Das nun lässt die Mindestlohn-Gegner natürlich nicht ruhen - und man legt nach im Kampf um die öffentliche Meinungsbildung: Unter der - fast schon weichgewaschen daherkommenden - Überschrift "Zahlreiche ungelöste Probleme" serviert uns eine arbeitgeberfinanzierte Lobbyorganisation eine düstere Bilanz der ersten Tage: »Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland wirkt sich zunehmend negativ auf Unternehmen und Beschäftigte aus. Das ist ein Ergebnis eines Papers der beiden Ökonomen Prof. Knabe und Prof. Ronnie Schöb, die im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt wurde.« Es muss natürlich eigentlich "das im Auftrag ..." und nicht "die" heißen, denn es geht ja um "das Paper", aber auch auf der arbeitgeberfinanzierten Seite gibt es offensichtlich Probleme mit der Rechtschreibung, nicht nur bei der vielgescholtenen Jugend.
Da sind sie also wieder. Natürlich, auch die beiden Professoren können die Realität - die durch weiter abnehmende Arbeitslosigkeit und weiter ansteigende Beschäftigung gekennzeichnet ist - nicht ganz verleugnen, also wechseln sie etwas die Argumentationslinie, ohne die zentrale Botschaft vom Jobkiller Mindestlohn zu verwerfen.
Und das geht so, folgt man den Ausführungen der INSM:
Obwohl es dank guter Konjunktur und robustem Arbeitsmarkt bisher zu keinem messbaren Arbeitsplatzabbau gekommen sei, gebe es keinen Grund zu Entwarnung, so die beiden Wissenschaftler weiter. Der Druck auf den Arbeitsmarkt erfolge erfahrungsgemäß zeitverzögert ... „Die volle Beschäftigungswirkung wird sich erst langfristig einstellen. Hinzu komme, so die Wissenschaftler, dass der Mindestlohn in vielen Fällen Randgruppen am Arbeitsmarkt treffe. Rentner, Studenten oder hinzuverdienende Ehepartner würden im Falle des Jobverlusts nicht in die offizielle Arbeitslosenstatistik eingehen. Eine Messung der negativen Effekte des Mindestlohnes wird deshalb „eine der größten Herausforderungen der kommenden Zeit für die empirische Arbeitsmarktforschung in Deutschland sein", so die Wissenschaftler."
Das Paper von Knabe und Schöb (2015), auf das die INSM Bezug nimmt, findet man im Original unter dem Titel Hundert Tage Mindestlohn: Unternehmen unter Anpassungsdruck. Und die Botschaft der beiden wurde sofort mit publizistischem Flankenschutz versehen - die FAZ hat sich bereit erklärt, das zu machen. Mit einer sehr klaren Ansage in der Überschrift, die natürlich hängen bleiben soll, auch wenn der eigentliche Artikel weitaus vorsichtiger formuliert ist: Der Mindestlohn vernichtet Minijobs. Punkt. Das sitzt. Und das scheint ja auch zu stimmen, wenn man sich nur beschränken würde auf die Zahl der Minijobs, also der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, umgangssprachlich auch als "450 Euro-Jobs" bekannt. Denn, so Dietrich Creutzburg die Zahlen richtig zitierend:
»Die Zahl der Minijobs geht neuerdings stark zurück. Für den Monat Januar zählte die zuständige Meldestelle, die Minijobzentrale, bundesweit 255.000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse weniger als noch für Dezember. Die Gesamtzahl der Minijobs im gewerblichen Sektor ging damit um fast 4 Prozent auf 6,6 Millionen zurück. Zwar gibt es zum Jahreswechsel oft einen Rückgang: Von Dezember 2013 auf Januar 2014 sank die Zahl um 91.000. Nun aber ist der Rückgang fast dreimal so stark. Das könnte bedeuten, dass der zum 1. Januar eingeführte Mindestlohn mehr als 150.000 Minijobs vernichtet hat.«
Das könnte es bedeuten. Das muss es aber nicht zwangsläufig bedeuten. »Offen ist, was aus den Betroffenen wurde. Ob die Minijobs in reguläre Stellen umgewandelt wurden oder wegfielen, lasse sich aus den Zahlen noch nicht ablesen«, so Creutzburg die Minijob-Zentrale zitierend. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die wieder auf den ersten Blick plausible "Beweisführung" den Jobkiller Mindestlohn betreffend studiert:
