Ein erster und flüchtiger Blick auf die Statistik über die private Altersvorsorge, die man beim Bundesarbeitsministerium abrufen kann, scheint eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte zu erzählen. Mit Stichtag 30. Juni 2014 wurden fast genau 16 Mio. Riester-Verträge gezählt. Die Versicherer liegen mit knapp 10,9 Mio. Policen unangefochten auf dem ersten Platz. Gefolgt von den Fondsgesellschaften mit gut 3 Mio. Verträgen. Nahezu 1,3 Mio. Menschen wohnriestern und gut 800.000 Riester-Verträge konnten Banken und Sparkassen an die Vorsorgeenthusiasten bringen. Wie immer im Leben ist es lohnend, einen genaueren Blick auf das Zahlenwerk zu werfen, denn dann entdeckt man, dass das scheinbare Erfolgsmodell liebevoll formuliert schwächelt, man kann auch sagen, dass es an die Wand gefahren ist, denn seit dem Jahr 2011 ist klar erkennbar, dass die Zahl der neuen Verträge stagniert und die Wachstumsgeschichte vorbei ist: Im Jahr 2007 wurden mit fast 2,1 Mio. Policen die meisten Riester-Verträge neu abgeschlossen. Im Jahr 2013 hingegen haben sich nur noch 453.000 Menschen neu für das "Riestern" entschieden und unter Berücksichtigung der Vertragsabgänge kann man erkennen, dass sich bei der Zahl der Verträge seit 2011 nichts mehr bewegt. Das ist natürlich schlecht für die vielen finanzindustriellen Intermediäre, die an dieser umfangreichen staatlichen Subventionierung (mit)verdienen und dann ist es auch mal wieder Zeit, die schwächelnden Produkte aus der Riester-Welt publizistisch zu stärken.
Dafür hat sich die FAZ hergegeben in Gestalt eines Artikels in der Online-Ausgabe, dessen Überschrift allein in Zeiten des Niedrig- bzw. Nicht-Zinses für wässrige Münder sorgen soll und wird: Sichere drei Prozent mit Riesterverträgen, so titelt Dyrk Scherff, seines Zeichens Redakteur im Ressort "Geld & Mehr" der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Er kommt gleich zur Sache:
»Riestern lohnt sich nicht – dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Die staatlich geförderten Fonds und Versicherungen seien so teuer, dass die Kosten die erzielten Renditen auffressen. Man müsse 100 Jahre alt werden, um überhaupt mehr herauszubekommen, als man eingezahlt hat, heißt es dann. Doch das stimmt so nicht.«
Da sind wir aber gespannt, wie er uns diese "Vorurteile" aus dem Weg räumen will, denn natürlich sollte er auch die zahlreichen kritischen Studien kennen, die - 2011 und 2012 publiziert - ihren Beitrag hatten an der seitdem realistischeren Sichtweise auf die "Riester-Rente". Um nur vier von ihnen an dieser Stelle beispielhaft in Erinnerung zu rufen:
- Heike Joebges, Volker Meinhardt, Katja Rietzler und Rudolf Zwiener: Auf dem Weg in die Altersarmut. Bilanz der Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente (= IMK-Report Nr. 73), Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, 2012
- Axel Kleinlein: Zehn Jahre „Riester-Rente“. Bestandsaufnahme und Effizienzanalyse. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2011
- Cornelia Hagen, Johannes Geyer Axel Kleinlein: Zehn Jahre Riester-Rente: Kein Grund zum Feiern. Riester-Rente: Rezept gegen Altersarmut?, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 47/2011
- Carsten Schröder: Riester-Rente: Verbreitung, Mobilisierungseffekte und Renditen. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2011
»100 Jahre (klingt) zwar alt. Aber es entspricht der durchschnittlichen Lebenserwartung von heute 30- oder 40-Jährigen. Viele dürften älter werden.«
