Das gilt auch oft für die, die man schon im System hatte, die dann aber in die Sanktionsmaschinerie geraten sind. Nun muss man wissen, dass die Sanktionen in der Grundsicherung für die "U 25", kein deutsches U-Boot, sondern das Kürzel für die unter 25-Jährigen, nach der gegenwärtigen Gesetzeslage strenger sind als für die "Normal-Kunden". So kann man dem § 31a unter der Überschrift "Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen" entnehmen: »Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen beschränkt. Bei wiederholter Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig.« Hier die Variante in einfacher Sprache: Wenn der junge Mensch beispielsweise eine "zumutbare Maßnahme" - die das Jobcenter definiert - abbricht (auch wenn es gute Gründe dafür geben mag), dann wird ihm nicht nur etwas von seinen Hartz IV-Leistungen gestrichen, sondern sofort alles bis auf die Leistungen für für Unterkunft und Heizung. Geld fürs Leben? Weg. Und macht er dann noch mal Ärger, dann wird ihm auch das gestrichen. Rien ne va plus. Außer Lebensmittelgutscheine, wenn er oder sie die beantragen würde und nicht schon irgendwohin abgetaucht ist.
In der Praxis der Jobcenter muss man beobachten,
»dass junge Menschen dreimal so häufig sanktioniert werden wie über 25‐Jährige. Jede fünfte Sanktion führt zur völligen Leistungsstreichung. Um ihr Überleben abzusichern, flüchten sich die betroffenen jungen Menschen oft in illegale Beschäftigung oder Kleinkriminalität. Auch ein völliges „Verschwinden“ der Hilfebedürftigen aus dem Hilfesystem kommt vor. So versagt auch die Jugendhilfe diesen jungen Menschen ihre Unterstützung, denn nach herrschender Rechtsmeinung befürchtet sie, die Regelung des SGB II zu unterlaufen, wenn sie für sanktionierte Jugendliche aus dem Rechtskreis SGB II tätig wird. Daher ist es verbreitete Praxis der Jugendämter, sich für diese Jugendlichen als „nicht zuständig“ zu erklären«, so bereits im Mai 2011 der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit in seinem Positionspapier Ausgrenzung junger Menschen verhindern - neue Wege in der Förderung gehen und Jugendsozialarbeit stärken (S. 3).
Es geht hier aber gar nicht um das Thema Sanktionen in der Grundsicherung im engeren Sinne, sondern die Ausführungen sollten vorbereiten auf einen Ausflug in empirisch äußerst unzugängliches Gebiet. Denn die Vodafone-Stiftung hat eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) gefördert, die das gemeinsam mit Off Road Kids gemacht haben, einer seit 1994 aktiven Hilfsorganisation für Straßenkinder in Deutschland. »Die Wissenschaftler wollten herausfinden, warum Tausende von Jugendlichen nicht nur aus dem Schul- und Ausbildungssystem, sondern auch noch aus staatlichen Hilfsstrukturen herausfallen, also nicht dauerhaft Sozialleistungen beziehen«, berichtet Armin Himmelrath in seinem Artikel Deutschlands vergessene Jugendliche. Dabei geht es nicht nur um Einzelfälle - deutschlandweit gehe es um rund 21.000 betroffene Jugendliche, so die Schätzungen.
Übrigens - schon 2011 wurde in dem bereits zitierten Positionspapier des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit darauf hingewiesen:
»Viel zu viele junge Menschen leben am Rand der Gesellschaft. Sie verfügen über keinen Schul‐ oder Berufsabschluss, leben in Armut, haben Schulden, Sucht‐ oder andere psychosoziale Probleme. Einige werden straffällig oder sind wohnungslos; laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Woh‐ nungslosenhilfe gilt dies 2010 für über 24.000 Jugendliche, insbesondere in Großstädten. Die meisten aber sind gar nicht im öffentlichen Raum sichtbar. In der Mehrzahl haben sie bereits mehrere Hilfsangebote durchlaufen und diese häufig durch einen Abbruch beendet ... Insgesamt gelten rund 540.000 Jugendliche und junge Erwachsene als „integrationsgefährdet“, das heißt, es ist sehr ungewiss, ob ihnen zukünftig die Integration in Beruf und Gesellschaft gelingt.«
Die Betroffenen werden als "entkoppelte Jugendliche" bezeichnet - sie fallen durch alle Raster. Himmelrath zitiert in seinem Artikel einen Beispielfall:
"Als ich rausgeflogen bin bei meinem Vater, hab ich gesagt, ich muss mir unbedingt Hilfe holen", berichtete ein 19-Jähriger den Forschern von seinen Erfahrungen. Doch er scheiterte an der Bürokratie: "Jedes Amt hat mich abgewiesen, wollte mir gar nicht helfen. Die haben gesagt: 'Nee, wenn du Schüler bist, musst du selber gucken, wo du dein Geld herkriegst…' Da wollte keiner für mich da sein."
