Immer mehr Beschäftigte in Deutschland gehen mehreren Jobs nach. In den vergangenen zehn Jahren nahm die Zahl der Mehrfachbeschäftigten nahezu kontinuierlich um rund eine Million zu. 3,2 Millionen Deutsche hatten im vergangenen März mehrere Jobs. Das berichtet beispielsweise dieser Artikel: "Arm trotz Arbeit" - mehr als drei Millionen haben mehrere Jobs. Die Zahlen stammen von der Bundesagentur für Arbeit. Hintergrund ist eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag. "Mehrere Jobs" zu haben kann nun in ganz unterschiedlichen Fallkonstellationen stattfinden - beispielsweise hat jemand zwei sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen (das betrifft mehr als 310.000 Arbeitnehmer). Für die Variante der Ausübung einer ausschließlichen geringfügigen Beschäftigung und mindestens einer weiteren geringfügigen Beschäftigung (die aber insgesamt die 450 Euro-Schwelle nicht überschreiten dürfen), werden 260.000 Personen ausgewiesen. Die Gruppe der Mehrfachjobber wird dominiert von der Kombination einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einer geringfügig entlohnten Beschäftigung, also einem Minijob. Das betrifft mehr als 2,6 Mio. Menschen. Ganz offensichtlich spielen die Minijobs hier eine ganz zentrale Rolle.
Und bei den Minijobs muss man zwei große Lager unterscheiden - zum einen die Menschen, die ausschließlich geringfügig, also bis zur 450 Euro-Schwelle beschäftigt sind und zum anderen die, bei denen neben einer anderen, "normalen" Beschäftigung zusätzlich ein Minijob ausgeübt wird.
»Die Zahl der Erwerbstätigen, die ausschließlich in einem Minijob arbeiten ..., sei es aus freien Stücken, oder weil sie nichts anderes finden, sinkt langsam, aber stetig. Die Rückgänge werden aber durch jene Erwerbspersonen mehr als kompensiert, die neben ihrer Haupttätigkeit noch einen Minijob als Zweitjob (oder Drittjob) bekleiden«, so Markus Krüsemann in seinem Beitrag Die Minijobs im Nebenjob breiten sich auch 2017 weiter aus.
Interessant ist ein differenzierter Blick auf die Zuwächse bei den Nebenjobs, den Krüsemann liefert:
»Ende des ersten Quartals dieses Jahres hat die Bundesagentur für Arbeit 2,63 Mio. Erwerbstätige ausgewiesen, die einer zusätzlichen geringfügigen Beschäftigung nachgingen. Gegenüber dem Vorjahresmonat sind das noch einmal gut 100.000 mehr, was einer Steigerung um 4,1 Prozent entsprach. Die Zuwächse erstrecken sich über beide Geschlechter und alle Altersgruppen, wobei die Gruppe der 65-Jährigen und Älteren mit einem Plus von 11,2 Prozent am stärksten zulegte.«
Die Zahl der Nebenjobber im Rentenalter wächst überdurchschnittlich - wie übrigens auch die der 65-Jährigen und Älteren bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten, wo es ansonsten Rückgänge gegeben hat.
Das wird den einen oder anderen an eine Debatte erinnern, die vor mehr als einem Jahr hier erwähnt und analysiert wurde: Auf schwarz-weiße Reflexe ist Verlass - am Beispiel minijobbender Rentner, so ist ein Beitrag vom 30. August 2016 überschrieben. Damals ging es um solche Zahlen: Ende 2015 übten bereits 943.000 Senioren ab 65 Jahre einen Minijob aus – ihre Zahl stieg damit seit 2010 um 22 Prozent, im Vergleich zu 2005 sogar um 35 Prozent. Vor zehn Jahren arbeiteten nur 698.000 Senioren in einem Minijob ... Besonders drastisch ist der Zuwachs bei den Rentnern ab 75 Jahre: Ende vergangenen Jahres waren knapp 176.000 Senioren dieser Altersgruppe mit einem Monatsverdienst von maximal 450 Euro geringfügig beschäftigt – mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr 2005. Und angereizt durch diese Daten brach sofort eine dieser Schwarz-Weiß-Debatten los: Der dramatische Anstieg der minijobbenden Rentner in den vergangenen zehn Jahren zeige: Immer mehr Rentner müssten sich die Rente aufbessern. So die eine Seite. Das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat sich dann sogleich für die andere Seite an die Front geworfen: Aus Studien wisse man: "Vielen Senioren macht ihr Minijob Spaß". Andere würden mehr Kontakt zu anderen Menschen wollen und würden deshalb ein paar Stunden in der Woche arbeiten gehen. Nach Wahrnehmung von Holger Schäfer vom Arbeitgeber-Institut machen viele Rentner einen Minijob, "weil sie mehr konsumieren wollen" und führt als Beleg an, dass es die meisten älteren Minijobber nicht im Osten, sondern in Süddeutschland gibt – also in einer Region, in dem viele Menschen eine gute Rente bezögen.
