Freitag, 21. August 2015

Der Mindestlohn läuft, bestimmte Arbeitnehmer dürfen sich monetär freuen und die Zahlen sprechen für sich

Man darf und muss an ihn erinnern – der allgemeine gesetzliche Mindestlohn, der seit dem 1, Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde und der davor und in den Wochen danach für intensive Debatten in Deutschland gesorgt hat. Aufgrund der überaus pessimistischen Vorhersagen zahlreicher ökonomischer Auguren wurden gewaltige negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in den Raum gestellt. „Job-Killer“ und andere Schmähzuschreibungen machten die Runde. Aber schon damals gab es auch zahlreiche und gewichtige Gegenstimmen, die darauf verwiesen, dass es sich bei den meisten „Prognosen“ um interessengeleitete Stimmungsmache gegen das Instrument staatlicher Mindestlohn an sich handelt und – weitaus bedeutsamer – dass viele damals hysterische Wirtschaftswissenschaftler schlichtweg die andere Seite der Medaille vergessen haben, dass höhere Löhne eben nicht nur höhere Kosten darstellen, sondern gerade in dem Segment, in dem der Mindestlohn greift, also bei den unteren Einkommensgruppen, immer auch einen hohen Nachfrageeffekt und damit beschäftigungschaffende Wirkungen entfalten.

Nunmehr kann man der Print-Ausgabe der FAZ vom 18.08.2015 unter der Überschrift „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ lesen: »Vor allem Geringqualifizierte bekommen nun deutlich mehr Geld. Das Gastgewerbe stellt sogar mehr Personal ein.« So einen eindeutigen Befund kann man natürlich nur zähneknirschend stehen lassen und deshalb schiebt man sogleich mit Sorgenfalten gezeichneter Stirn hinterher: »Wird das so bleiben?« Trotzdem stellt man zuerst einmal die Fakten dar: »Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro je Stunde hat vielen Geringverdienern zu Jahresbeginn einen Lohnsprung beschert. Un- und angelernte Arbeiter haben ihren Bruttoverdienst deutlich gesteigert, vor allem in Ostdeutschland; in einigen Branchen legten die Löhne sogar um mehr als 10 Prozent zu. Verdienste, die schon zuvor über 8,50 Euro lagen, haben demgegenüber kaum auf den Mindestlohn reagiert.« Und woher hat die FAZ diese Zahlen? Von der Bundesbank, die in ihrem Monatsbericht für den August 2015 die Befunde der vierteljährlichen Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes aufgearbeitet hat.

Die Ausführungen der Bundesbank finden sich in dem Beitrag Konjunktur in Deutschland und dort im Abschnitt „Beschäftigung und Arbeitsmarkt“ auf den Seiten 54 ff. Dort kann man nachlesen:

»Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich im Frühjahr 2015 weiter verbessert. Die Erwerbstätigkeit und die Zahl offener Stellen sind erneut gestiegen, die Arbeitslosigkeit hat abgenommen. Die seit dem Jahresbeginn auffallend kräftige Verringerung der Minijobs ist im Verbund mit der vergleichsweise starken Expansion sozialversicherungspflichtiger Stellen in einigen eher personalintensiven Dienstleistungssektoren wohl weitgehend als Anpassungsreaktion der Unternehmen auf das Inkrafttreten des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zu interpretieren. Abgesehen von diesem Umwandlungseffekt erscheinen die Auswirkungen der Mindestlohneinführung auf das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen im aktuell günstigen Konjunkturumfeld sehr begrenzt.«