Da müssen wir uns doch aber freuen oder zumindest die, die sich in der Altersgruppe der 30- bis 40-jährigen Menschen befinden. Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle vielleicht verunsichert den Kopf schütteln und sich fragen - ist das denn wirklich so mit den 100? Dem Beobachter mit einer gewissen statistischen Grundausbildung wird an dieser Stelle einfallen, dass man diese Frage klären können müsste, wenn man ein Blick wirft in die "Sterbetafel", wo für jeden Altersjahrgang dargestellt ist, wie es sich mit den durchschnittlich zu erwartenden weiteren Lebensjahren verhält, wobei man immer auch sehen muss, dass es sich um Durchschnitte handelt und nicht um die eigene Person. Das Problem nur an dieser Stelle: Neben der Tatsache, dass die Ermittlung der weiteren Lebenserwartung ein schwieriges Geschäft ist, weil man mit vielen Annahmen arbeiten muss - "die" Sterbetafel gibt es nicht. So ist ein Beitrag von Andreas Kunze beispielsweise überschrieben mit Sterbetafeln: Versicherungen rechnen anders. Und hier findet sich neben der Verwendung des Plurals beim Thema Sterbetafel ein ganz wichtiger Hinweis: »Die privaten Renten- und Lebensversicherungen rechnen mit einer viel höheren Lebenserwartung als das Statistische Bundesamt.«
Hat der Redakteur also zu den viel höheren Lebenserwartungswerten der Versicherungen gegriffen und nicht zu denen der Bundesstatistiker? Und wie groß ist dieser Unterschied eigentlich? Dazu muss man sogleich klären, von welchem Alter wir denn sprechen: Von der Lebenserwartung eines heute geborenen Kindes oder einem heute lebenden 30- oder 40-Jahre alten Menschen? Allein dazwischen liegen schon Welten. Wir erfahren beispielsweise:
»Wie alt wird ein im Jahr 2011 geborenes Mädchen werden? Auf diese Frage gibt es ganz unterschiedliche Antworten: Knapp 83 Jahre, erfährt man vom Statistischen Bundesamt. Gut 102 Jahre heißt es bei der Deutschen Aktuarvereinigung, den Mathematikern der deutschen Versicherungen. Im Durchschnitt wohlgemerkt.«
Das sind immerhin schlappe 19 Lebensjahre Unterschied. Kunze klärt uns auf, wie es zu diesen gewaltigen Unterschieden kommen kann:
»Das Statistische Bundesamt führt eine Periodensterbetafel. Sie berechnet die altersspezifischen Überlebenswahrscheinlichkeiten je nach Geschlecht für die Gesamtbevölkerung nach heutigen Erfahrungen. Das wahrscheinliche Lebensalter würde sich ergeben, wenn künftig keine Veränderung in der Sterbewahrscheinlichkeit („Mortalität“) eintreten würde. Weil die Menschen aber immer älter werden, „überholt“ das Leben die Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes immer wieder.«
Und die Lebens- und Rentenversicherer?
Die verwenden die Sterbetafel "DAV 2004 R" und dabei handelt es sich um eine Kohorten- oder Generationensterbetafel, was etwas anderes ist als eine Periodensterbetafel. Ein ganz wichtiger Punkt: Die zukünftige Entwicklung ist hier schon eingerechnet, auch wenn die Zukunft alles andere als klar ist, denn sie berücksichtigt die steigende Lebenserwartung künftiger Generationen. Kann so kommen, muss aber nicht.
Aber auch wenn man für die hier besonders interessierende Gruppe der 30- bis 40-jährigen Menschen in die Sterbetafel hineinschaut, dann ergeben sich zwar Werte, die über denen des Statistischen Bundesamtes liegen, zugleich aber unter denen dessen, was der Herr Redakteur so verbreitet: Bei den 30- bis 40-jährigen Frauen wird ein Lebensalter von 92 bzw. 91 Jahren ausgewiesen, bei den gleichaltrigen Männern sind es 87 bzw. 86 Jahre, was nun was anderes ist als die 100 Jahre.
Also erste Enttäuschung: Das mit der Aussicht, dass die Personen in der genannten Altersgruppe alle 100 Jahre oder gar noch älter werden, kann man auch aus den Versicherungsannahmen nicht wirklich ableiten. Hinzu kommt etwas, was man wissen muss, wenn der Eindruck erweckt wird, es geht hier um "alle" Menschen.