»Besonders viele Minijobs, allein 60.000 ..., verschwanden im Handel, wie der Branchenvergleich zeigt. Für den Handelsverband Deutschland (HDE) liegt die Ursache auf der Hand. „Dieser überproportional starke Abbau ist ganz klar auf die neuen bürokratischen Belastungen durch den Mindestlohn zurückzuführen“, sagte Geschäftsführer Heribert Jöris. Zudem habe der Mindestlohn die Minijobs besonders stark verteuert.«
Dann wird es interessant: „Seit Einführung des Mindestlohns rechnen sich Minijobs für Arbeitgeber in vielen Fällen insgesamt schlicht nicht mehr“, so wird der Hde-Geschäftsführer Jöris zitiert. Und weiter: »Es bleibe nun abzuwarten, „ob dieser deutliche Verlust an Arbeitsplätzen an anderer Stelle in der Branche durch den Aufbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze kompensiert“ werde.«
Eben und genau. Das bleibt a) abzuwarten (denn die tief gegliederten Daten zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gibt es erst mit einem dreimonatigen time-lag) und b) könnte man ja einfach mal die Frage aufwerfen, ob jetzt der Einzelhandel wirklich zehntausende Stellen ersatzlos gestrichen hat. Wer macht dann die Arbeit? Sind die Öffnungszeiten wieder auf 18 Uhr eingedampft worden? Werden die Läden über Mittag geschlossen? Wir wissen das (noch) nicht.
Aber statt das einfach mal zum jetzigen Zeitpunkt zu akzeptieren, legt der Verfasser des FAZ-Artikels nach und postuliert sogar als Zwischenüberschrift in seinem Artikel: "Prognose ist als bestätigt zu werten" - und meint damit natürlich die Prognose aus dem ifo-Umfeld von den 900.000 verlorenen Arbeitsplätze, die wir zu erwarten haben wegen dem Mindestlohn. Wie kriegt er das hin? Er schreibt mit ausdrücklichem Bezug auf die Prognose von Schöb et al. aus dem vergangenen Jahr:
»Bei näherem Hinsehen liegt diese „Horrorprognose“ gar nicht so weit neben der Realität: 660.000 dieser gefährdeten Stellen seien Minijobs, so die ifo-Studie. Dass gleich im ersten Monat nach Einführung des Mindestlohns eine sechsstellige Zahl von Minijobs verschwunden ist, ließe sich sogar als Bestätigung der Prognose werten.«
Man kann das ja mal versuchen - aber seriös ist das nicht. Auch und gerade nicht vor dem Hintergrund der eigenen Argumentation der Mindestlohn-Kritiker in ihrer Auftragsarbeit für die INSM:
»Eine der größten Herausforderungen der kommenden Zeit für die empirische Arbeitsmarktforschung in Deutschland wird es sein, wissenschaftlich solide die Wirkungen des Mindestlohns zu evaluieren. Ein Problem dabei ist die Verfügbarkeit notwendiger Daten. Die Wirkungen des Mindestlohns können nicht allein anhand der Arbeitslosenquote analysiert werden. Der Mindestlohn trifft in vielen Fällen Randgruppen am Arbeitsmarkt, wie Rentner, Studenten oder hinzuverdienende Ehepartner, die im Falle des Jobverlusts nicht in die offizielle Arbeitslosenstatistik eingehen werden. Da viele Minijobber, die weniger als 15 Stunden in der Woche arbeiten, aber gern mehr arbeiten würden, bereits als Arbeitslose zählen, werden Arbeitsplatzverluste in diesem Bereich ebenfalls nicht die offizielle Arbeitslosenquote erhöhen. Neben der Arbeitslosigkeit ist es daher notwendig, auch die Zahl der Beschäftigten und die geleisteten Arbeitsstunden zu betrachten. Diese Zahlen sind aber nur mit einiger zeitlicher Verzögerung verfügbar.« (Knabe/Schöb 2015: 5)
Daran ist nichts auszusetzen - aber es gilt eben auch: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nur sagen, dass die befürchteten großen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Form spürbarer negativer Beschäftigungseffekte und einem Ausstrahlen in die Arbeitslosigkeit hinein ausgeblieben ist. Und das Rentner oder Studierende ihre kleinen, günstigen Minijobs verloren haben, bleibt abzuwarten und noch zu beweisen. Da beißt die Maus keinen Faden ab - erste halbwegs seriöse Aussagen zu den Arbeitsmarktauswirkungen des Mindestlohns wird man frühestens in der zweiten Jahreshälfte machen können und dann auch nur unter Berücksichtigung der zahlreichen möglichen Wirkungskanäle. Das verbietet übrigens zum jetzigen Zeitpunkt auch eine umgekehrte Interpretation, also dass der Mindestlohn gar keine negativen Folgen auf einzelne Regionen, Branchen oder Unternehmen haben wird.
