Und in den vergangenen Jahren sind diese Erkenntnisse nicht nur auf den Bildschirm des Gesetzgebers geraten, sondern man hat auch tatsächlich einen ganzen Strauß an Leistungen geschaffen, mit denen verhindert werden soll, dass die pflegenden Angehörigen selbst zu Pflegefällen werden. „Verhinderungspflege“ nennt man das dann. Eine gute Absicht. Und eine, die zugleich auch dazu beitragen kann, erhebliche Folgekosten zu sparen. Wenn denn aus der Absicht auch Wirklichkeit wird. Die Verhinderungspflege ist gewissermaßen das Angebot an pflegende Angehörige, auch mal Urlaub zu machen oder eine Krankheit auskurieren zu können.
Vor diesem Hintergrund muss man dann nicht nur aufhorchen, sondern genau hinschauen, wenn beispielsweise Rainer Woratschka in einen Artikel berichtet: Angehörige rufen Geld nicht ab.: »Für Urlaub oder Ausfall von pflegenden Angehörigen zahlen die Pflegekassen bis zu 1.612 Euro pro Jahr. Doch nur wenige nehmen das Hilfsangebot in Anspruch.« Die Zahlen, die er präsentiert, sind erschreckend: Nach einer Statistik des Bundesgesundheitsministeriums für das Jahr 2014 nutzten »von etwa 1,95 Millionen zu Hause versorgten Pflegebedürftigen lediglich 106.700 die sogenannte Verhinderungspflege zur Entlastung pflegender Angehöriger. Das sind gerade mal 5,4 Prozent. Hochgerechnet ließen sich pflegende Angehörige dadurch Hilfen im Wert von bis zu 2,86 Milliarden Euro entgehen.« Wie kann das sein? Diese Frage muss gestellt und beantwortet werden auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Leistungen am Anfang dieses Jahres sogar noch ausgeweitet wurden, denn seitdem übernimmt die Pflegeversicherung bis zu sechs Wochen lang Ersatzpflegekosten von bis zu 1.612 Euro pro Jahr. Vorher waren es vier Wochen, dafür gab es bis zu 1.550 Euro. Und seit Januar gibt es auch Geld für Haushaltshilfen – und zwar pro Pflegefall bis zu 104 Euro im Monat. Bisher hatten nur Demenzkranke Anspruch darauf, sie erhalten nun bis zu 208 Euro.
Eugen Brysch, der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz wird mit den Worten zitiert, dass „ein riesiges Hilfsangebot fast gar nicht abgerufen wird“. Und auch zwei weitere Zitate von ihm lassen aufhorchen: „Es reicht nicht, schöne Broschüren zu drucken.“ Und mit Blick auf die zu erfüllenden Voraussetzungen, um die Leistungen zu erhalten: „Man darf den Korb nicht so hoch hängen, dass keiner mehr drankommt.“ Er verweist bereits auf eine mögliche Ursache der erheblichen Unterinanspruchnahme: „Den Menschen bloß Formulare in die Hand zu drücken, kann es ja wohl nicht sein.“ Er plädiert dafür, dass Pflegeberater den Ratsuchenden auch beim Ausfüllen von Anträgen helfen.
Was sagen die Pflegekassen zu dem geringen Interesse an bezahlten Pflegeauszeiten? Sie haben dafür noch keine schlüssige Erklärung. Ein Grund könne sein, dass dafür externe Pflegedienste ins Haus kämen, so einer der Hypothesen – und zwar gerade dann, wenn die eigentlich pflegenden Personen nicht da sind. Und ein zeitweiliger Wechsel aus dem häuslichen Umfeld in fremde Einrichtungen müsse ebenfalls gewünscht sein.
Woratschka berichtet in seinem Artikel von einer Studie der Berliner Charité, in der auf der einen Seite der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen herausgearbeitet wurde, aber auch: Knapp ein Viertel der Angehörigen fühlen sich unwohl, wenn plötzlich Fremde die Pflege übernehmen. Viele scheuen sich davor, den Pflegebedürftigen abzugeben oder sich in die eigenen vier Wände schauen zu lassen. Insofern wäre es wichtig, sich zu bemühen, solche Hemmschwellen abzubauen und den Pflegenden die Notwendigkeit von Auszeiten nahezubringen.
Die Problematisierung der Situation der pflegenden Angehörigen wird auch von Susanne Werner in ihrem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift Verloren im Irrgarten des Reha-Antrags thematisiert: »Pflegende Angehörige können gemeinsam mit ihren pflegebedürftigen Familienmitgliedern eine Rehabilitation in Anspruch nehmen. Ein Gutachten des BQS-Instituts macht jetzt auf das komplizierte Antragswesen aufmerksam.« Dagmar Hertle, Ärztin am BQS-Institut für Qualität und Patientensicherheit in Düsseldorf, wird mit diesen Worten zitiert: "Für die pflegenden Angehörigen sind die Zugangswege zu einer Rehabilitation bislang nicht ausreichend etabliert. Ihr Reha-Bedarf dringt bislang nicht bis zu den Kliniken durch."
Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) hat das BQS-Institut untersucht, in wie weit sich die Angebotsstrukturen in der Rehabilitation bereits auf pflegende Angehörige als Zielgruppe eingerichtet haben. Dies muss vor dem Hintergrund des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes (PNG) von 2012 gesehen werden. »Seither ist es für pflegende Angehörige möglich, ihre pflegebedürftigen Eltern, Partner oder Kinder in eine Rehabilitation mitnehmen. Zudem sollten die "besonderen Belange pflegender Angehöriger" bei der Beurteilung eines Antrags besonders berücksichtigt werden.«
Die Studie arbeitet zwei zentrale Problemstellen heraus:
- »In der Praxis zeigt sich, dass Zeit und Aufwand, die mit einem Reha-Antrag verbunden sind, viele pflegende Angehörige überfordern. Das Vorgehen erscheint sehr bürokratisch, wenig transparent und oftmals uneinheitlich ... Oftmals seien Informationen an unterschiedlichen Stellen einzuholen und nicht selten bleibe es dennoch unklar, wer im konkreten Fall der richtige Kostenträger sei. Die Anträge, in denen der Status "pflegender Angehöriger" bislang fehlt, müssten mitunter mehrfach gestellt werden.«
- Hinzu kommt ein erhebliches Problem auf der Angebotsseite: Lediglich 31 der knapp 1.200 Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen haben bereits spezifische Angebote für pflegende Angehörige und deren Pflegebedürftige.