Den gleichen Mechanismus erleben wir nun auch wieder. Unter der an sich richtigen Überschrift Immer mehr Menschen haben mehrere Jobs folgt dann diese Behauptung: »In Deutschland können 3,2 Millionen Menschen von einem Beschäftigungsverhältnis allein nicht leben.« Und die Urheberin der Anfrage im Bundestag, mit der die Zahlen an die Oberfläche der öffentlichen Aufmerksamkeit gespült wurden, wird so zitiert:
»Die Linken-Fraktionsvize Sabine Zimmermann, die die Anfrage gestellt hatte, kritisierte: "Für immer mehr Beschäftigte reicht das Einkommen aus einem Job nicht mehr aus. Der überwiegende Teil dürfte aus purer finanzieller Not mehr als einen Job haben und nicht freiwillig." Viel zu viele Menschen seien arm trotz Arbeit.«
Da kann die andere Seite natürlich nicht an sich halten und der bereits erwähnte Holger Schäfer vom Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft meldet sich mit dieser Pressemitteilung zu Wort: Nebenerwerbstätigkeit: Kein Indiz für Armut. Für ihn sieht die Welt so aus: »3,2 Millionen Menschen in Deutschland gehen zusätzlich zu ihrem Hauptjob einer Nebenbeschäftigung nach – rund eine Million mehr als vor zehn Jahren ... Ein Grund zur Aufregung ist das aber nicht: Nebenjobber sind sogar oft sozial besser gestellt als andere Beschäftigte.« Nanu. Das wird jetzt manchen überraschen. Es sind also gar nicht die armen Schlucker, die zwei oder drei Jobs machen müssen, sondern sozusagen die bessere Hälfte? Aber warum werden es dann immer mehr? Haben wir es vielleicht mit Workaholics zu tun, denen ein Job partout nicht ausreicht? Man muss weiterlesen:
»Dass die Anzahl der Nebenerwerbstätigen steigt, dürfte vor allem mit der verbesserten Arbeitsmarktlage zu tun haben – und weniger mit niedrigen Löhnen im Hauptjob. Dafür spricht auch die regionale Verteilung: Mit 10,5 Prozent finden sich im prosperierenden Baden-Württemberg wesentlich mehr Nebenerwerbstätige als in den neuen Bundesländern (4,1 Prozent), wo die Löhne deutlich niedriger sind.«
Zu der regionalen Verteilung der Minijobs hat sich auch die Minijob-Zentrale zu Wort gemeldet: Große Unterschiede bei der Anzahl der Minijobber in den Bundesländern, so ist deren Pressemitteilung vom 05.10.2017 überschrieben:
»Setzt man die Zahl der Minijobber in Relation zu der Zahl der Einwohner im jeweiligen Bundesland, liegt ... Süddeutschland vorne: In Baden-Württemberg haben 9,68 Prozent der Einwohner einen Minijobber im gewerblichen Bereich. In Bayern sind es 9,30 Prozent. Bremen mit 9,28 Prozent und NRW mit rund 9 Prozent Minijobbern liegen knapp dahinter. Schlusslicht: Sachsen-Anhalt. Hier haben nur 4,20 Prozent der Einwohner einen Minijob im gewerblichen Bereich.
Bei Minijobbern in Privathaushalten liegt Rheinland-Pfalz vorne. Hier gehen 0,50 Prozent der Einwohner einer haushaltsnahen Tätigkeit im Minijob-Verhältnis nach. Es folgt NRW mit 0,46 Prozent. In Thüringen hingegen haben lediglich 0,13 Prozent der Einwohner einen Minijob im Privathaushalt.«
Und damit auch ganz sicher die beabsichtigte Botschaft hängen bleibt, schiebt der IW-Experte nach: »Befragungsdaten aus dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) zeigen, dass Vollzeitbeschäftigte mit Nebenerwerb sogar ein höheres Bruttoeinkommen und einen höheren Stundenlohn haben als Vollzeitbeschäftigte ohne Nebenerwerb.« Da muss man schon genau hinschauen, mit welchen Kategorien er da hantiert. Was ist mit den vielen Teilzeitbeschäftigten, die zusätzlich einen Minijob ausüben? Die tauchen - sicher ganz unbeabsichtigt - nicht in seiner Auswahl auf.
