Montag, 9. Juni 2014

Gott schütze die Praktikanten! Und die Rentner, die Zeitungsausträger und die studentischen Hilfskräfte. Ach, der Mindestlohn

„Die Frage, ob der Heilige Geist den Mindestlohn eingeführt hat, ist unter den Theologen nicht restlos geklärt“. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am 05.06.2014 anlässlich der ersten Lesung des Mindeslohngesetzes im Deutschen Bundestag

Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat in ihrer Rede vor dem Bundestag am 5. Juni 2014 unmissverständlich ausgeführt: »Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar 2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehalten. Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn von 8,50 Euro.« Endlich ist also dieses Thema vom Eis, sollte man meinen. Wie immer in der Sozialpolitik lohnt ein genauerer Blick auf die Sache und natürlich haben die zahlreichen Gegner der Einführung eines gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohns keineswegs aufgegeben in ihrem Versuch, den Mindestlohn noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren (weiter) aufzubohren. Wieso "weiter" aufbohren? Weil die Formulierung der Ministerin etwas euphemistisch daherkommt, denn den Mindestlohn von 8,50 Euro wird es nicht geben für bestimmte Praktikanten, für alle Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr und für alle bislang Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung (und für bestimmte Branchen erst ab 2017). Aber die Gegner des Mindestlohnes lassen nicht locker. Erneut werden weitere Ausnahmen gefordert. An die Spitze der Bewegung hat sich nun der ehemalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), mittlerweile Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, gestellt, der entsprechende Ausnahmen fordert für Praktikanten, Rentner, Zeitungsausträger und studentische Hilfskräfte.

Bleiben wir in einem ersten Schritt bei den bereits im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmen vom angeblich „flächendeckenden“ Mindestlohn.


Da ist die Herausnahme der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Bereits dieser Punkt wird heftig kritisiert, allerdings nicht nur von denjenigen, die keinerlei Ausnahmen zulassen möchten, sondern durchaus auch von Anhängern des Mindestlohns, die mit Blick auf andere Länder, vor allem auf die mit einem hohen Mindestlohn, argumentieren, dass es dort Ausnahmeregelungen für junge Menschen gibt, die teilweise bis über das 21. Lebensjahr hinausreichen. Grundsätzlich geht es hier um das mögliche Problem, dass die Aufnahme einer bezahlten Erwerbstätigkeit attraktiver daherkommt als die einer Ausbildung, denn für die Zeit der Berufsausbildung gelten die Mindestlohnbestimmungen nicht. Die fachwissenschaftliche Diskussionslage hierzu ist uneinheitlich, vgl. beispielsweise die Hinweise in dem Artikel Jobben statt Ausbildung? Am deutlichsten gegen eine Herausnahme der Jugendlichen aus der Anwendung des Mindestlohns hat sich das Wirtschaft- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung  ausgesprochen. Vgl. hierzu die Publikation Jugend ohne Mindestlohn? von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck,und Thorsten Schulten, die im März 2014 veröffentlicht wurde. Darin findet man wichtige kritische Aspekte angesprochen:

»Die Ausnahme von Minderjährigen wird mit Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Ausbildungsvergütung und unmittelbar erzielbarem Erwerbseinkommen gerechtfertigt, die für Jugendliche negative Anreize bedeuten könnten. Dieses Spannungsverhältnis besteht jedoch bereits heute in vielen Branchen - die Einführung eines Mindestlohns wird diese Situation nicht grundlegend verändern. Vielmehr wären von der Ausnahme Jugendlicher ... fast ausschließlich junge Minijobber betroffen, die einen geringen Zuverdienst erwerben. Etwa drei Viertel dieser Altersgruppe geht weiterhin einer Ausbildung nach. Weitere Ausnahmeregelungen könnten in den typischen Tätigkeitsfeldern von Jugendlichen hingegen zu unerwünschten Verdrängungseffekten führen, durch die ältere Beschäftigte durch jüngere ersetzt werden« (Amlinger et al. 2014: 1).

