Schon seit vielen Jahren müssen wir einen Verfallsprozess in
Teilbereichen der öffentlichen Dienstleistungserbringung erleben, der sich aus
mehreren Quellen speist. Generell kann man beobachten, dass viele öffentliche
Dienstleistungen quantitativ eingedampft wurden, also immer weniger Leistungen
erbracht werden – nicht verwunderlich ist dabei, dass das vor allem in
personenbezogenen Dienstleistungsbereichen stattfindet, denn die sind mit
entsprechenden Personalkosten verbunden. Tendenziell kann man sagen, dass –
analog zu dem, was in „normalen“ Unternehmen
passiert - diejenigen, die geblieben sind, deutlich mehr machen müssen als
früher. Dieser grundsätzliche Rationalisierungsprozess, der im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen immer schon verzögert abgelaufen ist im Vergleich
zu dem, was viele Arbeitnehmer in der
„normalen“ Wirtschaft erleben mussten und müssen, wird angereichert um eine
weitere Dimension, die ebenfalls eine Kopie dessen ist, was wir in den
profitorientierten Betrieben erleben – immer billiger soll die Arbeit gemacht
werden, zumindest aber Teile der Arbeit. Ob durch Leiharbeit und neuerdings
verstärkt über Werkverträge, über Tarifflucht oder Ausgliederung – im Bereich
der öffentlichen Dienstleistungen läuft das oftmals über Auslagerung aus dem
bislang staatlichen Bereich im Sinne einer Privatisierung, die das dann eben
„billiger“ erledigen können, weil beispielsweise deren Beschäftigte nicht
tarifgebunden arbeiten müssen oder zu niedrigeren Tarifen als die bislang
öffentlich Beschäftigten. Zuweilen auch, weil diese Dritten tatsächlich
ökonomisch effizienter arbeiten als manche nicht nur verkrustet daherkommende
staatliche Einrichtungen.
Das war übrigens auch der Ausgangspunkt einer Entwicklung,
die unter dem Begriff „New Public Management“ Anfang der 1990er Jahre seinen
Siegeszug in den westlichen Gesellschaften angetreten hat. Der Soziologe Colin
Crouch, der den Begriff der „Postdemokratie“ geprägt hat, wirft in seinem
Artikel Kunde statt
Bürger einen kritischen Blick auf das, was da seit den 90er Jahren passiert
ist. 1993 »erschien in den USA das Buch „Der innovative Staat. Mit
Unternehmergeist zur Verwaltung der Zukunft“ von David Osborne und Ted Gaebler.
Die Idee fand in vielen Ländern Anklang, vor allem aber bei der OECD
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).« Da ist sie
wieder, die OECD, die ja auch beispielsweise für die Pisa-Studien
verantwortlich zeichnet, die bekanntlich und wahrlich nicht unumstritten
erhebliche „Reform“prozesse in den Bildungssystemen vieler Länder ausgelöst
hat.
Interessant ist der Hinweis von Crouch, dass es am Anfang
dieser Entwicklung keineswegs um einen Generalangriff auf den öffentlichen
Dienst und den Staat an sich ging. »Keiner der Autoren war ein Feind des
öffentlichen Dienstes. Vielmehr befürchteten sie, dass er ineffizient und
zunehmend unnahbar werde, weil er von jenem Wettbewerbsdruck verschont war, der
privaten Anbietern Anreize zu ständigen Verbesserungen gerade auch im Bereich
der Kundenfreundlichkeit gibt. Sie wollten den öffentlichen Sektor retten,
indem sie Verfahren vorschlugen, um diesem Problem entgegenzuwirken«, so
Crouch. Wie so oft werden wir auch hier mit einer Entwicklung konfrontiert, die
mit einer guten oder zumindest diskussionswürdigen Absicht startet, dann aber
im weiteren Verlauf instrumentalisiert und deformiert wird. Ein zentraler
Ausgangsvorwurf der Vertreter des „New Public Managements“ an den öffentlichen
Dienst alten Zuschnitts war, »er habe seine Nutzer nicht als Menschen, sondern
gleichsam als Objekte betrachtet, weshalb es zu erheblichen Verbesserungen für
diese führen müsse, wenn sie den Status von „Kunden“ erhielten.« Aus einer
unbefangen-naiven Sicht erscheint das als ein durchaus ehrenwertes Anliegen,
das ja auch deshalb auf fruchtbaren Boden gefallen ist, weil viele Menschen,
die in zahlreichen staatlichen Systemen eher die Erfahrung des Bittstellertums
gemacht haben (und machen), der Kundenbegriff assoziiert ist mit der „Kunde als
König“ und damit die Hoffnung auf einen besseren Umgang.
