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Mittwoch, 29. Juli 2015
Die Zahl der Rindviecher geht, die der Übergewichtigen geht auch. Aber Obdachlose sollen nicht gehen. In der Statistik
Nicht selten trifft man in Deutschland auf die verfestigte Meinung, wir seien ein Land der Statistik-Junkies. Alles wird gezählt. Die Zahl der (noch) lebenden Schafe, die der verkauften und versteuerten Zigaretten. Selbst die Umsätze im horizontalen Gewerbe werden mittels Näherungsverfahren geschätzt, was nicht ohne Aufwand abgeht. Das letzte Beispiel verdeutlicht aber auch, dass die Produktion von Zahlen in der Regel - von durchaus immer auch vorhandenen skurrilen Ausnahmen abgesehen - interessengeleitet ist, denn die Abschätzung der Einnahmen der Prostituierten dient als Ausgangsbasis für die Heranziehung dieser Personen zur Entrichtung von Steuern. Da ist es natürlich naheliegend, die These in den Raum zu stellen, auch die bewusste Nicht-Produktion könnte eine interessengeleitete Tat sein - was immer auch zu prüfen wäre vor dem Hintergrund der oftmals zur Verteidigung einer Nicht-Erhebung vorgetragenen Behauptung, aus methodischen Gründen könne man leider die gewünschten Daten nicht liefern.
Es geht konkret um die Menschen ganz unten, um Obdachlose. Die »Wohnungslosen werden nicht gezählt. Ist diese Statistik wirklich nicht machbar? Oder politisch nicht gewollt?«, so die Fragestellung in dem Artikel Obdachlose ohne Statistik von Timo Reuter.
Über 2.000 Menschen sind im beschaulichen Wiesbaden, dem Sitz des Statistischen Bundesamtes, damit beschäftigt, Daten zu sammeln und auszuwerten. Hinzu kommen die vielen Statistischen Landesämter und zahlreiche andere offizielle und halboffizielle Zahlenproduktionsstätten im Land. »Statistiken sollen helfen, die Welt zu verstehen, um sie besser zu machen. Das Bundesstatistikgesetz sieht deshalb vor, dass "gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Zusammenhänge aufgeschlüsselt" werden. Für das Sammeln von "Daten über Massenerscheinungen" bekommt das Statistische Bundesamt einen gesetzlichen Auftrag und wird von anderen Behörden dabei unterstützt«, so Timo Reuter. Hört sich gut an.
Denn er identifiziert ein gesellschaftliche Massenerscheinung, die folglich das Interesse der Statistiker wecken müsste:
»Laut einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) gab es 2012 bundesweit 284.000 Wohnungslose, die über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügten. 24.000 von ihnen lebten als Obdachlose auf der Straße.«
Im August 2013 hat die BAGW ihre letzte verfügbare - aufgepasst - Schätzung der Zahl der wohnungs- und darunter auch der obdachlosen Menschen veröffentlicht (eine Aktualisierung ist für den Spätsommer 2015 angekündigt): Zahl der Wohnungslosen in Deutschland weiter gestiegen. Hier tauchen die 284.000 Wohnungslosen und die 24.000 auf der Straße lebenden Menschen auf - und brisant ist der Hinweis der Bundesarbeitsgemeindschaft Wohnungslosenhilfe, dass man »einen Anstieg der Wohnungslosenzahlen auf 380.000 (+33 %) bis zum Jahr 2016« prognostizieren müsse. Aber - darauf wird ausdrücklich hingewiesen - es fehle eine bundesweite Statistik und man müsse sich mit Schätzungen behelfen. »In Deutschland gibt es keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage. Die BAG Wohnungslosenhilfe e. V. fordert die Bundesregierung auf, umgehend einen entsprechenden Gesetzesentwurf ins Parlament einzubringen«, so die BAG Wohnungslosenhilfe in in dem Beitrag Umfang der Wohnungsnotfälle 2008-2012 auf ihrer Webseite. Eine Forderung, die schon seit vielen Jahren und immer wieder erhoben wird.
Aber warum gibt es dann diese Zahlen nicht? "Es gibt keinen technischen Grund. Die Bundesregierung befasst sich nicht mit dem Thema, weil öffentlich verfügbare Daten das Problem jedes Jahr wieder auf den Tisch legen würden", so wird Thomas Specht, Geschäftsführer der BAGW, in dem Artikel von Reuter zitiert.