Tatsächlich wird aus Ländern, in denen es altersabhängig nach unten abgestufte Mindestlöhne gibt, von typischen Verzerrungseffekten berichtet, denn Unternehmen erhalten einen Anreiz, gezielt ältere durch jüngere Arbeitnehmer zu ersetzen. »In den Niederlanden sind beispielsweise mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Supermärkten jünger als 23 Jahre und liegen damit unter der Altersschwelle, ab der der volle Mindestlohn gezahlt werden muss. Mit dem Erreichen dieser Altersgrenze verlieren jedoch viele der von vornherein nur befristet beschäftigten Jugendlichen ihren Job, da mit dem Übergang zum Erwachsenenmindestlohn eine erhebliche Lohnsteigerung einhergeht«, so Thorsten Schulten, einer der Verfasser der WSI-Studie, in einem Artikel in der taz.
Auf der anderen Seite sollte man zur Kenntnis nehmen, dass zahlreiche Praktiker aus der Jugendsozialarbeit durchaus die Gefahr sehen bzw. tagtäglich erleben, dass bestimmte junge Menschen eine lohnbedingte Präferenz für die Aufnahme irgendeiner Erwerbsarbeit auf der Ebene der Tätigkeiten von Ungelernten gegenüber einer Berufsausbildung haben. Und aus einer grundsätzlichen Perspektive ist es zumindestens diskussionsbedürftig, warum jemand ohne eine Berufsausbildung teilweise deutlich mehr Geld verdienen kann, als jemand, der eine Berufsausbildung macht, was ja bedeutet, dass neben der bereits anteiligen praktischen Arbeit auch noch im Regelfall eine Menge gelernt werden muss.

Interessanterweise ist bei der Diskussion über mögliche Ausnahmen von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bislang nie eine Lösung diskutiert worden, die so aussehen könnte, dass junge Menschen beispielsweise bis zum 21. Lebensjahr dann nur ein abgesenkter Mindestlohn zugestanden wird, wenn sie über keine anerkannte Berufsausbildung verfügen. Damit könnte man durchaus ein zumindest "pädagogisches" Signal senden.

Auf große Kritik und teilweise heftige Irritationen im Lager der Mindestlohnbefürworter ist die nach den Verhandlungen zwischen SPD und Union in den Gesetzentwurf der großen Koalition aufgenommene Ausnahmeregelung für die ersten sechs Monate eine Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen, die in dieser Zeit dann nicht unter den Mindestlohn fallen. Davon ist nicht nur eine kleine Gruppe betroffen und darüber hinaus gibt es mehr als massive Zweifel an der Sinnhaftigkeit der vorgesehenen Ausnahmeregelung. Man muss diesen Punkt wahrscheinlich so sehen, wie er zustande gekommen ist: Vor dem Hintergrund der massive Widerstände in den Reihen der Union und dem enormen Druck seitens der Wirtschaftsverbände hat die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin hier gleichsam ein „Bauernopfer“ geliefert bzw. liefern müssen, was allerdings zugleich auch viel sagt über die Wahrnehmung "der" Langzeitarbeitslosen.
Die offizielle Begründung für die Herausnahme der Langzeitarbeitslosen in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung aus der Mindestlohnregelung stellt ab auf eine dadurch erreichbare Erhöhung bzw. überhaupt erst Ermöglichung der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Offensichtlich geht es hier um die den Langzeitarbeitslosen zugeschriebene bzw. unterstellte geminderten Leistungsfähigkeit. An dieser Stelle darf und muss man allerdings fragen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, eine alternative Lösung über den Weg der Lohnkostenbezuschussung zu gehen. Denn wenn es „nur“ die eingeschränkte Produktivität der Langzeitarbeitslosen wäre, die auf Seiten der Arbeitgeber ein Einstellungshindernis darstellen, dann könnte man an dieser Stelle ordnungspolitisch durchaus unproblematisch mit (zeitlich begrenzten) individuellen Lohnkostenzuschüssen arbeiten.

