Mittwoch, 17. Juni 2015

Immer mehr Eltern hängen am 150 Euro-Betreuungsgeld-Infusionstropf. Ein Erfolg für die CSU. Oder?


Wer hätte das gedacht? Bei den vielen Widerständen und Schmähungen, die im Vorfeld der Einführung des Betreuungsgeldes ausgesprochen wurden. Und man musste sich schon sehr auf die Suche begeben, um irgendeinen Befürworter dieser neuen Geldleistung zu finden, außerhalb der Grenzen des Freistaates Bayern. Man konnte den begründeten Eindruck bekommen, dass dem Betreuungsgeld keine große Zukunft bevorsteht.  Und jetzt das: Die Inanspruchnahme dieser überaus merkwürdigen "Kompensations"- und "Gratifikationsleistung" steigt und steigt, von Quartal zu Quartal werden neue Höchststände gemeldet. Im ersten Quartal des Jahres 2015 waren es immerhin schon 455.227 "anspruchsbegründende Kinder", die einen Auszahlungsimpuls gesetzt und zum Ausstoß einer Prämie von 150 Euro pro Monat an die Eltern geführt haben. Ein ordentlicher Anstieg in den zurückliegenden Monaten. Nehmt das, ihr Kritiker dieser als "Kita-Fernhalte"- oder auch "Herdprämie" geschmähten neuen Leistung. Müssen wir jetzt bei den Helden aus Bayern, die mit ihrer Starrköpfigkeit nicht nur das angeblich ungeliebte Betreuungsgeld, sondern auch die mehr als fragwürdige und allein europarechtlich ziemlich wackelige Maut durchgesetzt haben, Abbitte leisten? Nicht nach Canossa, sondern nach München pilgern? Nein, müssen wir nicht. Und in so einer Situation hilft es immer wieder, wenn man mal einen genaueren Blick auf die Zahlen wirft.

Genau das hat Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) wieder einmal geleistet und die Ergebnisse seiner Berechnungen mit einigen Erläuterungen veröffentlicht: Betreuungsgeld: Betreuungsgeldquote im ersten Quartal 2015 weiter leicht gesunken, so hat er seine Mitteilung vom 17.06.2015 überschrieben. Aber wieso gesunken - die Zahlen steigen doch? Schröder klärt auf:

Im 1. Quartal 2015 gab es mit 455.277 Kindern, für die Betreuungsgeld bezogen wurde, einen Anstieg gegenüber dem 4. Quartal 2014, als das Statistische Bundesamt 386.439 "anspruchsbegründende" Kinder gezählt hat, einen Anstieg von 17,8 Prozent. Aber:

»Dies bedeutet aber nicht, dass der Anteil der Kinder, für die (der Rechtsanspruch) Betreuungsgeld statt (des Rechtsanspruches) „frühkindliche Förderung in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege ...“ in Anspruch genommen wird, gestiegen ist! Die ... berechnete/geschätzte „Betreuungsgeldquote“ (die Zahl der „anspruchsbegründenden Kinder“ in Bezug zur Zahl der Kinder im „Betreuungsgeldregelalter“) ist auch im ersten Quartal 2015 nicht gestiegen sondern weiter leicht gesunken. Im vierten Quartal 2014 war die „Betreuungsgeldquote“ erstmals gesunken - von 46,3 Prozent im dritten Quartal 2014 auf 45,3 Prozent. Im ersten Quartal 2015 sank die „Betreuungsgeldquote“ weiter leicht auf 44,5 Prozent.«

Die Auflösung des nur scheinbaren Widerspruchs zu den auch in der Abbildung dargestellten stetig ansteigenden Zahlen der Inanspruchnahme des Betreuungsgeldes geht so:

»Der rechnerische Anstieg der „anspruchsbegründenden Kinder“ (17,8 Prozent) war kleiner als der (geschätzte) Anstieg der Zahl der Kinder im „Betreuungsgeldregelalter“ (15. bis 36. Lebensmonat). Dieser Anstieg betrug etwa 20 Prozent, da die Zahl der Geburtsmonate im „Betreuungsgeldregelalter“ von Dezember 2014 bis März 2015 von 15 (August 20121 bis Oktober 2013) auf 18 (August 20121 bis Januar 2014) zunahm. Bis Juli 2015 wird die Zahl der Geburtsmonate und damit auch die Zahl der Kinder im „Betreuungsgeldregelalter“ weiter (auf 22 Geburtsmonate) wachsen.«

Alles klar? Also erst im Juli 2015 wird die maximal mögliche Anzahl an Kindern im "Betreuungsgeldregelalter" erreicht sein, bis dahin wird auch die absolute Zahl an Betreuungsgeldfällen weiter ansteigen (müssen).