Colin Crouch sieht Großbritannien als einen besonderen
Treiber dieser Entwicklung und die Transformation der Labour Partei unter Tony
Blair, der 1994 Vorsitzender wurde, zu „New Labour“ ist Ausdruck dieser
Geisteshaltung einer auf Markt und Wettbewerb und Abbau klassischer Steuerungsmechanismen
des Staates setzenden Philosophie. In diesem Kontext darf daran erinnert
werden, dass die „Hartz-Kommission“ 2002 umfangreiche Anleihen beim britischen Jobcenter-Modell
gemacht hat, die dann in die Vorschläge der Kommission und in die „Hartz-Gesetze“
eingeflossen sind:
»Den Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als „Kunden“ zu bezeichnen, ist zunächst einmal eine britische Spezialität (die in Deutschland von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wurde). Eine Zeit lang haben die Behörden sogar mit dem Gedanken gespielt, Gefängnisinsassen zu „Kunden“ zu erklären, für die man immerhin die Dienstleistung des Freiheitsentzugs erbringe. Aus den offiziellen Verlautbarungen des britischen Transportwesens indes ist das Wort „Fahrgast“ komplett verschwunden, dort ist nur mehr von „Kunden“ die Rede.«
»Den Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als „Kunden“ zu bezeichnen, ist zunächst einmal eine britische Spezialität (die in Deutschland von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wurde). Eine Zeit lang haben die Behörden sogar mit dem Gedanken gespielt, Gefängnisinsassen zu „Kunden“ zu erklären, für die man immerhin die Dienstleistung des Freiheitsentzugs erbringe. Aus den offiziellen Verlautbarungen des britischen Transportwesens indes ist das Wort „Fahrgast“ komplett verschwunden, dort ist nur mehr von „Kunden“ die Rede.«
Auf die Gefängnisse werden wir gleich noch wieder zu
sprechen kommen.
Dann bringt Crouch einen interessanten Satz: »Das einzige
Merkmal, das den „Kunden“ von anderen Dienstleistungsnutzern unterscheidet, ist
seine Absicht, den fraglichen Service käuflich zu erstehen.« Genau daran kann
man aber mit Blick auf Arbeitslose oder Knastinsassen oder Teilnehmer an einer
Jugendhilfemaßnahme zweifeln.
Ein weiterer Aspekt ist darin zu sehen, dass das
„Kunden“-Konzept unvermeidlich eine Ungleichheit impliziert, die sich mit dem
Konzept eines mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers nicht verträgt. In jedem
privatwirtschaftlichen Unternehmen werden Kunden mit hoher Kaufkraft besser
behandelt als solche mit geringer – es gibt im privaten Sektor keine
Entsprechung zum staatlichen Konzept der Gleichheit vor dem Gesetz, so Crouch.
Man könnte hier eine Ursprungsquelle erkennen für äußerst umstrittene Konzepte
einer Kategorisierung von hilfesuchenden Menschen in der Arbeitsverwaltung nach
ihrer jeweiligen – unterstellten bzw. ihnen zugeschriebenen – „Marktnähe“, aus
der dann ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Ausgestaltung des „Fördern
und Fordern“ resultieren.
Der entscheidende Punkt: Die Differenzierung der Kunden nach
ihrer „Werthaltigkeit“ ist in der normalen Wirtschaft eine absolut logische
Konsequenz, die allerdings ihre Schattengesichtigkeit offenbart, wenn man diese
Logik auf öffentliche Dienstleistungen überträgt. Crouch verdeutlicht das an
einem illustrativen Beispiel aus der britischen Diskussion:
»Im August 2009 erklärte der Konservative Mike Freer, damals Vorsitzender der Bezirksverwaltung des Londoner Stadtbezirks Barnet, die Kommune wolle sich mit ihrem Dienstleistungsangebot künftig am „Modell Ryanair“ orientieren. Die Bezirksverwaltung werde den Bürgern elementare Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und sie für alles darüber Hinausgehende zur Kasse bitten.
