Die vergangenen Wochen waren von einem permanenten Rauschen über angeblich dringend notwendige Ausnahmen von der vorgesehenen Mindestlohnregelung in den Medien beherrscht. Nachdem die Grundsatzentscheidung für die Einführung eines (mehr oder weniger) flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns seitens der Bundesregierung gefallen ist, versuchen die Gegner dieses Instruments mit zahlreichen Ausnahmeforderungen die Logik einer allgemeinen Lohnuntergrenze gleichsam von hinten herum wieder auszuhebeln. Die Forderungen, wer und wo es Ausnahmen von Mindestlohn geben soll – von studentischen Hilfskräften, Rentnern, Taxifahrern bis hin zu den Saisonarbeitern in der Landwirtschaft – haben derart überhandgenommen, dass selbst Mitglieder der Union so etwas wie einen halben Nervenzusammenbruch bekommen haben: „Es reicht mir langsam“, mit diesen Worten wird der CDU-Sozialexperte Karl-Josef Laumann zitiert.
»Wenn ich höre, was der Wirtschaftsrat alles an Ausnahmen haben will, kann ich nur sagen: Das ist abenteuerlich. Wenn man ganze Bevölkerungsgruppen aus dem Mindestlohn herausnehmen will, soll man doch gleich sagen, dass man überhaupt keinen will ... Es ist genug geredet worden, wir müssen jetzt mal zu Potte kommen. Und es bleibt dabei: Wir brauchen einen robusten Mindestlohn. Ohne Ausnahmen«, so Laumann in dem Interview.
Aber die Akteure lassen einfach nicht locker. Als oberster Verteidiger der deutschen Spargelproduktion hat sich nunmehr immerhin der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl aus Baden-Württemberg zu Wort gemeldet – mit einer klaren Ansage: "Ich möchte auch in Zukunft eine regionale Spargelproduktion haben". Und die sieht er in ernsthafter Gefahr, wenn denn ein Mindestlohn auch für die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft Anwendung finden soll. Für den Erhalt "regionaler, heimatnaher Produktion gesunder Nahrungsmittel" brauche es Ausnahmen vom Mindestlohn, so Strobl. Und überhaupt – es gebe eigentlich gar keinen Bedarf für einen Mindestlohn in diesem Bereich. Strobl macht setzt sich fast schon rührend "für" die osteuropäischen Erntehelfer ein:
»... wissen Sie, ob das Hungerlöhne sind, da mache ich auch ein Fragezeichen dahinter. Die Saison-Arbeitskräfte, die aus Osteuropa zu uns kommen, die leben ja nicht einen Monat von dem, was sie hier in wenigen Wochen verdienen, sondern die ernähren ihre Familie ein ganzes Jahr in ihrem Heimatland. Sie sind sehr froh, dass sie diese Arbeit bei uns machen können, und sie wären sehr unglücklich, wenn sie diesen Arbeitsplatz bei einem Landwirt, bei einem Bauern in Deutschland in der Zukunft nicht mehr hätten.«
Und dann bringt er das folgende Argument:
»... ich möchte schon, dass wir auch in Zukunft eine regionale Produktion von Erdbeeren, von Kopfsalat, von Gurken und von Spargel haben und wir das nicht alles aus dem Ausland importieren müssen. Das betrifft die Saison-Arbeitskräfte und da brauchen wir zumindest eine Übergangsregelung, weil ansonsten eine landwirtschaftliche Produktion dieser Sonderkulturen in Deutschland nicht mehr möglich ist.«
Der eine oder die andere wird an dieser Stelle fragen, sind nicht in bestimmten Branchen genau die von ihm geforderten Übergangsregelung immerhin bis Ende 2016 vorhanden bzw. möglich? Genau das ist das Problem. Denn die Landwirtschaft könnte schon längst eine solche Übergangsregelung haben, die immerhin eine mehrjährige Übergangsfrist eröffnen würde, wenn denn die Arbeitgeber bereit gewesen wären, mit der Gewerkschaft einen entsprechenden Tarifvertrag abzuschließen. Dazu schauen wir mal bei der IG Bauen-Agrar-Umwelt nach:
Anfang des Jahres 2013 konnte man diese Meldung von der Gewerkschaft vernehmen: "Landwirtschaft: Lohnplus von 6,5 Prozent / Sonderbehandlung für Saisonarbeiter abgeschafft". Darin findet man dann den Hinweis, dass
»... es keine Tarifverträge Saisonarbeiter mehr geben wird ... „Saisonarbeiter sind Arbeitskräfte wie alle anderen. Es gibt keinen Grund, für einen gesonderten Tarifvertrag“ ... Künftig fallen Arbeiten, die ohne Berufsabschluss oder Anlernzeit ausgeübt werden, unter die allgemeinen Tarifverträge in der Landwirtschaft. Die Tarifvertragsparteien einigten sich auf eine stufenweise Anhebung der Lohnuntergrenze. Zum 1. Dezember 2017 steigen die Löhne nach und nach von derzeit 6,10 Euro (Ost) bzw. 6,70 (West) auf einen Stundenlohn von 8,50 Euro.«
Ja, da haben wir doch eine Übergangsregelung, einen stufenweisen Anpassungsprozess, der erst 2017 zu dem nunmehr als gesetzlicher Mindestlohn vereinbarten 8,50 € pro Stunde führen wird. Wo ist dann das Problem? Genau solche Übergangsregelungen sind doch im Mindestlohngesetz ausdrücklich vorgesehen?
