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Mittwoch, 30. Mai 2018
Erntehelfer auf der Flucht? Wieder einmal die Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft, die Angst vor dem Tod des deutschen Spargels und die Hoffnung auf eine neue "Osterweiterung"
»Der Spargel hat Hochsaison, bei dem Wetter schießt das Gemüse und die Preise sind auf dem Tiefstand. Dabei ist die Ernte knüppelharte Handarbeit, Stange um Stange muss gestochen werden. Diese Arbeit erledigen in den deutschen Anbaugebieten vor allem Erntehelfer aus Polen und Rumänien. Traditionell kommen sie zur Saison und ernten Spargel und Erdbeeren im Frühsommer und Weintrauben und Äpfel im Herbst.« So beginnt der Artikel Helfer machen sich vom Acker: Landwirte suchen Saisonkräfte von Alexandra Duong.
In diesem Artikel geht es um die zunehmenden Klagen über fehlende Erntehelfer. Als Beispiel werden Spargelbauern im Raum Beelitz zitiert:
»„Wir hatten 350 Zusagen, aber nur 265 sind gekommen“, sagt Jürgen Jakobs. Gut 30 Erntehelfer hätten sie im Nachhinein noch anwerben können. Jakobs ist Vorsitzender des Beelitzer Spargelvereins; er selbst baut das Saisongemüse auf 250 Hektar an. Einige Hektar lässt er jetzt liegen, „da wächst der Spargel durch“, sagt er. Zurzeit komme ihm das entgegen, es gebe zu viel Spargel am Markt, aber für die Zukunft macht er sich Sorgen um die Verfügbarkeit von Erntehelfern.«
Das wird auch in einem anderen Beitrag aufgegriffen: »In Brandenburg bauen knapp 100 Betriebe Spargel auf mehr als 4.000 Hektar an. Das sind 17 Prozent der gesamten Spargelanbaufläche Deutschlands. Doch in diesem Jahr müssen fast alle Produzenten einen Teil der Ernte auf den Feldern lassen: Die osteuropäische Erntehelfer arbeiten lieber auf dem Bau«, so Vanja Bude unter der Überschrift Erntehelfer in Brandenburg: Bau statt Spargelernte. »Auf den Spargelfeldern in Beelitz arbeiten seit einigen Jahren immer weniger Polen, denn sie finden auch zu Hause oder in anderen EU-Ländern lukrativere Arbeit. Die Lücken wurden mit Personal aus Rumänien gefüllt, doch auch diese Hilfskräfte finden mittlerweile anderswo bessere Bedingungen.«
In den Worten des brandenburgischen Spargelbauers Jürgen Jakobs:
"Die Baubranche saugt halt sehr viel Personal auf, auch die Paketzusteller. Die Leute kriegen dort halt vielleicht auch noch mal zwei, drei Euro die Stunde mehr, und die Arbeit auf unseren Feldern ist ja ohnehin ganz schön beschwerlich. Insofern ziehen wir als Landwirtschaft den Kürzeren."
Und natürlich wird auch auf den Konkurrenzdruck hingewiesen: Spargelbauer Jakobs zahlt den vorgeschriebenen Mindestlohn von 8,84 Euro. Höher kann er nicht gehen, versichert der Spargelbauer. Zumal in Brandenburg polnische Produzenten zusätzliche Konkurrenz bedeuten:
"Dort ist der Mindestlohn vielleicht 2,70 Euro oder drei Euro ... Und die Polen dürfen zum Beispiel auch Ukrainer beschäftigen, die haben diese Drittstaatenregelung, die tritt bei uns nicht ein, weil wir nur EU-Bürger beschäftigen dürfen. Da gibt es bisher keine Ausnahmen. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, in Zukunft neue Saisonarbeitskräfte zu sichern."
Die Erntehelfer erhalten in der Regel den Mindestlohn von 8,84 Euro pro Stunde. Dazu kommen Prämien; arbeiten sie im Akkord und werden pro Kilo bezahlt, kann der Stundenlohn höher ausfallen. Haben sie Verträge über eine kurzfristige Beschäftigung – nicht länger als drei Monate oder 70 Tage – müssen die Bauern keine Sozialversicherungsbeiträge für ihre Helfer zahlen, so Alexandra Duong in ihrem Artikel. Aber man muss an dieser Stelle einwerfen: Auch wenn der Mindestlohn formal gezahlt wird, lassen viele Berichte aus der wirklichen Wirklichkeit darauf schließen, dass auch weiterhin Lohndumping dergestalt praktiziert wird, dass den Saisonarbeitnehmern gleich wieder Beträge für Kost und Logis abgezogen werden und das für eine teilweise hanebüchene Unterbringung. Die Verrechnung des Mindestlohns mit Sachleistungen ist hier das Einfallstor für die Arbeitgeber, die ihre Lohnkosten (wieder) drücken wollen.
