“The outcomes from sanctions are almost universally negative."
Peter Dwyer, University of York
Über Sanktionen im deutschen Hartz IV-System wurde hier ja schon in vielen Beiträgen berichtet. Und das Thema ist nicht nur äußerst aufgeladen, allein schon aufgrund der Tatsache, dass hier Menschen das Existenzminimum gekürzt oder gar vollständig entzogen wird. Die Frage, ob die Sanktionen überhaupt verfassungsrechtlich zulässig sind, liegt seit geraumer Zeit auf dem Tisch des Bundesverfassungsgerichts, das sich allerdings eine Menge Zeit lässt mit einer Entscheidung, auf die viele warten, da die Politik offensichtlich kein Interesse hat, sich in der Sanktionsfrage zu bewegen.
Aber es gibt auch Befürworter der Sanktionierungspraxis, die das als ein notwendiges Instrument der vielbeschworenen "Fördern und Fordern"-Philosophie der Agenda 2010 verstehen oder die schlichtweg darauf abstellen, dass man manchen Leuten eben auch mit Druck und Strafen kommen müsse, da sie sich sonst nicht einpassen lassen in die Verhaltensanforderungen einer eben nicht-bedingungslosen Grundsicherung.
Auch in Großbritannien hat man seit vielen Jahren Erfahrungen mit der Sanktionierung von Sozialleistunxsempfängern gemacht. "Welfare conditionality", also die Bindung des Zugangs zu Geld- und Dienstleistungen an die Bereitschaft der Hilfeempfänger, bestimmte Regeln und Verhaltensweisen einzuhalten und bei abweichendem Verhalten die Menschen zu sanktionieren, wurde in Großbritannien seit den 1990er Jahren in das soziale Sicherungssystem eingebaut, wobei sowohl die Reichweite wie auch die Intensität der Anforderungen und der Sanktionen seit 2012 dramatisch zugenommen haben.
Auf dem Höhepunkt im Jahr 2013 gab es in Großbritannien mehr als eine Millionen Sanktionen. Zwischen 2010 und 2015 wurde ein Viertel aller Menschen im "jobseeker’s allowance"-System sanktioniert.
Die Zahl der Sanktionen in Großbritannien ist dann bis auf 350.000 im Jahr 2016 gefallen - auch als Folge einer ganzen Reihe an kritischen Berichten, die deren Wirksamkeit in Frage gestellt und auf negative Folgewirkungen hingewiesen haben. So beispielsweise House of Commons Work and Pensions Committee (2015): Benefit sanctions policy beyond the Oakley Review, Social Security Advisory Committee (2015): Universal Credit: priorities for action (dazu auch der Artikel Review of benefit sanctions urged amid concern over regime's effectiveness von Patrick Butler) oder National Audit Office (2016): Benefit sanctions (dazu Patrick Butler: Benefits sanctions: a policy based on zeal, not evidence).
Und nun wurden die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, in der über fünf Jahre lang mehrere Hundert Antragsteller untersucht und begleitet wurden. Es handelt sich um die größte Studie über "welfare conditionality", die es bislang in Großbritannien gegeben hat (vgl. für eine Zusammenfassung der Befunde Peter Dwyer: Final findings: Overview, May 2018). Auch darüber hat Patrick Butler berichtet: Benefit sanctions found to be ineffective and damaging: »Study concludes that punishing claimants triggers profoundly negative outcomes. Benefit sanctions are ineffective at getting jobless people into work and are more likely to reduce those affected to poverty, ill-health or even survival crime.«
Trotz der Behauptungen seitens der Regierung in den vergangenen Jahren, dass die rigorose Verschärfung der Konditionalität, also der Bedingungen, die man erfüllen muss, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können (u.a. die Verpflichtung, mindestens eine 35 Stunden pro Woche -Arbeit zu suchen) dazu geführt hätte, dass die Leistungsbezieher angereizt wurden, überhaupt und schneller wieder aus dem Leistungsbezug durch Arbeitsaufnahme auszuscheiden (vgl. beispielsweise Work and pensions secretary said 75% of jobseekers think benefit sanctions have helped them ‘focus and get on’), kann die neue Studie keine echten Belege für diese positive Wirkungen finden.
In der Studie wird neben der generellen Überprüfung des Instrumentariums angesichts der Ergebnisse ein sofortiges Moratorium der Sanktionierung behinderter Menschen gefordert, die von der Bestrafungspraxis überdurchschnittlich betroffen sind (vgl. dazu auch Michael Savage and Donna Ferguson (2018): More than a million benefits sanctions imposed on disabled people since 2010) - »together with an urgent “rebalancing” of the social security system to focus less on compliance and more on helping claimants into work.«
In den wenigen Fällen, in denen ein Übergang vom Leistungsbezug in eine nachhaltige Beschäftigung gelungen ist, waren es nicht Sanktionen, sondern die persönliche Unterstützung der Jobsuche, die als Erfolgsfaktor gewirkt hat. Trotzdem legen die Jobcenter in Großbritannien eine andere Ausrichtung an den Tag: »With few exceptions, however, jobcentres were more focused on enforcing benefit rules rather than helping people get jobs, the study found.« Und die Studie fördert Befunde die Jobcenter betreffend zu Tage, die uns in Deutschland nicht unbekannt erscheinen: Obgleich es einige Beispiele "guter Praxis" geben würde, kommt die Studie zu einem mehr als ernüchternden Befund der Angebote der Jobcenter, denn »much of the mandatory job search, training and employment support offered by Jobcentre Plus and external providers is too generic, of poor quality and largely ineffective in enabling people to enter and sustain paid work.« Und wenn die Leute in Erwerbsarbeit gewechselt sind, dann in der Regel in nicht nachhaltige Beschäftigung, was wir auch aus deutschen Jobcentern kennen:
»For those people interviewed for the study who did obtain work, the most common outcome was a series of short-term, insecure jobs, interspersed with periods of unemployment, rather than a shift into sustained, well-paid work.«
Die Studie beklagt die negativen Auswirkungen der Sanktionen (»including debt, poverty and reliance on charities such as food banks ... they frequently triggered high levels of stress, anxiety and depression«) - wobei die Sanktionen (auch das wird aus Deutschland immer wieder berichtet) »often imposed for trivial and seemingly cruel reasons«.
Und auch das kennen wir aus Deutschland - ein Teil der Betroffenen wird einfach aus dem System gekickt und kommt dann auch nicht mehr wieder rein:
»Claimants with chaotic lives – who were homeless or had addictions, for example – reacted to the “inherent hassle” of the conditionality system by dropping out of the social security system altogether. In some cases, they moved into survival crime, such as drug dealing.«
Und Sanktionen treffen auch in Großbritannien die Kinder, beispielsweise die Kinder von Alleinerziehenden. Was man statt der teilweise nur als willkürlich zu bezeichnenden Bestrafungspraxis anders machen sollte, kann man diesem Zitat von Dalia Ben-Galim von der Organisation Gingerbread entnehmen: »Rather than threatening single parents with sanctions and widening the ‘conditionality’ agenda, it would be much more valuable to enable the conditions to support employment such as affordable childcare, access to flexible work and personalised support through job centres.« Das könnten wir auch in Deutschland gebrauchen.