Neben der durchaus nicht unplausiblen Gefahr, dass einige schwarze Schafe unter den Arbeitgebern die neue Ausnahmeregelung als Teil ihres Geschäftsmodells im Sinne von Lohndumping missbrauchen können, muss man zwei zentrale Kritikpunkte besonders herausstellen:
  1. Wie auch die Jugendlichen werden die Langzeitarbeitslosen vollständig aus dem Geltungsbereich des angeblich flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes herausgenommen. Anders formuliert: Sie werden in den Lohnbereich unter den vorgesehenen 8,50 € „entlassen“, ohne dass irgendeine Haltelinie nach unten definiert wird. Wenn man denn schon eine Differenzierung vornehmen will bzw. möchte, dann hätte man sich die Verwendung von abgesenkten Mindestlohnschwellen vorstellen können - so wie in allen anderen Mindestlohnländern, die nicht nur einen Mindestlohn haben. Die arbeiten alle mit prozentual abgesenkten besonderen Mindestlöhnen, beispielsweise für Jugendliche. So aber gibt es nun bei uns überhaupt keine Grenze nach unten für diese Personengruppen. Auf die Spitze getrieben wird das Ganze dadurch, dass die derzeit vorgesehene Regelung die Langzeitarbeitslosen betreffend quasi zu einer „Doppelförderung“ der aus tarifvertragliche Sicht „schlechten“ Arbeitgeber führen kann: Zum einen werden sie gefördert über den Tatbestand, dass in den ersten sechs Monaten eine Beschäftigung keine Lohnuntergrenze besteht und zum anderen ist es jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht ausgeschlossen, dass sie dann auch noch für die Einstellung des Langzeitarbeitslosen einen Lohnkostenzuschuss seitens der Arbeitsagentur bzw. des Jobcenters bekommen können.
  2. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass „ironischerweise“ von der Ausnahmeregelung bei den Langzeitarbeitslosen gerade die Unternehmen profitieren (können), die nicht tarifgebunden sind, denn die tarifgebundenen Unternehmen haben gar nicht die Möglichkeit, von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen, es sei denn, auf der tarifvertraglichen Ebene wird ihnen das eröffnet, was allerdings höchst unwahrscheinlich ist. Das hat schon was – ein Gesetz, dass die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles mit dem programmatisch daherkommenden Titel „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ versehen hat, führt im Ergebnis dazu, dass gerade die tarifungebundenen Unternehmen sich erneut bestätigt fühlen müssen hinsichtlich ihrer Entscheidung, auf eine Tarifbindung zu verzichten oder aus dieser zu fliehen, denn das macht sich hier jetzt als Vorteil gegenüber den tarifgebundenen Unternehmen bemerkbar.
Fazit: Bereits die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind nicht unproblematisch, um das einmal nett auszudrücken. Aber die Gegner einer flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnregelung lassen nicht locker und fordern gleichsam im Dauerfeuer auf die Bundesarbeitsministerin weitere Ausnahmen von dem Mindestlohn ab 2015/2017.

Immer wieder werden dabei die "Praktikanten" genannt. Da wird in einem Artikel in der FAZ gar von einem Angriff auf die Generation Praktikum gesprochen und auch die WirtschaftsWoche macht sich große Sorgen: Arbeitgeber fürchten Wegfall von Praktikumsplätzen. Konkret geht es um den § 22 im Gesetzentwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Darin steht, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde auch für Praktikanten gelten soll, wenn das Praktikum länger als sechs Wochen dauert und es freiwillig gemacht wird.  Ebenfalls nicht erfasst vom Mindestlohn - und für die nun einsetzende Debatte um mögliche Umgehungsstrategien besonders relevant (vgl. hierzu z.B. den Beitrag So umgehen Firmen Mindestlohn bei Praktikanten) - sind Praktikanten, die ein Praktikum verpflichtend im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung leisten.

Löhr, Peitsmeier und Ritter zitieren in ihrem Artikel z.B. Florian Haller, Chef der Münchner Agentur Serviceplan, der größten inhabergeführten Werbeagentur in Deutschland: » Derzeit bekommen die Praktikanten 600 Euro im Monat, die meisten bleiben drei bis sechs Monate. Für Haller steht fest: Wenn der Gesetzentwurf mit der besagten Praktikanten-Regel durchgeht, wird es bei Serviceplan keine Praktika mehr geben. „Das Praktikum ist tot“, sagt Haller. „Die Politik macht gerade eine tolle Institution kaputt.“«