So sollten etwa Bewohner kommunaler Altenheime einfache Mahlzeiten kostenlos erhalten, besseres Essen aber nur gegen Aufpreis. Wer eine Baugenehmigung beantragen wolle, könne gegen Entrichtung einer Gebühr in der Warteliste nach vorne rücken, ähnlich wie die Passagiere (oder vielmehr Kunden) von Ryanair per Aufschlag einen bestimmten Sitzplatz erwerben können. In Anlehnung an den Namen einer anderen Fluggesellschaft sprechen Befürworter wie Kritiker des Konzepts auch vom „easyCouncil“ ... In Barnet hat man inzwischen so gut wie alle öffentlichen Aufgaben an Privatfirmen outgesourct, die Mehrzahl an Unternehmen der Capita Group. Bürger, die sich mit einem Anliegen ans Rathaus wenden, werden an eines der vielen Callcenter der Firma verwiesen. Infolgedessen verfügt die Kommunalverwaltung heute nicht mehr über die nötige Sachkompetenz, um die Qualität der fremdvergebenen Dienstleistungen zu beurteilen. Sie beschäftigt beispielsweise keine eigenen Juristen mehr – und geht damit einen großen Schritt weiter, als es Billigfluglinien je auch nur erwägen würden.« (vgl. zu Barnet auch den Artikel Outsourced and unaccountable: this is the future of local government).
»Im August 2009 erklärte der Konservative Mike Freer, damals Vorsitzender der Bezirksverwaltung des Londoner Stadtbezirks Barnet, die Kommune wolle sich mit ihrem Dienstleistungsangebot künftig am „Modell Ryanair“ orientieren. Die Bezirksverwaltung werde den Bürgern elementare Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und sie für alles darüber Hinausgehende zur Kasse bitten.
So sollten etwa Bewohner kommunaler Altenheime einfache Mahlzeiten kostenlos erhalten, besseres Essen aber nur gegen Aufpreis. Wer eine Baugenehmigung beantragen wolle, könne gegen Entrichtung einer Gebühr in der Warteliste nach vorne rücken, ähnlich wie die Passagiere (oder vielmehr Kunden) von Ryanair per Aufschlag einen bestimmten Sitzplatz erwerben können. In Anlehnung an den Namen einer anderen Fluggesellschaft sprechen Befürworter wie Kritiker des Konzepts auch vom „easyCouncil“ ... In Barnet hat man inzwischen so gut wie alle öffentlichen Aufgaben an Privatfirmen outgesourct, die Mehrzahl an Unternehmen der Capita Group. Bürger, die sich mit einem Anliegen ans Rathaus wenden, werden an eines der vielen Callcenter der Firma verwiesen. Infolgedessen verfügt die Kommunalverwaltung heute nicht mehr über die nötige Sachkompetenz, um die Qualität der fremdvergebenen Dienstleistungen zu beurteilen. Sie beschäftigt beispielsweise keine eigenen Juristen mehr – und geht damit einen großen Schritt weiter, als es Billigfluglinien je auch nur erwägen würden.« (vgl. zu Barnet auch den Artikel Outsourced and unaccountable: this is the future of local government).
»Aber es geht nicht anders. Wärter fehlen. Wärter, die Freistunden beaufsichtigen, Wärter, die in den Betrieben aufpassen, Wärter, die bei den Sportstunden kontrollieren. Und wenn Wärter fehlen, müssen die Gefangenen notfalls in ihren Zellen bleiben, 23 Stunden lang. Aus Sicherheitsgründen.«
Im August gab es in Tegel in der Nähe der Essensausgabe eine
Massenschlägerei. „Diese Prügelei wundert mich nicht, das ist die Folge des
Personalmangels“, so wird ein Beschäftigter der JVA zitiert. Und noch ein weiteres
Beispiel aus dem August dieses Jahres, das die ganze Skurrilität der möglichen
Folgen des Personalmangels aufzeigen kann:
»In der JVA Plötzensee griff in der Freistunde ein Gefangener eine Wärterin mit einem Besteckmesser an. Andere Gefangene überwältigten ihn und führten ihn in eine gesicherte Zelle. Gefangene, nicht Wärter. Die standen nicht zur Verfügung.«
»In der JVA Plötzensee griff in der Freistunde ein Gefangener eine Wärterin mit einem Besteckmesser an. Andere Gefangene überwältigten ihn und führten ihn in eine gesicherte Zelle. Gefangene, nicht Wärter. Die standen nicht zur Verfügung.«
Jetzt wird die Arbeit der Vollzugsbeamten schon
„outgesourct“ an die Gefangenen, sorry: an die Kunden der Justizverwaltung. Und
das System kann froh sein, dass das sogar funktioniert.