Wesentlich relevanter als die absolute Zahl an Betreuungsgeldfällen ist die relative Inanspruchnahme dieser neuen Leistung - und die wird eben mit der "Betreuungsgeldquote" abgebildet. Und wenn man sich die genauer anschaut, dann zeigen sich interessante Strukturen, wie die folgende Abbildung des BIAJ illustriert:



Die erste und offensichtlichste Auffälligkeit ist der enorme Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Westen liegt die Betreuungsgeldquote bei 51,8 Prozent und im Osten nur bei kläglichen 14,5 Prozent. Eine Vielfaches niedriger. Die Menschen in den nun auch nicht mehr so "neuen Bundesländern" zeigen sich als Betreuungsgeldverweigerer. Das passt ja auch noch durchaus in das ideologische Schema vieler. Hier manifestiert sich eben immer noch das Erbe der DDR-Sozialisiation und der damit verbundenen Fokussierung auf die "Fremdbetreuung" in einer Kita, so die Ableitung daraus.

Aber auch in den westdeutschen Bundesländern zeigen sich erkennbare Unterschiede. In den Stadtstaaten Hamburg und Bremen haben wir die niedrigsten Werte mit unter oder knapp an 30 Prozent - während an der Spitze der Inanspruchnahme zwei Bundesländer besonders herausragen. Nicht das schwarze Bayern auf Platz 1 der Inanspruchnahme, wie manche vermuten würden, sondern das grün-rot regierte Ländle hat es auf das Siegerpodest geschafft. Mit 64,5 Prozent.

Dass es weiterhin gute Gründe gibt, an dieser Kopfschütteln-Leistung zu zweifeln und ihre Abschaffung zu fordern, ist bereits an anderer Stelle dargelegt worden, so beispielsweise in  dem Blog-Beitrag Ach, das Betreuungsgeld. 150 Euro eingeklemmt zwischen dem Bundesverfassungsgericht, den nicht nur bayerischen Inanspruchnehmern, den ostdeutschen Skeptikern und logischen Widersprüchen vom 14. April 2015 oder im vergangenen Jahr am 27. Juli 2014 in dem Beitrag Immer diese Jahrestage. Wie wär's mit dem Betreuungsgeld?.

Diese Tage erschien in der Fachzeitschrift des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München eine Bestandsaufnahme des Betreuungsgeldes von mehreren Autoren - die Bewertung ist und bleibt mindestens skeptisch, überwiegend ablehnend:

Hurrelmann, Klaus, Stefan Sell, Miriam Beblo und Notburga Ott, "Debatte um das Betreuungsgeld: Falsche Anreize für eine moderne Familienpolitik?", in: ifo Schnelldienst Heft 11, 2015, S. 7-19
Das 2013 eingeführte Betreuungsgeld wurde im April 2015 von Bundesverfassungsgericht auf seine Rechtsmäßigkeit geprüft. Ein Urteil wird im Sommer 2015 erwartet. Nach Ansicht von Klaus Hurrelmann, Hertie School of Governance, Berlin, ist das Betreuungsgeld ein Rückfall der Familienpolitik in veraltete Muster. Seine Einführung sei ein Symptom für eine unentschiedene, widersprüchliche und die Eltern verunsichernde staatliche Familien- und Bildungspolitik und verstärke die Familienfixiertheit der Erziehung und Bildung, die dringend gelockert werden müsste. Auch für Stefan Sell, Hochschule Koblenz, ist das Betreuungsgeld ein fragwürdiges Unterfangen. Man rutsche zwangsläufig in die Fahrrinne einer Monetarisierung von Familienleistungen, an deren Ende eine Art »Elterngehalt« stehen müsste. Derzeit sei auch von erheblichen Mitnahmeeffekten auszugehen. Nach Ansicht von Miriam Beblo, Universität Hamburg, ist das Betreuungsgeld weder modern noch nachhaltig. Diese familienpolitische Maßnahme führe längerfristig zu einer stärkeren Einkommensungleichheit unter den Eltern, hemme die Erwerbsarbeit von Müttern und befördere die Abkoppelung insbesondere der Einkommensschwächeren vom Arbeitsmarkt. Die Verliererinnen seien die niedriger qualifizierten und geringer verdienenden Frauen. Notburga Ott, Ruhr-Universität Bochum, sieht die monetäre Förderung der Erziehungsleistung der Eltern, die in der Gesellschaft große Zustimmung erfährt, im System von Kindergeld und Elterngeld gut verankert. Dagegen habe die Koppelung des Betreuungsgelds an die Nicht-Inanspruchnahme öffentlich geförderter Kinderbetreuung negative Effekte auf die Frauenerwerbstätigkeit und die Bildungschancen der Kinder.