»Nun ist das mit der „tollen Institution“ so eine Sache«, stellen die Verfassers des Artikels selbst in den Raum. Gerade in der so genannten "Kreativbranche" basieren ganze Geschäftsmodelle letztendlich auf der Nutzung teilweise oder vollständig unentgeltlicher Arbeitskraft von jungen Menschen, die sich über diesen Einsatz einen Einstieg in ein hart umkämpftes Beschäftigungsfeld erhoffen:
»Berichte über Unternehmen, die Lücken in der Belegschaft mit Jahrespraktikanten füllen, die vollen Arbeitseinsatz für geringe Gehälter erwarten, mit der vagen Aussicht auf eine feste Stelle, haben erst den Begriff der „Generation Praktikum“ geprägt, und dann die Politik auf den Plan gerufen.«  Ganz offensichtlich geht es hier um erhebliche Größenordnungen: 600.000 Praktikanten sind gegenwärtig an einem durchschnittlichen Werktag in der deutschen Wirtschaft im Einsatz.

Vor diesem Hintergrund kommt es prima facie erst einmal sympathisch und durchgreifend rüber, wenn die Bundesarbeitsministerin Nahles mit diesen Worten zitiert wird:  „Ich werde das Modell der „Generation Praktikum“ beenden“. Zur Begrifflichkeit vgl. auch den ZEIT-Artikel "Generation Praktikum" von Matthias Stolz aus dem Jahr 2005. Nun gibt es wie so oft im Leben einen Unterschied zwischen dem, was man will und dem, was man bekommt. So kann es auch in diesem Fall ausgehen.

Die Position sicher vieler Arbeitgeber, bei denen Praktikanten weniger als billige Arbeitskräfte zum Einsatz gebracht werden, illustriert dieses Zitat: „Praktikanten machen uns Arbeit und stören den normalen Ablauf. Und dafür sollen wir ihnen nun auch noch den Mindestlohn bezahlen? Das ist doch Unfug“, erregt sich Martin Kannegießer, der Inhaber der Maschinenbaufirma Herbert Kannegießer GmbH im ostwestfälischen Vlotho und lange Jahre Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.

An dieser Stelle wird ein grundsätzliches Problem erkennbar: Wenn die Praktikanten tatsächlich überwiegend, teilweise ausschließlich zur Wertschöpfung in dem Unternehmen eingesetzt werden, was durchaus der Fall sein kann/wird, wenn es sich um ausgebildete Fachkräfte nach einem Studium handelt, die beispielsweise kostenlos in einer Marketing-Agentur arbeiten und sich dort voll einbringen, dann bedeutet die Nicht-Einbeziehung in die Mindestlohnregelung tatsächlich, dass hier ein eigener, für die Unternehmen höchst attraktiver Niedrig- bzw. Gar-kein-Lohnsektor geschaffen wird. Dadurch können sich diese Unternehmen erhebliche Kostenvorteile gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass eine „richtige“ Beschäftigung von Praktikanten bedeutet, dass man tatsächlich von der betrieblichen Seite her gesehen einen erheblichen Aufwand hat, da den Praktikanten ja etwas beigebracht werden soll und dadurch die Arbeit von Normalbeschäftigten gebunden wird.

Letztendlich geht es hier um ein nicht auflösbares Dilemma zwischen "zu lange" und "zu kurz": So argumentieren Vertreter aus der Politik, dass die Unternehmen ja die Dauer ihrer Praktika reduzieren könnten, statt der jetzt üblichen drei bis sechs Monate das Reinschnuppern auf sechs Wochen begrenzen. Ausgeschlossen, so die Replik aus der Wirtschaft, zu groß wäre der Aufwand der Einarbeitung, zu gering die Einblicke der Praktikanten in den Unternehmensalltag.

Zweifellos wird es erhebliche Kollateralschäden geben - wenn man vom bestehenden System ausgeht und dieses fortführen möchte. Zu erwarten ist, dass viele "freiwillige Orientierungspraktika" von Unternehmen so gut wie nicht mehr angeboten werden, weil sie zu teuer sind und viele Firmen werden ihr Angebot eindampfen müssen.