Auf der Suche nach einer Bleibe habe er dann beim Jugendamt angerufen, "und die haben mir gesagt, ich soll in so eine Notunterkunft gehen, wo die Obdachlosen schlafen. Das kam für mich nicht infrage." Er sei dann "überall" gewesen, es gäbe "ja auch Bafög-Ämter, Jugendamt, Arbeitsamt, Jobcenter" - er habe aber keinen Erfolg gehabt.
Die Studie wurde von der Vodafone-Stiftung gefördert und kann hier im Original als PDF-Datei abgerufen werden:
Tatjana Mögling, Frank Tillmann und Birgit Reißig: Entkoppelt vom System. Jugendliche am Übergang ins junge Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland. Düsseldorf, Juni 2015
Nicht überraschend haben wir es natürlich mit ganz unterschiedlichen Biografien zu tun, aber die Studie identifiziert drei Bruchstellen, die dazu beitragen, dass es zu dieser "Entkoppelung" der jungen Menschen von allen Systemen kommen kann, deren Beschreibung - beispielsweise bei Himmelrath in seiner Zusammenfassung - zugleich auch schon Hinweise geben, wo man ansetzen muss:
- Oft kommen die Jugendlichen aus stark belasteten Familien, in denen sie emotionale Vernachlässigung, Verwahrlosung und Gewalt erlebt haben.Hier müsste also genauer hingeschaut werden.
- Haben Jugendliche erst einmal massive Probleme, ist es für sie oft schwierig, die richtigen Ansprechpartner zu finden. Deshalb sollten künftig alle Angebote gebündelt werden, lautet eine der Schlussfolgerungen der Wissenschaftler - damit die Betroffenen nicht mit zu vielen Anlaufstellen und Antragsverfahren zu tun haben, sondern individuell und ohne große Hürden beraten werden.
- Viele der Betroffenen wachsen in der Obhut der Jugendhilfe auf, zum Beispiel in Heimen, doch: Diese Hilfe endet oft abrupt mit dem 18. Lebensjahr - weil die Jugendlichen dann volljährig sind. Aber: Oftmals müsse man zur Kenntnis nehmen, dass sie einfach noch nicht die persönliche Reife haben, um mit dieser neuen Freiheit umzugehen. Die Folge: finanzielle Schwierigkeiten, Alkohol- und Drogenprobleme, falsche Freunde. Hier fordern die Wissenschaftler eine längere Betreuung - wie sie laut Gesetz schon heute möglich ist.
»Das deutsche Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ist grundsätzlich positiv zu beurteilen, wird aber wegen des kommunalen Kostendrucks auf Jugendämter insbesondere bei volljährigen Heimkindern kaum angewandt. Dieser gefährlichen Entwicklung hatte der Gesetzgeber durch die deutliche Erweiterung auf das 21. Lebensjahr und darüber hinaus entgegenwirken wollen. Die kommunale Finanzierung der im Bundesgesetz vorgesehenen Betreuungsmöglichkeiten ist jedoch bewiesenermaßen sehr problematisch. Die Auswirkungen des kommunalen Sparzwangs sind für die gesellschaftliche Integration und persönliche Entwicklung von Jugendlichen in Heimen spätestens ab dem 18. Lebensjahr hoch riskant: Junge Menschen aus Heimen werden aufgrund des Kostendrucks in Kommunen und Landkreisen entgegen pädagogischer Vernunft oftmals unverhältnismäßig früh in eigenen Wohnungen verselbstständigt.« (Mögling et al. 2015: 50).