»Ob das stimmt, wollten nun zwei grüne Bundestagsabgeordnete wissen. Der sozialpolitische Sprecher Wolfgang Strengmann-Kuhn und der wohnungspolitische Sprecher Chris Kühn haben Mitte Juni im Parlament eine kleine Anfrage gestellt: Warum gibt es keine bundesweite Wohnungslosenstatistik? Und ist diese nicht "die entscheidende Voraussetzung für Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit"?«
Gemeint ist hier die Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag "Einführung einer bundesweiten Wohnungs- und Obdachlosenstatistik" (BT-Drs. 18/5345). Mittlerweile hat die Bundesregierung geantwortet (BT-Drs. 18/5654). Und was kann man der entnehmen?
»Eine Wohnungslosenstatistik sei nicht realisierbar, weil der "finanzielle und bürokratische Aufwand für die Einführung einer neuen Statistik auf Bundesebene mit sehr begrenzter Aussagekraft nicht zu rechtfertigen" sei.«
In der Anfrage der Grünen wird »auf eine Machbarkeitsstudie, die Mitte der neunziger Jahre vom Bundesbauministerium beim Statistischen Bundesamt in Auftrag gegeben wurde, (hingewiesen). In dieser Studie heißt es, dass "ordnungs- und sozialhilferechtlich untergebrachte" Wohnungslose "vergleichsweise unproblematisch" zu zählen seien, nicht aber auf der Straße lebende Obdachlose.« Die Bundesregierung greift nun diesen Hinweis in ihrer Antwort durchaus auf und begründet die Ablehnung einer Bundesstatistik damit, dass eine solche Statistik "von vornherein nur auf eine Teilmenge der Betroffenen beschränkt" wäre. Wobei man darauf hinweisen darf und muss an dieser Stelle, dass die "nur Teilmenge" mehr als 90 Prozent der Wohnungslosen ausmacht.
Und auch Timo Reuter verweist darauf, dass es innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sehr wohl eine offizielle Statistik zur Wohnungslosigkeit gibt - gemeint ist das Bundesland Nordrhein-Westfalen: »Seit Jahrzehnten werden dort Daten von den Kommunen abgefragt, um "ordnungsrechtlich Untergebrachte" zu erfassen, Menschen, die beispielsweise in Notunterkünften wohnen. Seit 2011 werden diese Zahlen ergänzt, indem das Land die freien Träger fragt, wie viele Wohnungslose bei ihnen "sozialhilferechtlich" untergebracht sind. Die Rücklaufquoten betragen fast 100 Prozent.« "Für uns ist die Statistik wichtig, denn was nicht gezählt wird, zählt nicht". Mit diesen Worten zitiert er eine Sprecherin des nordrhein-westfälischen Sozialministeriums.
Über die erneute Abfuhr für das Ansinnen berichtet die BAG Wohnungslosenhilfe unter der Überschrift Bundesregierung lehnt Wohnungsnotfallstatistik weiterhin ab am 29.07.2015. Dabei taucht neben den statistischen Fragen im engeren Sinne - die man als vorgeschoben betrachten muss - ein weiterer, inhaltlich hoch relevanter Aspekt auf:
»Der Auffassung der Bundesregierung, dass Wohnungslosigkeit heute nicht mehr in erster Linie auf einem Fehlbestand an Wohnungen, sondern vielmehr auf einer Reihe individueller, psycho-sozialer Ursachen beruhe, weist die BAG W entschieden als unhaltbar zurück: „Die Entwicklungen am Wohnungsmarkt, und hier besonders die schnell steigende Preise für Mietwohnungen bei einer gleichzeitigen Zunahme der Haushalte mit Niedrigeinkommen ist eindeutig der entscheidende Treiber für zunehmende Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot“, so Specht. „Die zunehmende Verarmung immer breiterer Bevölkerungsschichten und der extrem angespannte Wohnungsmarkt sind hauptsächlich für den massiven Anstieg der Wohnungslosigkeit verantwortlich.“
Bis zum Jahr 2017 werden in Deutschland über 800.000 Mietwohnungen, insbesondere in Ballungszentren, Groß- und Universitätsstädten fehlen, wenn nichts getan wird – so der Deutsche Mieterbund. Da diese fehlenden Wohnungen nicht über Nacht gebaut werden können, zumal der soziale Wohnungsbau praktisch abgeschafft worden ist, werden sich Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit weiter verschärfen.«
Diese Einschätzung ist es denn auch, die zur der Prognose eines Anstiegs der Wohnungslosenzahlen auf 380.000 bis zum Jahr 2016 geführt hat.
Wem das jetzt alles zu trocken, weil zu zahlenlastig und damit zu weit weg von den betroffenen Menschen war, dem sei hier der folgenden passende Artikel empfohlen: Die Obdachlosen vom Bahnhof Zoo von Johannes Laubmeier.
Foto: © Reinhold Fahlbusch