Theoretisch könnte man dann eine halbwegs ausbalancierte Lösung finden, wenn es gelingt, die Laufzeit von Praktikanten-Verträgen an der Unterscheidungslinie Noch-nicht-ausgebildet und Bereits-fertig-ausgebildet zu ziehen (vgl. hierzu auch den Argumentationsansatz in dem Artikel Wider die Praktikanten-Ausbeutung von Nadia Pantel). Das mag für viele Fallkonstellationen genügen, um den Bereich der Ausbeutung von Praktikanten zu regulieren, denn die wird vor allem bei denjenigen stattfinden, die schon über eine entsprechende und damit nutzbare Qualifikation verfügen. Auf der anderen Seite muss man sich dann aber auch darüber bewusst sein, dass es in ganz bestimmten Branchen, die bislang auf diesem Rekrutierungsweg marschiert sind, erhebliche Verwerfungen geben wird. Dies wird vor allem die so genannte „Kreativwirtschaft“ treffen, wo bereits heute die Beschäftigungsverhältnisse durch eine außerordentliche Prekarität charakterisiert sind.

Auch und gerade die Medien werden mit dem Thema konfrontiert. Simone Schmollack hat das in ihrem Artikel mit dem treffenden Titel Generation Kurzzeitpflege am Beispiel der taz angesprochen: »In der Hauptredaktion in Berlin arbeiten jeden Monat bis zu 15 Praktikanten in allen Ressorts. Sie sind durchschnittlich acht Wochen im Haus und erhalten eine Aufwandsentschädigung von 200 Euro monatlich.« Diese Modelle werden dann nicht mehr funktionieren, was vielleicht auch die offene Aggressivität erklärt, mit der Martin Reeh seinen Kommentar in der taz dazu überschrieben hat: Bornierte Sozialdemokraten: »Dabei ist es richtig, dass sich die Bundesregierung des Praktikantenunwesens annimmt. Aber die Regelung, nach der Praktikanten, die sich noch in einer Ausbildung befinden, keinen Mindestlohn erhalten müssen, alle anderen aber schon, ist falsch. Sie wird alle, die nach ihrem Studium nicht sofort einen Arbeitsplatz finden, ebenso aufs Jobcenter befördern wie Studienabbrecher und Menschen, die einen beruflichen Neuanfang wagen.«

Nun können die Befürworter einer rigiden Ausgestaltung der Praktikanten-Problematik immer noch an dieser Stelle argumentieren, dass das sicherlich einige Geschäftsmodelle zerstören wird, aber das sei nun mal der Preis dafür, dass man eine möglichst mit wenigen Ausnahmen versehene Regelung bekommt. Und die Unternehmen werden sich schon an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. An dieser Stelle muss dann allerdings auch auf die Bereiche hingewiesen werden, die beispielsweise im kulturellen oder sozialen Beschäftigungsfeld angesiedelt sind und die kaum oder gar keine Erlöse auf dem „Markt“ erwirtschaften (können) und damit letztendlich auf öffentliche Förderung angewiesen sind, die bekanntlich oftmals mehr als prekär ist. In diesen Bereichen gibt es überhaupt gar keine Möglichkeit, auch wenn man möchte, Praktikanten auch nur annähernd adäquat zu entlohnen, vor allem diejenigen nicht, die nach einem Studium über einen Praktikum in der Einrichtung versuchen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Man kann das verständlicherweise kritisieren und als ein parasitäres Modell verwerfen, denn es basiert darauf, dass die Betroffenen das Einkommensrisiko privatisieren und sich über andere Quellen finanzieren. Aber man kann es drehen und wenden wie man will, die bislang vorgesehene Regelung bei der Praktikanten wird zu erheblichen Rückgängen an Praktikumsmöglichkeiten in diesen Sektoren führen müssen.