Übrigens wird das gleiche Problem derzeit auch in Österreich diskutiert. Vgl. hierzu den Artikel Jugendwohlfahrt: Zwischen Absprung und Absturz von Eva Winroither: »Während die meisten Österreicher erst mit mehr als 20 Jahren das Elternhaus verlassen, müssen Kinder in der Jugendwohlfahrt mit 18 auf eigenen Beinen stehen. Nicht alle schaffen den Absprung.«
Der Lösungsvorschlag, den man der Studie entnehmen kann, verdeutlicht zugleich, wie komplex und sich gegenseitig behindernd die gewachsenen Strukturen zwischen den föderalen Ebenen mittlerweile geworden sind, mit denen jungen Menschen eigentlich geholfen werden soll:
»Aus Sicht von Expertinnen und Experten wird daher empfohlen, unter dem Dach des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (ggf. über die Bundesagentur für Arbeit) einen Ausgleichs- und Förderfond zu bilden. Aus diesem Sondertopf sollen Kommunen und Landkreise bei erhöhtem, nicht gedecktem Finanzbedarf ihrer Jugendämter die für die Betreuung von Über-18-Jährigen ggf. fehlenden Betreuungsgelder anfordern dürfen.
In diesem Kontext muss das KJHG (§41) so geändert werden, dass auch einem jungen Volljährigen die Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung gewährt werden muss – und nicht nur soll.«
Man darf und muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das kein neues Thema ist und auch mögliche Lösungsansätze seit langem auf den Tisch liegen. Wir sind hier eher mit einem veritablen Umsetzungsproblem konfrontiert und weniger mit einem der Erkenntnis. Bereits 2011 hat der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit in seinem Positionspapier gefordert:
»Bestandteil eines notwendigen niedrigschwelligen Angebots ist die flächendeckende Einrichtung gemeinsamer, rechtskreisübergreifender Anlaufstellen für Jugendliche in den Kommunen, die in Form von Jugendberatungshäusern, Jugendagenturen o. ä. Hilfen aus einer Hand bieten. Bestehende Beispiele geben bereits heute wertvolle Hinweise zur Organisations‐ und Finanzierungsstruktur.« (S. 6)
Derzeit läuft mehr oder weniger schleppend eine Debatte im Kontext mit einer noch offenen Zielsetzung im Koalitionsvertrag unter der Überschrift "flächendeckende Einführung von Jugendberufsagenturen", die genau an dieser Stelle ansetzt - oder sagen wir besser: ansetzen könnte, wenn man die Jugendberufsagenturen nicht von vornherein zu sehr verengt auf die Fragen im engeren Umfeld einer Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit. Gerade bei den hier angesprochenen Jugendlichen geht es um einen niedrigschwelligen, ganzheitlichen Ansatz der Hilfe, manchmal muss eine längere Aufgang- und Stabilisierungsfunktion gewährleistet werden, bevor man überhaupt an eine Heranführung an Ausbildung oder Arbeit denken kann. Dafür bräuchte man versierte "Kümmerer", eine Jugendberufsagentur in einem erweiterten Sinne könnte dafür ein Dach bieten. Demnächst wird es auf der politischen Ebene nochmals einen Vorstoß in diese Richtung geben. Aber wie gesagt: Wir haben, wenn man ehrlich ist, kein Erkenntnis-, sondern ein sich immer mehr stauendes Umsetzungsproblem. Aber das kennt man ja auch aus anderen Bereichen zur Genüge.
Wem das alles zu abstrakt daherkommt, vor allem angesichts des Aspekts, um welche konkreten Fälle es geht und wie herausfordernd die "niedrigschwellige" Arbeit ist, dem sei dieser Fernsehbeitrag empfohlen, den man als Video abrufen kann:
NDR: Wut im Bauch - Jugend auf der schiefen Bahn (14.03.2014): »300 Jugendliche zwischen 18 und 27 Jahren gehen jährlich im Büro von Rendsburgs Streetworkerin Andrea Wieczorek ein und aus. Ob Ärger mit Behörden, Vorladungen, Haftbefehle - hier können sie offen reden, denn Verschwiegenheit ist oberste Regel. Die Gespräche mit Andrea sind für viele der einzige Weg, nicht auf der schiefen Bahn zu landen - oder wieder von ihr runterzukommen. Freundin, Mutterersatz, Vertraute - für viele ist Andrea die letzte Verbindung zur bürgerlichen Welt. Die Reportage begleitet die Streetworkerin bei ihrer Sisyphusarbeit zwischen den Welten: Regeln und Gesetze auf der einen Seite, die Generation Wut auf der anderen.«