Das Argument mit den höheren Anteilen im "reichen" Südwesten unseres Landes kann man durchaus kritisch betrachten: Gerade unter dem großen Durchschnittsdach "wohlhabend" verbergen sich im Süden eben auch individuell viele Haushalte bzw. Einzelpersonen, die es schwer haben, über die Runden zu kommen. Außerdem sind sie hier auch mit einem deutlich höheren Preisniveau, man denke nur an die Wohnkosten als eine Komponente, konfrontiert. Sicher sind gerade unter den Arbeitnehmern mit einem Nebenjob viele, die oberhalb der offiziellen Einkommensarmutsschwelle segeln. Aber wenn ein Teil von ihnen nur mit Nebenjobs einen bescheidenen Lebensstandard aufrechterhalten kann, dann hat das eine andere Qualität, als wenn man davon ausgeht, dass die vor lauter Spaß am Schaffen zum Zweit- oder gar Drittjob greifen.
Wenn er ehrlich wäre, der Experte, dann müsste er konstatieren, dass wir derzeit schlichtweg nicht halbwegs gesichert wissen, wie sich die ganz unterschiedlichen Motive bei den Nebenjobbern darstellen.
Markus Krüsemann, der dem anderen Lager zuneigt, verweist wenigstens darauf, dass es »noch weitgehend unklar ist, welche Motive die Menschen im Einzelnen dazu treiben, neben ihrem Hauptjob noch einer oder mehrerer weiterer Beschäftigungen nachzugehen«, um daran anschließend dann doch die These zu vertreten, »dass die Zunahme von (nicht immer freiwilliger) Teilzeitarbeit wie auch die Ausweitung prekärer und schlecht entlohnter Jobs die so Erwerbstätigen dazu treibt, es als Multijobber zu versuchen, um das benötigte Einkommen zu erzielen.« Die ist nicht unplausibel, aber eben auch nur eine Vermutung.
Aber was wir wissen (können), ist ein wichtiger ökonomischer Mechanismus, der dazu beiträgt, dass wir es bei den Neben- und Multijobbern mit einer wachsenden Personengruppe zu tun haben. Das Institut der deutschen Wirtschaft bringt das mit Blick auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einem zusätzlichen 450 Euro-Job so auf den Punkt:
»Sie profitieren davon, dass der Nebenverdienst weder steuerpflichtig noch mit Sozialabgaben belegt ist. Demgegenüber wären bei einem alleinstehenden Durchschnittsverdiener mit 3.500 Euro brutto für eine Lohnerhöhung von 300 Euro im Hauptjob 153 Euro Steuern und Abgaben zu zahlen. Der Nebenjob kann also deutlich lukrativer sein, selbst wenn dort nur geringe Stundenlöhne erzielt werden.«
Da sind wir bei des Pudels Kern angekommen. Wir werden konfrontiert mit einer überaus wirkkräftigen Anreizmaschine, diese spezielle Beschäftigungsform zu nutzen. Wirkkräftig deshalb, weil hier faktisch eine "win-win-Situation" hergestellt wird: Die Arbeitgeber profitieren von der Flexibilität, die sie sich mit den Nebenjobbern einkaufen können, die Arbeitnehmer hingegen profitieren wie zitiert ganz handfest, also monetär, in dem sie weniger Abzüge haben.
Der entscheidende Punkt: Die Nebenjobs auf Basis geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse werden von den Steuerzahlern subventioniert - und sie haben eine verzerrende Wirkung auf dem Arbeitsmarkt. Auf den Subventionstatbestand hat beispielsweise Gerhard Bosch schon 2014 in einem Kurzbeitrag für die Zeitschrift "Wirtschaftsdienst" hingewiesen, der unter der Überschrift Nebenjob: Von Steuerzahlern subventioniert veröffentlicht wurde.
