die Bundestags-Drucksache 19/1444 vom 22.03.2018, die mit der erst einmal unverfänglich daherkommenden Überschrift "Schwerbehinderte in Deutschland" versehen wurde. Gutmütige, naive Beobachter könnten auf die Idee kommen, dass es sich hier um eine Anfrage handelt, bei der es darum geht in Erfahrung zu bringen, wo es vielleicht klemmt bei der Versorgung der Menschen mit einer schweren Behinderung, wo Handlungsbedarf besteht, um das Leben dieser Menschen zu verbessern. Weit gefehlt. Man achte auf die sicher nicht zufällig vom Himmel gefallene Diktion des Machwerks:
Die AfD richtet sechs Fragen an die Bundesregierung - aufschlussreich sind die kurzen Vorbemerkungen vor den Fragen, aus denen man die Stoßrichtung ableiten kann. Nach einer kurzen Darstellung der Zahlen - im Jahr 2015 hatten 7.615.560 Menschen in Deutschland einen Schwerbehindertenausweis, das waren 9,3 Prozent der Gesamtbevölkerung - wird dem Leser eine scheinbare Ursachenanalyse aufs Auge gedrückt:
»Behinderungen entstehen u. a. durch Heiraten innerhalb der Familie ... Eine britische Studie kam zu dem Schluss, das 60 Prozent der Todesfälle und Erkrankungen betroffener Kinder hätten vermieten werden können, „wenn die Inzucht beendet würde“.«
Und man schaue sich die dazu gehörende Frage 4 an und achte auf die Wortwahl:
»Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der Behinderten seit 2012 entwickelt, insbesondere die durch Heirat innerhalb der Familie entstandenen (aufgeschlüsselt nach Jahren)?«
Ja, so steht das da: Die Zahl der Behinderten, die "entstanden" sind - nicht etwa die geboren wurden oder das Licht unserer Welt erblickt haben. Nein, die "entstanden" sind, wie ein Produkt, eine Sache, die man hergestellt hat. "Entstanden", wie zum Beispiel ein Schaden, merkt auch Kleber fassungslos an. Aber damit noch nicht genug - die AfD schafft es, das sogleich mit noch einer Perfidie zu toppen, denn die anschließende Frage 5 lautet:
»Wie viele Fälle aus Frage 4 haben einen Migrationshintergrund?«
Und damit auch dem letzten klar wird, um was es hier geht, lautet die letzte Frage mit der Nummer 6:
»Wie viele der in der Bundesrepublik lebenden Schwerbehinderten (bitte hier alle Arten von Behinderungen zusammenfassen) besitzen keine deutsche Staatsbürgerschaft (bitte aufschlüsseln nach Jahren seit 2012)?«
Eine kalte und technokratisch daherkommende Sprache, die aber sofort bei einigen Assoziationen von Inzucht betreibenden Menschen aus anderen Ländern, die zu uns gekommen sind, um hier schwerbehinderte Menschen "entstehen" zu lassen, hervorrufen. Und genau diese Bilder adressiert die Anfrage.
Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten: Ethikrat-Chef empört über AfD-Anfrage zu Menschen mit BehinderungEthikrat-Chef empört über AfD-Anfrage zu Menschen mit Behinderung, berichtet das Deutsche Ärzteblatt:
»Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, hat sich empört über eine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion zum Thema „Schwerbehinderte in Deutschland“ gezeigt. „Es ist erschütternd und völlig inakzeptabel, dass in einer Anfrage im Deutschen Bundestag erkennbar im Subtext vermittelt wird: Die Zunahme von Behinderung ist ein gesellschaftliches Übel“, sagte der Erlanger Theologe heute. Die Autoren der Anfrage bewegten sich damit wieder „bewusst an der Grenze rechtsextremistischen Vokabulars. Jeder, der es will oder kann, soll darin Lebenswerturteile erkennen“, fügte Dabrock hinzu ... Dass die Anfrage zudem einen „erkennbar abstrusen Zusammenhang zur Migrationsfrage“ aufbaue, „toppt das Ganze im negativen Sinne“, so der Ethikexperte.«
Auch die BAG Selbsthilfe, die Dachorganisation von 120 bundesweiten Selbsthilfeverbänden behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen, hat sich zu Wort gemeldet: AFD-Anfrage empörend und völlig inakzeptabel! Zunahme von Behinderung wird als gesellschaftliches Übel dargestellt, so ist deren Pressemitteilung überschrieben.
„Das Heranziehen von Inzest als vermeintliche Hauptursache von Behinderungen in Deutschland, sowie die implizierte Mutmaßung, dass es sich bei einer Vielzahl der behinderten Personen um Menschen mit Migrationshintergrund handeln könnte, ist nicht nur empörend, sondern auch völlig inakzeptabel“, kritisiert Dr. Martin Danner, Bundegeschäftsführer der BAG Selbsthilfe scharf.
An dieser Stelle noch mal zurück zu dem Kommentar von Mark Kleber vom SWR: »Die Botschaft am Ende der Kette deute ich also so: Mehr Migranten bedeuten auch mehr Menschen mit Behinderung in Deutschland. Das für mich eigentlich Empörende ist aber nicht der neue, kaum verdeckte Angriff auf das Feindbild, das die AfD zu ihrem politischen Geschäftsmodell gemacht hat. Sondern dass zwischen allen Zeilen dieser AfD-Anfrage die Haltung steht, dass Menschen mit Behinderungen weniger wert sind.« Und dann:
»Mich hat das an eine alte Rechenaufgabe erinnert. Die geht so: "125 Mark sind die Ausgaben für ein gesundes deutsches Schulkind. Um wie viel Prozent teuerer kommt dem deutschen Volk ein Geisteskranker oder Krüppel?" Zitat Ende. So lautete eine Rechenaufgabe in der Zeit des Nationalsozialismus.«
Genau dahin kann so ein Gedankengut führen - und zu so einer Rechenaufgabe geführt hat die Vorbereitung durch eine entmenschlichte Sprache und die Reduzierung von Menschen mit schweren Behinderungen auf einen Kostenfaktor. Und keiner kann wirklich behaupten, dass wir in unserer Zeit nicht auch anfällig sind für die Reduktion von Menschen auf Kostenfaktoren.
Das Deutsche Ärzteblatt berichtet zugleich von der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf die Anfrage der AfD. Daraus für alle nur dieser Passus:
»Der Anteil der „angeborenen Behinderungen“ ging zwischen 2011 und 2015 von 4,1 auf 3,8 Prozent zurück. „Die relative Bedeutung der angeborenen Behinderungen als Behinderungs-Ursache ist bereits seit längerem rückläufig“, heißt es in der Antwort.
Bei mehr als 94 Prozent der schwerbehinderten Menschen handelt es sich um Deutsche. Die übrigen schwerbehinderten Menschen haben einen Migrationshintergrund. Dieses Verhältnis ist in den vergangenen Jahren in etwa gleich geblieben.«
Aber ob die Fakten wirklich jemanden interessieren bei der AfD? Wahrscheinlich werden die sich als Biedermänner und -frauen inszenierenden Brandstifter jetzt ganz bitter beklagen, sie hätten doch nur eine Anfrage gestellt und nun werde wieder die "Nazikeule" ausgepackt. Und wahrscheinlich werden viele in ihrer Blase lebende Anhänger dann auch noch die Brandstifter als Opfer des bösen "Mainstreams" darstellen.
Aber so ist es nicht. Es ist einfach nur widerwärtig, was uns da vorgeführt wird.