»Die Sterbetafel DAV 2004 R dient als Rechengrundlage für private Rentenversicherungen. Sie berücksichtigt die spezielle Lebenserwartung von Versicherten mit einer privaten Lebensversicherung. Die Sterblichkeit von Rentenversicherten ist geringer als die Sterblichkeit in der Gesamtbevölkerung, denn wer freiwillig finanziell vorsorgt, der rechnet subjektiv mit einer normalen bis längeren Lebenserwartung und bemüht sich mehr oder weniger stark um eine gesunde Lebensweise, schon weil er die Mittel dazu hat. Personen mit einer privaten Rentenversicherung haben im Durchschnitt ein höheres Einkommen und eine höhere Bildung. Sie rauchen seltener. In der Summe aller Eigenschaften leben sie auch länger, so die Erkenntnisse der Versicherungsunternehmen.«
Alles klar?
Aber Scherff gibt nicht auf. Er lässt nicht locker. Also schreibt er:
»Doch selbst wer das schlechteste Szenario annimmt, kann mit Riesterverträgen etwas verdienen. Also, selbst wenn Riesterprodukte während der ganzen Laufzeit keine Rendite erzielen würden, weil die Kosten so hoch oder die Geldverwalter so schlecht sind, würde Riestern positive Erträge je nach Einkommen zwischen zwei und 15 Prozent im Jahr abwerfen.«
Wie das nun? Er liefert sogleich die Auflösung für dieses moderne "Rendite-Wunder": »Das liegt an der staatlichen Förderung. Denn die darf dem Sparer per Gesetz nicht verlorengehen – neben den restlichen eingezahlten Beiträgen und egal, wie schlecht der Anbieter wirtschaftet.«
Die staatliche Förderung - und die lohnt sich in dieser Denkwelt vor allem dann, wenn man Kinder hat, für die man die zusätzlichen Zulagen abgreifen kann. Jeder bekommt im Jahr 154 Euro, für ein älteres Kind gibt es zusätzlich 185 Euro, für solche, die nach 2007 geboren wurden, sogar 300 Euro. Und wenn die Zinsen auf dem Sinkflug sind, dann steigt der Renditeanteil der staatlichen Förderung, die ja konstant geblieben ist.
Aber diese staatliche Förderung fällt a) nicht vom Himmel, sondern muss aus Steuermitteln finanziert werden (ist also eine Subventionierung der privaten, aber nicht verpflichtend ausgestalteten Altersvorsorge) und b) wird sich nicht gleichverteilt in Anspruch genommen, sondern gerade die unteren und mittleren Einkommen haben sich beim "Riestern" zurückgehalten, während die Haushalte im oberen Einkommensbereich das, was sie sowieso gemacht hätten, nun mit staatlicher Subventionierung tun: sparen. Damit stabilisiert sich die asymmetrische Verteilung zugunsten der höheren Einkommen.
Immerhin weist der Redakteur auf eine weitere Unannehmlichkeit hin, die das Bild des glücklichen "Riester-Sparers" eintrübt: »Ein Nachteil der Riesterverträge ist, dass die ausgezahlten Renten voll mit dem persönlichen Steuersatz versteuert werden müssen.« Und dann hat er - wahrscheinlich aus Empörung ob des konfiskatorischen Zugriffs des Staates - schlichtweg noch die fälligen Sozialversicherungsbeiträge "vergessen".
Und setzen wir der "Riester-Rente" noch einen drauf: Riester-Rente droht 2015 der Kahlschlag, so ist ein Beitrag von Heinz-Josef Simons überschrieben, der in der Online-Ausgabe der VDI-Nachrichten veröffentlicht worden ist. Sein Thema: Neuabschlüsse von "Riester-Verträgen" werden zurückgehen, denn die Absenkung des Garantiezinses bei Lebens- und Rentenversicherungen zum 1. Januar 2015 wird das auslösen. Früher war alles irgendwie besser: Der Höchstrechnungszins betrug z. B. in 2001, dem ersten Riester-Jahr, 3,25 %. Danach folgten stetige Absenkungen in jeweils 0,5 Prozentpunkt-Schritten – zuletzt zum 1. Januar 2012 auf die derzeit noch gültigen 1,75 %, die ab Januar 2015 auf 1,25% weiter eingedampft werden.