Wir haben es mit einem doppelten Angebots-Nachfrage-Problem zu tun:
(1) Zum einen sinkt das Angebot an Erntehelfern nicht nur aufgrund der Tatsache, dass die Saisonarbeitskräfte aus den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten in anderen Branchen und auch in anderen Ländern als Deutschland bessere Konditionen finden, sondern auch der Anstieg des Wohlstandsniveaus vor allem in Polen lässt es weniger attraktiv erscheinen, sich für die harte und relativ schlecht vergütete Arbeit in der deutschen Saison-Landwirtschaft zu verdingen.
Dazu aus dem Artikel von Alexandra Duong: »Etliche Betriebe wenden sich an Agenturen, die gegen Gebühr Arbeitskräfte aus Osteuropa anheuern. Aber das sei eine schwierige Angelegenheit geworden, sagt der Chef einer Vermittlungsagentur für polnische Arbeitskräfte ... „Dieses Jahr ist eine reine Katastrophe“, sagt er. Früher seien auch gut qualifizierte Menschen als Erntehelfer gekommen, die das hierzulande verdiente Geld in Polen investiert hätten. Mittlerweile sei das Lohnniveau in Polen gestiegen, und selbst dort fehlten inzwischen saisonale Arbeitskräfte. „Es gibt dort viele Möglichkeiten, lukrativere Jobs zu finden“, sagt er.«
Und die Alternative Rumänien? „Wir werden für mehr Mitarbeiter angefragt, als wir vermitteln können“, sagt einer, der die deutsche Kundschaft einer Agentur betreut, die rumänische Arbeitskräfte vermittelt. In Rumänien sei die Situation anders, die wirtschaftliche Entwicklung bei weitem nicht so positiv wie in Polen. Der Rückgang an polnischen Erntehelfern lasse sich mit rumänischen Kräften jedoch nicht ausgleichen.
(2) Zum anderen sinkt aus demografischen Gründen die Zahl der grundsätzlich verfügbaren Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa, was auf den Geburteneinbruch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zurückzuführen ist. Vgl. dazu ausführlicher die Studie von Stephan Sievert et al. (2017): Europas demografische Zukunft. Wie sich die Regionen nach einem Jahrzehnt der Krisen entwickeln, Berlin, Juni 2017.
Die Vorschläge zur Bewältigung des Problems zurückgehender Erntehelfer-Zahlen aus der Branche selbst folgen nicht dem ja grundsätzlich auch denkbaren Muster, dann eben die Bedingungen zu verbessern, um wieder mehr Kräfte anzuziehen, sondern man fokussiert die Perspektive auf eine Art neue "Osterweiterung" des Nachschubs an Billigarbeitskräften. Konkret setzt man die Hoffnungen auf ein sogenanntes Drittstaatenabkommen mit der Ukraine. »Eine EU-Richtlinie regelt die saisonale Beschäftigung von Bürgern aus Drittstaaten. Mitgliedsstaaten können bilaterale Abkommen mit Ländern außerhalb der Union schließen«, erläutert Alexandra Duong. Auch der Chef des Rheinischen Landwirtschafts-Verbandes (RLV) drängt auf das Drittstaatenabkommen. »Von den Staaten, die in Frage kommen, sei die Ukraine am nächsten dran. Und für ukrainische Arbeitnehmer sei die Bezahlung gut.«
Auch Österreich hat das gleiche Problem mit rückläufigen Zahlen bei den Erntehelfern - und man setzt ebenfalls alle Hoffnungen auf das angesprochene Instrumentarium der Drittstaatenabkommen. Dazu der Artikel Den Landwirten laufen die Erntehelfer davon. Dabei wird auf eine "interessante" Konkurrenzsituation zugunsten Deutschlands hingewiesen: »Viele der Saisonarbeitskräfte, die vor allem aus Osteuropa stammen, würden überhaupt nicht mehr nach Österreich kommen wollen. Stattdessen gehen sie nach Deutschland, weil sie dort mehr verdienen. Denn in Deutschland sind die Lohnnebenkosten im Vergleich zu Österreich niedriger, weshalb den Arbeitern netto mehr übrig bleibt. Versicherungsbeiträge fallen dort erst ab dem 70. Tag an.« Viele Landwirtschaftsvertreter fordern vor diesem Hintergrund eine Ausweitung des Drittstaatenkontingents.
Das ist derzeit beschränkt. Am Beispiel des Bundeslandes Oberösterreich: »Dort ist das Kontingent für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer aus Drittstaaten, also Staaten außerhalb der EU, auf 1.050 begrenzt, weil generell Arbeitskräfte aus der EU bei der Vergabe bevorzugt werden müssen.«
Die angesprochene bessere Konkurrenzsituation Deutschlands wird auch von einer anderen Seite kritisiert - aus Frankreich: So klagen französische Bauern, dass die deutschen Landwirte den Markt dort mit billigem Spargel überfluten, weil der Mindestlohn bei uns niedriger ist als auf der anderen Rheinseite. Die französischen Arbeitgeber verlangen inzwischen von den deutschen Gewerkschaften, dass sie für höhere Löhne in der Landwirtschaft sorgen sollen. Und in den ersten Jahren nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland gab es sogar eine Übergangsregelung für die Erntehelfer, deren Einführung damals auch mit einer großen Klage über die Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Branche begleitet wurde (vgl. dazu den Beitrag Das muss ja auch mal gesagt werden: Rettet den deutschen Spargel vor dem deutschen Mindestlohn! Und die Gurken gleich mit. Aber natürlich ist es in Wahrheit wieder einmal komplexer vom 12. Juni 2014).