Noch in den zurückliegenden Wochen war der erkennbare Rückgang der Zahl der Minijobber sofort (fehl)interpretiert worden im Sinne der vorhergesagten zerstörerischen Wirkung auf die Beschäftigung. Allerdings hatte ich beispielsweise bereits im April dieses Jahres in einer Expertise für die rheinland-pfälzische Landesregierung (Sell, Stefan: 100 Tage gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015) darauf hingewiesen: »Hinsichtlich des für Januar 2015 ausgewiesenen überdurchschnittlich ausgeprägten Rückgangs der Zahl der geringfügig Beschäftigte ... kann man zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls von einem „Wegfall“ von Arbeitsplätzen sprechen. Denn wir wissen derzeit schlichtweg nicht, ob die Stellen ersatzlos gestrichen wurden oder ob es auf der betrieblichen Ebene nicht Substitutionsprozesse gegeben hat, beispielsweise ein „Upgrading“ bisher auf geringfügiger Basis Beschäftigter in den Bereich der „normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teil- oder gar Vollzeit.« (S.3). Und weiter: »... es kann und wird in einem bislang allerdings noch nicht bestimmbaren Umfang zu einer Verschiebung von der bisherigen geringfügigen in den teilzeitigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbereich gekommen sein oder aber eine Aufstockung der Arbeitszeit bei anderen in den Unternehmen Beschäftigten bei Wegfall des Minijobs.« Vor dem Hintergrund der seit längerem insgesamt positiven Verfasstheit des deutschen Arbeitsmarktes »kann ein Teil der jetzt ausgewiesenen Rückgange bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten auch damit zusammen hängen, dass Menschen, die bislang unfreiwillig auf Minijobs verwiesen waren, weil sie eigentlich mehr und „normal“ arbeiten wollen, die sich verbessernde Beschäftigungssituation nutzen, um in „normale“, also sozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder gar Vollzeitbeschäftigung zu wechseln und die individuelle Arbeitsmarktlage damit deutlich zu verbessern.« (S. 4)


Die Abbildung zur Arbeitsmarktentwicklung (Quelle: Bundesbank Monatsbericht August 2015, S. 55) verdeutlich auf einen Blick die insgesamt positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den zurückliegenden Jahren. Hinsichtlich der hier interessierenden Mindestlohn-Thematik fördert die Bundesbank aus der Statistik einige interessante Aspekte ans Tageslicht, vor allem hinsichtlich der bereits angesprochenen Minijobs, deren Rückgang von den Mindestlohn-Kritikern als „Beleg“ für die arbeitsplatzzerstörende Wirkung der staatlichen Lohnuntergrenze angeführt wird. Da kommt man mit den nunmehr vorliegenden Daten zu ganz anderen Ergebnissen, die bereits frühzeitig – siehe das Zitat aus meiner Expertise zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Zahlen noch nicht vorlagen – als wahrscheinliches Szenario in den Raum gestellt wurde:

»Seit dem Jahreswechsel nimmt der Umfang der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gerade in denjenigen Dienstleistungsbranchen recht stark zu, in denen ein überdurchschnittlicher Anteil des Personalbestandes geringfügig beschäftigt ist. So war im Handel, im Gastgewerbe, bei Verkehr und Lagerei sowie im Sektor Sonstige Dienstleister der Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung während der letzten sechs Monate, für die Daten vorliegen und in denen Beschäftigungseffekte durch die Mindestlohneinführung zu erwarten sind, in saisonbereinigter Rechnung mehr als doppelt so hoch wie in vergleichbaren Perioden der letzten zwei Jahre. Zwischen November 2014 und Mai 2015 wurden in diesen Branchen mehr als 60 000 Stellen zusätzlich zum bisherigen Aufwärtstrend geschaffen. In diesem Zeitraum kam es in allen Wirtschaftszweigen zusammengenommen zu einem Abbau von über 140 000 Minijobs ... In den betrachteten Wirtschaftsbereichen ist ... etwa die Hälfte aller geringfügig Beschäftigten angestellt. Deshalb legen die Ergebnisse die Schlussfolgerung nahe, dass eine Umwandlung oder Zusammenfassung in sozialversicherungspflichtige Stellen als Reaktion auf die Einführung des allgemeinen Mindestlohns stattgefunden hat.«

Anreize für eine solche Umwandlung sieht die Bundesbank auch in dadurch realisierbaren Lohnnebenkosten. Das sieht dann so aus:

»Bei gleichem Brutto-Stundenlohn fallen für den Arbeitgeber bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nur 20,7% Sozialversicherungsbeiträge an, im Fall von Minijobbern inklusive Pauschalsteuern immerhin 30,9%. Da die geringfügig Beschäftigten selbst allenfalls geringe Abgaben zahlen, konnten die Unternehmen bislang für die hier höheren Abgaben zum Teil durch niedrigere Bruttolöhne kompensiert werden. Für besonders niedrige Löhne besteht diese Möglichkeit durch den Mindestlohn nicht mehr.«

Auf den S. 58-59 ihres Monatsberichts vertieft die Bundesbank dann ihre Auseinandersetzung mit dem Mindestlohn in einem Exkurs: „Erste Anhaltspunkte zur Wirkung des Mindestlohns auf den Verdienstanstieg“, dort auch mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit einzelnen „mindestlohnrelevanten“ Branchen.

»Die Brutto-Stundenvergütungen (ohne Sonderzahlungen) der un- und angelernten Arbeitnehmer in Ostdeutschland stiegen im Winter 2015 mit 9,3% beziehungsweise 6,6% etwa dreimal beziehungsweise doppelt so stark wie in den oberen beiden Leistungsgruppen ... In Branchen, die überwiegend niedrig vergüten, ist im ersten Vierteljahr 2015 gleichfalls ein auffälliger Anstieg zu verzeichnen. Dies gilt wieder insbesondere für die Stundenverdienste von Vollzeitbeschäftigten im östlichen Bundesgebiet. In Westdeutschland ist ein herausgehobener Anstieg nur in einigen Branchen wie der Beherbergung, der Textilherstellung und der Nahrungsmittelindustrie zu beobachten ... In Branchen mit geringer Tarifbindung wie der ostdeutschen Gastronomie und dem Wach- und Sicherheitsgewerbe stiegen die Verdienste im Winterquartal 2015 mit zweistelligen Zuwachsraten gegenüber dem Vorjahr ebenfalls sehr kräftig. Zudem sind bereits in den Vorperioden die Tarife vergleichsweise stark angehoben worden, was auf Vorzieheffekte des flächendeckenden Mindestlohns hindeutet. In den sehr gering tarifgebundenen Wirtschafts- zweigen Heime und Sozialwesen kam es im Winter 2015 ebenfalls zu einem spürbaren Verdienstschub.«

 Selbst die FAZ legt in ihrem Artikel „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ noch einen drauf:

»Vor allem das Gastgewerbe hatte vor der Einführung des Mindestlohns vehement gewarnt, die höheren Lohnkosten würden zu einem starken Personalabbau führen. Umso auffälliger ist aber, was der Branchenverband Dehoga am Montag verkündete: Die Geschäfte der Gastronomen und Hoteliers seien im ersten Halbjahr 2015 gut gelaufen, im Durchschnitt seien die Umsätze um 4,3 Prozent gestiegen. Damit nicht genug: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Hotel- und Gastgewerbe habe ein „Allzeithoch“ erreicht, so der Verband.« Und weiter mit Daten der Bundesagentur für Arbeit: »Für Mai 2015 weist diese 986 600 Beschäftigte im Gastgewerbe aus. Das waren 5,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Im Osten hat sich die Zahl, trotz der besonders starken Lohnkostensteigerung, sogar um 6,1 Prozent erhöht. Eine Erklärung könnte sein, dass die Branche Minijobs in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt hat.«

Das hört sich nicht wirklich nach einem Jobkiller an.

 Vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Daten kommt die Bundesbank zu folgendem Fazit:

»Insgesamt deuten die Ergebnisse der Vierteljährlichen Verdiensterhebung darauf hin, dass die Einführung des Mindestlohns die Lohnstruktur stark beeinflusst hat. Besonders betroffen waren Geringqualifizierte und Beschäftigte in niedrig vergütenden Wirtschaftszweigen in den neuen Bundesländern sowie vermutlich die geringfügig Beschäftigten in ganz Deutschland ... Der vom Mindestlohn in diesen Bereichen am unteren Ende der Entgeltverteilung ausgelöste Lohnzuwachs ist so stark, dass er sich auch in den Durchschnittsvergütungen niederschlägt.«