Was man aber unbedingt berücksichtigen sollte ist die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt keine stationäre Angelegenheit ist. Nur weil an der einen Stelle Jobs verloren gehen, weil beispielsweise Minijobs als solche verschwinden, heißt das noch lange nicht, dass nicht gleichzeitig andere Jobs aufgebaut werden, was dann als Zuwachs bei der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung registriert werden wird. Und wenn eine Minijobberin aufgrund der guten Arbeitsmarktlage endlich in einen normale Teilzeitbeschäftigung oder gar eine Vollzeitbeschäftigung wechseln kann, dann ist das eine deutliche Verbesserung für die Arbeitnehmerin und damit zu begrüßen, auch wenn statistisch ein Minijob wegfallen sollte.
Deshalb abschließend ein Blick auf die Prognose der hauptberuflichen Arbeitsmarktforscher vom IAB der Bundesagentur für Arbeit, die diese Tage erst ihre Vorhersage für das Jahr 2015 veröffentlicht haben unter der ebenfalls klaren Botschaft: Der Arbeitsmarkt bleibt auf Erfolgskurs. Hier einige der zentralen Vorhersagen:
Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist wieder in Gang gekommen, die jahresdurchschnittliche Zahl der (registrierten) Arbeitslosen wird auf 2,79 Mio. taxiert. Die Erwerbstätigkeit setzt ihren Aufwärtstrend leicht abgeschwächt fort. Der Zuwachs im Jahr 2015 beträgt 350.000 Personen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steigt um 540.000 und erreicht mit 30,74 Mio. Personen ein neues Allzeithoch.
Moment, wird an dieser Stelle der aufmerksame Leser einwerfen: Wie kann es sein, dass die Erwerbstätigkeit (das sind ja alle, die irgendwie arbeiten, also neben den normalen Arbeitnehmern auch die geringfügig Beschäftigten, die Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen und die Beamten) weniger stark zunehmen als die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten? Genau hier ist die Verbindungslinie zum ersten Teil des Beitrags - der Mindestlohn und die Minijobs. Auf der Seite 4 schreiben die Arbeitsmarktforscher:
»Strittig ist, inwieweit der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn Auswirkungen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit haben wird. Zu erwarten ist, dass die Zahl der Minijobs relativ deutlich sinken wird ... Für das Jahr 2015 erwarten wir insgesamt aber keine entscheidenden negativen Effekte, auch wenn es in bestimmten Bereichen zu Arbeitsplatzverlusten kommen kann. So sind Betriebe in Ostdeutschland, bestimmte Branchen wie das Gastgewerbe oder der Einzelhandel und vor allem Minijobs vom Mindestlohn besonders betroffen.«
Die Differenz zwischen den prognostizierten +350.000 Erwerbstätigen und den +540.000 bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten resultiert für die Arbeitsmarktforscher neben leichten Rückgängen bei der Zahl der Selbständigen und der Beamten vor allem aus einer starken Verringerung der Zahl der "marginal Beschäftigten", die vor allem aus den Minijobbern bestehen, in einer Größenordnung von -180.000 Personen in 2015.