Und was sagen die, die sich seit langem kritisch begleitend mit der Situation der Saisonarbeitskräfte in Deutschland beschäftigen? Dazu dieses Interview mit Thomas Hentschel, dem Geschäftsführer des Peco-Instituts in Berlin, das eine Studie über die Situation der Erntehelfer veröffentlicht hat (vgl. Pech-Institut (2017): Flexible-Insecure. Wanderarbeit in der Landwirtschaft, Berlin 2017): "Wenn man die Leute anständig behandelt, kommen sie auch":
Hentschel wird zu den Klagen über die ausbleibenden Arbeitskräften aus Osteuropa befragt. Seine Sicht: »Die Klage kommt von den Bauern regelmäßig. Vor ein paar Jahren hieß es noch, der Spargel müsse auf den Feldern verderben, weil die Polen plötzlich lieber in Großbritannien arbeiteten. Natürlich ändern sich die Herkunftsländer: Heute kommen die Saisonkräfte nicht mehr so oft aus Polen, dafür häufiger aus Rumänien. Ich kenne auch viele Betriebe, die gar keine Probleme haben, Erntehelfer zu finden. Wenn man die Leute anständig behandelt, kommen sie auch.«
Anständig behandeln - dazu gehört sich auch, dass man wenigstens das Mindeste zahlt, also den Mindestlohn. Dessen Höhe und Umgehung wurde in diesem Beitrag bereits angesprochen. Dazu Hentschel: »... in der Praxis erleben wir immer wieder, dass auf den Lohnzetteln der Saisonkräfte sehr fantasievolle Abzüge auftauchen. Da wird den Erntehelfern zum Beispiel die Kleidung oder das Arbeitsgerät in Rechnung gestellt. Oder die Kosten für die Unterkunft sind so hoch, dass vom verdienten Geld kaum etwas bleibt. Die Saisonarbeiter haben oft keine Wahl: Sie müssen während ihres Einsatzes ja irgendwo wohnen. Das macht Lohndumping einfach, die Landwirte können mit den Abzügen Druck auf die Arbeitskräfte ausüben. Wenn die Erntehelfer da nicht mehr mitspielen, ist das eine gute Entwicklung.«
Nach dieser Sichtweise gibt es eigentlich nur die eine Lösung: man muss die Arbeitsbedingungen verbessern und das beutetet nicht nur, aber vor allem die Vergütung anheben. Und was ist mit dem Argument beispielsweise vieler Spargel-Bauer, dass sie dann aufgrund der höheren Preise nicht mehr überlebensfähig wären, weil die Kunden nicht bereit sein werden, mehr Geld auszugeben für den deutschen Spargel und die hier produzierten Erdbeeren.
Auch wenn das erst einmal nur eine Behauptung ist, so berührt der wahre Kern dieses Einwands die Nachfrage-Seite und deren Bedeutung. Wenn die Produktion landwirtschaftlicher Produkte in Deutschland mit deutlich höheren Kosten einhergehen müsste, dann müssten die Verbraucher bzw. zumindest ein relevanter und kaufkräftiger Teil von ihnen bereit sein, dem beim Einkauf Rechnung zu tragen. Diese Grundanforderung, dass man höhere Preise für Produkte, die regional hergestellt werden, auch zu zahlen bereit ist, kann man auf viele andere Dienstleistungsbereiche übertragen. Denn wenn die Verbraucher darauf bestehen, das billigste Angebot auszuwählen oder gar zu unterschreiben, dann werden zahlreiche Produzenten hier bei uns Schwierigkeiten haben oder gar aufgeben müssen. Wenn man die erhebliche Schwächung oder gar das Verschwinden dieser einheimischen Anbieter nicht will, dann muss man in den Markt hinein seitens der Nachfrager bewusst wirken und das auch im Kaufverhalten abbilden. So, wie das in der Vergangenheit beispielsweise stabil und erfolgreich in der Schweiz praktiziert wurde und wohl immer auch noch gemacht wird. Man schaue sich nur einmal an, wie viele im Hochlohnland Schweiz hergestellten Produkte sich in einem Schweizer Supermarkt befinden. Nur so kann man auf Dauer die Hersteller im Inland stützen. Wenn es hingegen nur noch um "albanische Kampfpreise" geht, dann wird das nicht auf Dauer gehen können.