Vor der heutigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wurde in der Süddeutschen Zeitung in dem Artikel Bundesarbeitsgericht entscheidet über Tricksereien beim Mindestlohn die zentrale Frage klar formuliert: »Wie zahlt man seinen Mitarbeitern den gesetzlichen Mindestlohn, ohne ihnen aber tatsächlich mehr zahlen zu müssen als bisher?« Und weiter erfahren wir zum Sachverhalt: »An diesem Mittwoch nun hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt zum ersten Mal über einen solchen Trick zu entscheiden. Angewandt hat ihn aber kein Friseur, kein Schlachtkonzern oder einer der sonstigen üblichen Verdächtigen, sondern ein staatlicher Arbeitgeber: eine Tochterfirma des Städtischen Klinikums in Brandenburg an der Havel.«
»Die Klägerin arbeitet in der Cafeteria des Hauses, die von der Tochterfirma betrieben wird. Ihre Grundvergütung betrug Anfang 2015 knapp 1400 Euro - was einem Stundenlohn von 8,03 Euro entsprach und damit deutlich unter den 8,50 Euro lag, die seitdem gesetzliche Vorschrift sind. Der Arbeitgeber behob das Problem, indem er das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld nicht mehr im Mai respektive im November zahlt, sondern übers ganze Jahr verteilt. In jedem Monat überweist es jeweils ein Zwölftel. Auf diese Weise ist das Monatsgehalt der Klägerin auf etwas mehr als 1500 Euro und ihr Stundenlohn auf 8,69 Euro gestiegen.«
Die Betroffene wollte sich das nicht gefallen lassen und klagte. Aber sowohl das Arbeitsgericht Brandenburg als auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg haben der Klage nicht entsprochen und das Vorgehen des Unternehmens für zulässig befunden.
Die Argumentation beider Instanzen hat vor allem auf zwei Punkte abgestellt: »Erstens hatten die Klinikmanager mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung geschlossen, die die Verteilung auf zwölf Zahlungen erlaubte. Zweitens überwiesen sie das Geld unabhängig davon, ob jemand tatsächlich in Urlaub fährt oder nur einen Teil des Jahres angestellt ist. Unter diesen Umständen könnten die beiden Sonderzahlungen auf den Mindestlohn angerechnet werden.«
Die Klägerin hingegen argumentiert, das Urlaubsgeld sei zusätzlich zum Lohn vereinbart, und das Weihnachtsgeld belohne die Betriebstreue.
Folglich landete der Streit bei der letzten Instanz, dem Bundesarbeitsgericht. Und der 5. Senat des hohen Gerichts hat dazu heute seine Entscheidung verkündet (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16). Die Mitteilung des Gerichts steht unter der trockenen Überschrift Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohn und der Inhalt kann die Klägerin nicht gefreut haben:
»Der Arbeitgeber schuldet den gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde. Er erfüllt den Anspruch durch die im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis als Gegenleistung für Arbeit erbrachten Entgeltzahlungen, soweit diese dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben. Die Erfüllungswirkung fehlt nur solchen Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung (zB § 6 Abs. 5 ArbZG) beruhen.«
Der Hinweis auf den Beispielfall des § 6 Abs. 5 ArbZG bezieht sich auf die Nachtarbeit ("Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren.")
Und dann kommt der entscheidende Passus:
»Die Klägerin hat aufgrund des Mindestlohngesetzes keinen Anspruch auf erhöhtes Monatsgehalt, erhöhte Jahressonderzahlungen sowie erhöhte Lohnzuschläge. Der gesetzliche Mindestlohn tritt als eigenständiger Anspruch neben die bisherigen Anspruchsgrundlagen, verändert diese aber nicht. Der nach den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bemessene Mindestlohnanspruch der Klägerin für den Zeitraum Januar bis November 2015 ist erfüllt, denn auch den vorbehaltlos und unwiderruflich in jedem Kalendermonat zu 1/12 geleisteten Jahressonderzahlungen kommt Erfüllungswirkung zu.«
Also anders formuliert: Das bislang Zusätzliche zum normalen Lohn kann in dem Moment, wo der bislang normale Lohn zu niedrig geworden ist durch die Mindestlohnregelung, zum Mindesten gemacht werden.
Mit dieser Entscheidung wird die Umwandlung des bisher Zusätzlichen zum normalen Lohn höchstrichterlich sanktioniert. Letztendlich kann man das auch so interpretieren, dass der Mindestlohn eben nur eine Lohnuntergrenze fixiert und nicht mehr. Und die muss erfüllt werden - und das kann eben auch durch die Anrechnung dessen erfolgen, was bislang als zusätzliche Leistung ausgewiesen wurde.
Damit folgt das Gericht der Argumentation des beklagten Unternehmens, die man dem Artikel Sonderzahlungen sind auf Mindestlohn anrechenbar entnehmen kann:
»Der Anwalt der Klinik-Servicegesellschaft, Alexander Schreiber, argumentierte, das Unternehmen würde alle Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag erfüllen und damit gleichzeitig die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro einhalten. "Der Klägerin wird nichts weggenommen", es gehe um das Gesamteinkommen. Das Gesetz sage nicht, dass zum Mindestlohn noch etwas draufzulegen sei.«
Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler sieht im Anrechnen bisheriger Zahlungen den Hauptkonflikt bei der Umsetzung des Mindestlohngesetzes, das seit Anfang 2015 gilt. Das Spektrum reiche vom Urlaubs- und Weihnachtsgeld über Prämien aller Art bis zum Trinkgeld in der Gastronomie, wird der Rechtsprofessor der Universität Bremen in einem Artikel zitiert. „Der Gesetzgeber hat sich über die Anrechnung solcher Zahlungen relativ wenige Gedanken gemacht.“
Es gibt auch Stimmen aus dem politischen Raum, die aufgrund des Urteils des Bundesarbeitsgerichts gesetzgeberische Aktivitäten einfordern:
»Thüringens Arbeitsministerin Heike Werner (Linke) forderte die Bundesregierung auf, das Gesetz nachzubessern. Nach dem heutigen Urteil müsse klargestellt werden, dass Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht auf den Mindeststundenlohn von 8,50 Euro angerechnet werden dürfen. Das Urteil mache deutlich, dass die Regierung "nicht sorgfältig genug gearbeitet hat", sagte Werner. Ihrer Meinung nach sollten Sonderzahlungen den Arbeitnehmern Mehrausgaben ermöglichen, "damit sie in den Urlaub fahren und ihren Kindern zu Weihnachten Geschenke kaufen können".«
Wenn man realistisch bis zynisch veranlagt ist, könnte man einwenden, dass die hier verhandelte Frage ganz viele Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten (müssen), gar nicht betreffen wird. Nicht, weil ihre Arbeitgeber nicht auch gerne eine solche Verrechnung vornehmen würden, sondern weil die Arbeitnehmer schlichtweg gar kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bekommen. So hat beispielsweise das Tarifarchiv des WSI vor einiger Zeit gemeldet: »43 Prozent der Beschäftigten erhalten von ihrem Arbeitgeber ein Urlaubsgeld.« Und zum Weihnachtsgeld wurde berichtet: »Rund 54 Prozent der Beschäftigten in Deutschland erhalten eine Jahressonderzahlung in Form eines Weihnachtsgeldes.« Man kann sich gut vorstellen, dass viele dieser Arbeitnehmer in den hier mindestlohnrelevanten Bereichen arbeiten.