Und der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auf eine weitere Publikation aus dem IAB verwiesen, die ebenfalls kürzlich veröffentlicht wurde: Reichweite des Mindestlohns
in deutschen Betrieben, so ist die Arbeit von Hellmann et al. überschrieben. Die ist deshalb von besonderem Interesse, weil man hier die (mögliche) Betroffenheit vom Mindestlohn nicht an der Personenseite festgemacht hat, sondern von der "anderen" Seite, also den Betrieben: Wie viele Betriebe gab es überhaupt, in denen auch Stundenlöhne unter 8,50 Euro bezahlt wurden? Und wie viele Beschäftigte in diesen Betrieben verdienten im Jahr 2014 weniger als den Mindestlohn? Das sind die Fragen, denen man mit Daten aus dem IAB-Betriebspanel nachgegangen ist. Die Studie hat ein sehr interessantes Ergebnis zu Tage gefördert - interessant vor allem vor dem Hintergrund der Frage, wie viele Arbeitnehmer denn wirklich betroffen sind von dem neuen Mindestlohn.
»Insgesamt zeigt die Auswertung der aktuellen Erhebung des IAB-Betriebspanels aus dem Jahr 2014, dass 4,4 Prozent der Beschäftigten in Deutschland vom Mindestlohn betroffen sind.« Das sind deutlich weniger als in anderen Studien bislang ausgewiesen. Zur Größenordnung der betroffenen Betriebe:
»Laut IAB-Betriebspanel hatten rund 12 Prozent der befragten Betriebe in Deutschland kurz vor der Mindestlohneinführung mindestens einen Beschäftigten, der weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdiente. Überdies gaben etwa 7 Prozent der Betriebe an, sie hätten bereits im Vorfeld Lohnanpassungen vorgenommen.«
Fazit: Derzeit kann man die vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns breit diskutierten massiven negativen Beschäftigungseffekte nicht erkennen - ganz im Gegenteil, der Arbeitsmarkt ist (noch) in guter Verfassung, die Beschäftigung - vor allem die sozialversicherungspflichtige - steigt weiter an und wir sehen kein Durchschlagen auf die Arbeitslosigkeitszahlen. Und auch die nun von den Autoren der Auftragsarbeit der INSM in den Mittelpunkt gestellten "verlorenen" Minijobs können und müssen wesentlich differenziert angeschaut und bewertet werden. Das alles heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass man jetzt, im März 2015, Entwarnung geben kann hinsichtlich der möglichen negativen Auswirkungen der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Angesichts der vielen Wirkungskanäle, die man im Auge behalten muss, kann man das frühestens in einigen Monaten.
Aber was man auch nicht machen sollte: Die Mindestlohngegner sehen bereits, dass es zahlreiche Hinweise gibt, dass ihre apokalyptischen Prognosen nicht eintreten werden. Also bereitet man einen Spurwechsel in der Argumentation vor, den Knabe/Schöb (2015: 5) so beschreiben: Sie plädieren dafür, bei der "wissenschaftlichen" Beurteilung der Wirkungen des Mindestlohns ein "Kontrafaktum" zu setzen und zu berechnen. Was das ist? Hier die Auflösung:
»Dabei geht es um die Frage, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt hätte, wenn der Mindestlohn nicht eingeführt worden wäre. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann man anhand der tatsächlich eingetretenen Arbeitsmarktentwicklung bestimmen, welchen Effekt der Mindestlohn gehabt hat. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob es nicht vielleicht noch weniger Arbeitslose gegeben hätte, wenn der Mindestlohn nicht eingeführt worden wäre. Die Herausforderung bei der Evaluation des Mindestlohns besteht somit darin, überzeugend kontrafaktische Arbeitsmarktzustände zu berechnen.«
Man könnte jetzt viel dazu sagen, hier sei nur eine sehr kritische Variante präsentiert: Natürlich kann man die Zahlen so foltern, bis sie gestehen. Und natürlich hätte es den einen oder anderen Job mehr gegeben, wenn die Arbeitnehmer noch Geld mitbringen zur Arbeit für den Arbeitsnachfrager. Aber mal ehrlich - da kann man wunderbare Konstruktionen basteln, die im Ergebnis dazu führen werden, dass eigentlich sogar mehrere Millionen Jobs verloren gegangen sind, die ansonsten entstanden wären, wenn ... ja, wenn. Das sollte man sich wirklich ersparen und statt dessen eine seriöse Mindestlohn-Evaluierung machen, die die Kirche im Dorf lässt.