Er beginnt seine Argumentation mit einer gelungenen Relativierung der Motivlage für Nebenbeschäftigungen, die sich eben vielgestaltig darstellt - und er liefert zugleich einen Hinweis auf das vom Institut der deutschen Wirtschaft herausgestellte Phänomen, dass es oft nicht die armen Schlucker seien, die einem Zweitjob nachgehen:
»Neben der Haupttätigkeit einen zweiten Job auszuüben, ist nichts Neues. Man denke nur an Landwirte im Nebenverdienst oder Beamte, die zusätzlich Versicherungen verkauften. Auch die Motive waren schon immer vielfältig. Für die einen waren die Zweitjobs lebenswichtig, um ein niedriges Einkommen aufzubessern, für die anderen ein hübscher Nebenverdienst, der – wie bei Chefärzten im Krankenhaus – sogar das Einkommen im Hauptjob um ein Mehrfaches übersteigen konnte. Gerade gut Verdienende haben aufgrund ihres Fachwissens und ihren guten Verbindungen nicht nur attraktive Zuverdienstmöglichkeiten; sie können oft sogar noch die Ressourcen ihrer Haupttätigkeit, wie Arbeitszeit, Sachmittel oder Personal, für ihre zweite Tätigkeit nutzen, was bei Geringverdienern ausgeschlossen ist.«
Aber er sah damals schon auch die andere Seite: »Die Formen der Nebentätigkeiten haben sich aber verändert. Aufgrund der Zunahme von unfreiwilliger und schlecht bezahlter Teilzeitarbeit, werden mehrere Teilzeitjobs kombiniert. Zudem sind viele neue Unternehmensgründer, vor allem die Soloselbständigen, auf der Suche nach einem Zusatzverdienst, um ihr knappes Einkommen aufzustocken.«
Dann kommt Bosch zur Rolle der Politik und des Gesetzgebers, die man ansprechen muss. Denn der Gesetzgeber hat beispielsweise 2003 massiv eingegriffen: »Damals wurden Minijobs auch als Nebentätigkeit zugelassen, was sowohl für Beschäftigte als auch für Unternehmer hoch attraktiv war. Beschäftigte können neben ihrem Hauptjob ... steuer- und abgabenfrei hinzuverdienen. Nebentätigkeiten im Minijob sind damit deutlich attraktiver als Überstunden.«
»Problematisch ist aber die offenkundige Subvention von Nebentätigkeiten auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler über die Minijobs. Sie kann auch als staatliche Beihilfe zur Aufspaltung regulärer Tätigkeiten in viele kleine Jobs bezeichnet werden.« So Gerhard Bosch in seinem damaligen Beitrag.
Bleibt abschließend die Frage: Wie geht es weiter? Die Antwort muss berücksichtigen, welche politische Richtungsentscheidung getroffen wird. Am weitreichendsten sind die Forderungen, bis auf wenige Ausnahmen die geringfügige Beschäftigung als Sonderform zu beenden. Dafür gibt es arbeitsmarktlicht gute Argumente (vgl. zu dieser Debatte und einem konkreten Vorschlag des DGB diesen Beitrag vom 31. Januar 2017: Minijobs diesseits und jenseits vom Mindestlohn sowie darüber hinaus die Frage: Muss und sollte es so bleiben mit den Minijobs?).
Aber seien wir nüchtern - mit der voraussichtlichen Konstellation einer "Jamaika-Koalition" aus Union, FDP und Grünen wird es keinen radikalen Schnitt bei den Minijobs geben. Ganz im Gegenteil - aus der Union wurde bereits die Forderung vernommen, die bisherige Entgeltgrenze von 450 Euro pro Monat anzuheben. Man wolle "den mitwachsenden Minijob" realisieren. So hatte sich der DGB im August 2017 unter der Überschrift Union ebnet Weg zur Minijob-Republik zu Wort gemeldet: »Die Union schlägt in ihrem Regierungsprogramm 2017 – 2021 vor, Minijobs auszuweiten. Eigenen Berechnungen zufolge ... läge dann die Minijobgrenze nicht mehr bei heute 450 Euro, sondern künftig bei bis zu 550 Euro.« Und die FDP schlägt in die gleiche Kerbe. Sie will die Minijobgrenze in einem ersten Schritt auf 530,40 Euro anheben und danach Stück für Stück mit der Lohnentwicklung anpassen. Wenn man das macht, dann würde das natürlich die Attraktivität der geringfügigen Beschäftigung, vor allem in Form der Nebenjobs, weiter steigern. Wie auch in anderen Bereichen der Arbeitsmarktpolitik wird es darauf ankommen, ob und in welchem Ausmaß es den Grünen gelingen kann/wird, solche Entwicklungen zu verhindern.