Und auch die Bedeutung von Arbeit kann man diesem
Fallbeispiel entnehmen:
»Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der Hälfte des geplanten Personals arbeiten. Und wenn für einen der 14 Betriebe ... genügend Aufsichtspersonal fehlt, wird der Betrieb an diesem Tag geschlossen. Die Gefangenen müssen dann in ihren Zellen bleiben. Im ersten Halbjahr 2015 gab es in Tegel an 37 Tagen Betriebsschließungen. 37 Impulse, die eine gefährliche Spirale in Gang bringen können. Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, wer kein Geld verdient, kann sich weniger Kaffee und Zigaretten kaufen, eine wichtige Währung im Gefängnis. Dann kann man auch weniger tauschen. 23 Stunden in der Zelle kommen noch dazu. Kein Kaffee? Keine Zigaretten? Für einen Gefängnispsychologen, der große Anstalten kennt, ist das eine Horrorvorstellung: „Für viele sind Kaffee und Zigaretten ein Ventil. Die dienen auch zum Spannungsabbau. Wenn sie es nicht haben, setzt sie das noch mehr unter Spannung.“ 23 Stunden in der Zelle erhöhen den Druck.«
»Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der Hälfte des geplanten Personals arbeiten. Und wenn für einen der 14 Betriebe ... genügend Aufsichtspersonal fehlt, wird der Betrieb an diesem Tag geschlossen. Die Gefangenen müssen dann in ihren Zellen bleiben. Im ersten Halbjahr 2015 gab es in Tegel an 37 Tagen Betriebsschließungen. 37 Impulse, die eine gefährliche Spirale in Gang bringen können. Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, wer kein Geld verdient, kann sich weniger Kaffee und Zigaretten kaufen, eine wichtige Währung im Gefängnis. Dann kann man auch weniger tauschen. 23 Stunden in der Zelle kommen noch dazu. Kein Kaffee? Keine Zigaretten? Für einen Gefängnispsychologen, der große Anstalten kennt, ist das eine Horrorvorstellung: „Für viele sind Kaffee und Zigaretten ein Ventil. Die dienen auch zum Spannungsabbau. Wenn sie es nicht haben, setzt sie das noch mehr unter Spannung.“ 23 Stunden in der Zelle erhöhen den Druck.«
Aber in der JVA Tegel werden trotzdem Stellen gestrichen, eine
Folge von „Organisations- und Strukturänderungen“. Auch so ein Folterbegriff
für ganz viele Arbeitnehmer heute.
Perspektiven der Fortschreibung dieser Entwicklung?
Outsourcing ist das Stichwort. Dass man unsere 5-Euro-T-Shirts in Myanmar oder
demnächst wo auch immer produzieren lässt, daran haben wir uns ja schon - seien
wir ehrlich - gewöhnt. Und das osteuropäische Billigstarbeiter unser
Hackfleisch machen, da wird zwar die Nase gerümpft, aber die meisten wenden
sich beim Gedanken an Massentötungen im Sekundentakt schnell wieder anderen
Themen zu. Aber wie wäre es mit diesem Beispiel aus der Knast-Welt?
»Zu viele Häftlinge, zu wenig Platz. Norwegen hat ein Problem mit der Unterbringung von Straftätern. Praktisch: In den Niederlanden stehen viele Zellen leer. Oslo mietet kurzerhand ein komplettes Gefängnis - die niederländischen Vollzugsbeamten gleich mit.«
»Zu viele Häftlinge, zu wenig Platz. Norwegen hat ein Problem mit der Unterbringung von Straftätern. Praktisch: In den Niederlanden stehen viele Zellen leer. Oslo mietet kurzerhand ein komplettes Gefängnis - die niederländischen Vollzugsbeamten gleich mit.«
Das kann man dem Artikel Oslo
schickt Straftäter in die Niederlande entnehmen. »Schon seit 2010 sitzen
650 belgische Straftäter in einem von einem Belgier geleiteten niederländischen
Gefängnis in Tilburg ein. Für die Norweger gilt ebenso wie für die Belgier: Im
Strafvollzug gilt das Recht des Heimatlandes. Die Vollzugsbeamten in
Norgerhaven wurden dementsprechend geschult. Sie mussten auch ausreichend
Englisch lernen, um sich mit den Häftlingen verständigen zu können.« Das sind
doch Perspektiven. Für die Apologeten des New Public Management. Die werden
sich freuen und sicher „Effizienzvorteile“ durch „intelligente Arbeitsteilung
aufgrund von Kostendifferentialen“ bestimmen können.
Aber für die Gesellschaft stellt sich die Frage, ob und wie
wir von der Rutschbahn des immer weniger, immer billiger und immer schlechter
in der öffentlichen Daseinsvorsorge runterkommen können.