Aufklärung verschafft uns eine weitere Pressemitteilung der Gewerkschaft, die vor wenigen Tagen unter der folgenden Überschrift veröffentlicht wurde: "Arbeitgeber der Landwirtschaft blockieren Tarifverhandlung. Keine Ausnahme vom Mindestlohn für Saisonarbeiter". Dem kann man entnehmen, dass die IG BAU die Arbeitgeber der Landwirtschaft und des Gartenbaus auffordert, »endlich Verhandlungen über einen Mindestlohntarifvertrag für diese Branchen aufzunehmen. „Unsere Geduld ist langsam zu Ende. Bereits im März dieses Jahres haben wir den beiden Arbeitgeberverbänden angeboten, einen solchen Tarifvertrag abzuschließen“, sagte Harald Schaum, Stellvertretender IG BAU-Bundesvorsitzender und Verhandlungsführer für die grünen Branchen ... Doch die Arbeitgeber blockieren die Tarifverhandlungen und spielen lieber auf Zeit.«
Die Verhandlungen sind notwendig, um die im neuen Mindestlohngesetz geplante zweijährige Übergangsfrist bis Ende 2016 zu nutzen und die Löhne für ungelernte Arbeitnehmer an den gesetzlichen Mindestlohn heranzuführen.
Doch der Gesamtverband der Deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände (GLFA) bewegt sich nicht, bzw. stellt sich tot, er will noch nicht einmal ein Verhandlungsdatum vereinbaren.
Es liegt nahe, dass die Arbeitgeberseite hier voll auf Risiko spielt bzw. auf das Prinzip Hoffnung setzt, zum Beispiel auf Politiker wie den Herrn Strobl aus Baden-Württemberg, der sich für sie in die Bresche wirft. Aber so wie man jede Spiel auch verlieren kann und Hoffnung oftmals bitter enttäuscht wird, so kann es auch in diesem Fall ausgehen. Der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende bringt es auf den Punkt:
»Diese Hinhaltetaktik macht nur Sinn, wenn Saisonarbeiter vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen werden. Sollten die Arbeitgeber darauf spekulieren, betreiben sie ein riskantes Spiel. Am Ende kommt diese Ausnahme nicht und sie stehen ohne Branchenlösung da. Dann gilt ab 2015 der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro auch für Erntehelfer.«
Bereits im April wurde in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite darauf hingewiesen, dass die Realitäten in der Landwirtschaft durchaus schwierig sind, vor allem aufgrund des unabweisbar brutalen Preisdrucks, der auf den Produzenten lastet. Aber es wurde auch darauf hingewiesen, dass es bereits heute nicht wenige Landwirte gibt, die ihren Saisonarbeitern gerade aufgrund der existenziellen Abhängigkeit von der Ernte in einem kurzen Zeitraum des Jahres so ordentliche Entgelte zahlen, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro kein Thema ist. Diese andere Seite illustriert der Deutschlandfunk-Beitrag "Gesetz zum Mindestlohn - 8,50 Euro für (fast) jeden" von Tonia Koch am Beispiel des Gartenbaubetriebs von Erwin Faust in Saarlouis: »Ohne die rumänischen Mitarbeiter, die im Schnitt jeweils vier Monate vor Ort sind, könne der Betrieb einpacken, sagt Erwin Faust. Er brauche vor allem Kontinuität und Leute, die wissen, was zu tun sei auf dem Feld und in den Gewächshäusern ... "und da machen wir auch Lohnkonzessionen, weil am Ende die Leistung auch herausspringt. Das Problem ist, wir müssen anstinken gegen die, die die Leute in den Container stecken und fürs halbe Geld arbeiten lassen. Was heißt das letztendlich? Die Supermärkte lachen sich kaputt, die Discounter lachen sich kaputt, weil sie billiges Zeug kaufen können." Der zum Teil ruinöse Wettbewerb über die Löhne sei der falsche Ansatz. Der Gemüsebauer hält daher eine Mindestlohnregelung für überfällig. "Wir zahlen auch über Mindestlohn unsere Leute. Der geringste Bruttolohn, den wir haben, liegt bei 9,20 Euro, der geringste, für Aushilfen. Da steh' ich voll dahinter, und das ist auch bei unseren Rumänen so."«
Fazit: Soweit man das derzeit beurteilen kann, wären die Arbeitgeber gut beraten (gewesen), auf eine tarifvertragliche Übergangslösung mit der Gewerkschaft zu setzen, statt dem Prinzip Hoffnung zu folgen. Angesichts der breiten Kritik an den bereits im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen ist es mehr als unwahrscheinlich, dass die Gruppe der Saisonarbeiter aus dem Mindestlohn-Anwendungsbereich herausgenommen wird, denn unabhängig von der Frage, ob das europarechtlich überhaupt zulässig ist, besteht dann natürlich die Gefahr, dass das als Präzedenzfall für andere Branchen gewertet und verwendet wird. Darauf wird sich die Bundesregierung bzw. der Teil von ihr, der die Umsetzung des Mindestlohngesetzes zu verantworten hat, mit Sicherheit nicht einlassen. Am Ende des Tages könnten die Arbeitgeber mit weitaus weniger dastehen, als möglich gewesen wäre.