Es sei an dieser Stelle nur kursorisch darauf hingewiesen, dass die derzeitige Debatte über Notwendigkeit und Missbrauch von Praktikanten gerade in der so genannten „Kreativwirtschaft“ wahrlich kein ausschließlich deutsches Problem darstellt. In der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 3. Juni 2014 berichtete Jürgen Schmieder unter der prägnanten Überschrift "Albtraumfabrik": »Für Praktika in Hollywood gibt es selten Geld – dafür locken unbezahlbare Kontakte. Doch die Produktionsfirmen nutzen die Freiwilligen oft nur aus. Seit ein Hospitant vor Gericht zog, bangt die mächtige US-Filmindustrie ... Für Aufsehen sorgt vor allem der Fall von Eric Glatt, der im Jahr 2010 als Praktikant bei der Produktion „Black Swan“ mit Natalie Portman gearbeitet und die Produktionsfirma Fox Searchlight Pictures später wegen Verstößen gegen den Fair Labor Standards Act (FLSA) verklagt hat. Mittlerweile wurde gar eine Sammelklage zugelassen, bei der es nicht mehr nur um Bezahlung und Schadensersatz geht, sondern auch darum, wie die Unterhaltungsindustrie und auch andere Branchen mit Praktikanten umzugehen haben.« Auch in den USA geht es ganz grundsätzlich um die Frage: Wer profitiert von so einem Praktikum? „Die Gesetzgebung ist eindeutig“, sagt Ross Perlin, Autor des Buches „Intern Nation“: „Wenn ein Praktikum bei einer Firma mit Gewinnabsicht unbezahlt ist, dann muss sich dieses Unternehmen um ein pädagogisches Umfeld kümmern.“ Er schätzt, dass es in den Vereinigten Staaten etwa 500.000 Praktika gibt, die gegen diese Regel verstoßen – und dass dadurch die Unternehmen etwa zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr sparen.

Nun gibt es weitere Forderungen nach Ausnahmeregelung beim vorgesehenen Mindestlohn. So erwähnt Ramsauer (CSU) auch die Rentner, die Zeitungsausträger und die studentischen Hilfskräfte. Wenn wir mal von den studentischen Hilfskräften absehen, die in den meisten Bundesländern bereits heute Stunden Vergütung bekommen, die oberhalb des vorgesehenen Mindestlohns liegen, sind die beiden anderen Personengruppen ein interessantes Beispiel:
  • Die Forderung, die Zeitungsausträger vom Mindestlohn auszunehmen, muss man wohl als Kniefall vor den Zeitungsverlegern und damit immer noch überaus gewichtigen Meinungsmacherinnen einordnen. Wenn das für viele andere Bereiche – man denke hier an das Gaststättengewerbe (vgl. dazu den Beitrag Mindestlohn zwingt Wirte zum Umdenken) – gelten soll, dann gibt es keinen Grund, gerade die Gruppe der Zeitungsausträger davon auszunehmen. Außer, man möchte die Verleger für sich gewinnen.
  • So richtig problematisch wird es bei der Forderung, Rentner von der Anwendung des Mindestlohnes auszunehmen. Würde man dieser Forderung entsprechen, dann besteht die überaus realistische Gefahr, dass ein riesiger Niedriglohnsektor eigener Art in den kommenden Jahren vor unseren Augen entstehen wird. Das Ganze muss im Zusammenhang gesehen werden mit den derzeitigen Überlegungen in Richtung auf eine „Flexi-Rente". Ganz offensichtlich geht es einigen Akteuren darum, der Wirtschaft den Zugang zu billigen erwerbstätigen Rentnern zu eröffnen. Vor dem Hintergrund der enorme Absenkung des Rentenniveaus sowie des Zustroms in den kommenden Jahren von Menschen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie in die Altersarmut rutschen werden, gibt es hier ein Jahr für Jahr enorm wachsendes „Potenzial“ an nutzbaren älteren Arbeitskräften, die dann zu deutlich günstigeren Bedingungen beschäftigt werden können als „normale“ Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund ist von einer Herausnahme „der“ Rentner aus dem Geltungsbereich des Mindestlohns dringend abzuraten.
In der Gesamtschau der Argumente gibt es viele Gründe, die dafür sprechen, die Ausnahmeregelungen auf ein Minimum zu begrenzen.
Weiterhin offen bleiben drei zentrale Fragen, die mit dem Mindestlohn verbunden sind:

(1) Zum einen geht es um die besondere regionale Betroffenheit in den Gegenden, in denen ein teilweise deutlich unter dem vorgesehenen Mindestlohn liegendes Lohnniveau weit verbreitet ist. Es geht also um weite Teile Ostdeutschlands. Die folgende Sichtweise illustriert die Problemwahrnehmung: Der gesetzliche Mindestlohn sei ein größerer Schritt als der von der Pferdekutsche zur Kraftdroschke, so wird ein Taxiunternehmen in dem Artikel Firmen im Osten fürchten Mindestlohn zitiert. Konkret:

„Es wird gefeilscht, bis das Blut kommt“, sagt der Unternehmer Lutz Möbius aus Zeitz im Süden Sachsen-Anhalts über seine Kundschaft. Taxifahrten, Kleintransporte oder Kurierdienste - mit rund 24 Mitarbeitern bietet der 55-Jährige alles rund um den Transport. Vier bis sechs Euro die Stunde bekommen seine Fahrer, je nach Auftragslage. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei in der strukturschwachen Region nicht hereinzuholen. „Das haut einem die Füße weg“, sagt Möbius.
»Nach einer Analyse des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle verdiente 2011 jeder vierte Beschäftigte in den neuen Ländern und Ost-Berlin weniger als 8,50 Euro die Stunde. In Westdeutschland war es dagegen nur jeder achte. Eine jüngere Untersuchung der IHK Halle-Dessau - die die Arbeitgeber und nicht die Arbeitnehmer befragte - kommt zum Ergebnis, dass in den Mitgliedsunternehmen rund 15 Prozent der Beschäftigten unter Mindestlohn-Niveau verdienen. Der Bau sei kaum betroffen, im Gastgewerbe aber rund die Hälfte aller Beschäftigten.«

 Diese Ausgangslage wird natürlich dazu führen, dass für viele Unternehmen, deren Stundenlöhne derzeit zwischen vier und fünf Euro schwanken, eine gesetzlich verordnete Anhebung auf 8,50 Euro in der Stunde wie ein schwerer externer Schock auf der Kostenseite wirken wird. Da hilft es auch nicht, wenn man mir durchaus begründbaren wissenschaftlichen Argumenten herausstellt, dass mittel- und langfristig die Regionen im Osten unseres Landes nur dann aus der Niedriglohnfalle herauskommen können, wenn sich die Löhne nach oben bewegen. Man hätte durchaus differenzierter über ein Übergangsszenario für Ostdeutschland sprechen müssen, bevor sich die politische Zahl 8,50 Euro verselbständigt hat. Jetzt wird es um Schadensbegrenzung gehen müssen.

(2) Damit durchaus in einem Zusammenhang stehend ist die Diskussion um die konkrete Höhe des vorgesehenen gesetzlichen Mindestlohns – hier allerdings aus einer anderen, nicht aus der Kostenperspektive der Unternehmen, sondern aus dem Blickwinkel der betroffenen Arbeitnehmer. Immer wieder gibt es Forderungen nach einem höheren gesetzlichen Mindestlohn. Dafür mag es gute Gründe geben, die allerdings abgewogen werden müssen mit der Frage, wie man die Einführung eines solchen Instruments hin bekommt, ohne große Schäden im bestehenden System zu verursachen. Für die Merkwürdigkeiten dieser Debatte ein kleines Beispiel: Dass die Linke einen Mindestlohn von 10 Euro fordert, ist bekannt. Aber das wird jetzt noch mal getippt, wenn man dieser Meldung folgt: Wohlfahrtsverband fordert Mindestlohn über 13 Euro: »Zur Verhinderung von Altersarmut ist nach Ansicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein Stundenlohn von deutlich über 13 Euro erforderlich. "Der Mindestlohn muss deutlich steigen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, der "Passauer Neuen Presse". Die Gefahr der Altersarmut bestehe vor allem bei Langzeitarbeitslosen, für die es ein Beschäftigungsprogramm geben müsse.« Da wird ja nun einiges durcheinander geworfen. Schaut man auf die Facebook-Seite von Ulrich Schneider, dann findet man dort den folgenden Beitrag von ihm:

»... dann bringen wir doch noch mal Schwung in die Debatte .... auch wenn man redlicherweise sagen muß, daß ich den Mindestlohn in dem Gespräch mit der Passauer Neuen Presse gar nicht explizit gefordert habe, sondern eigentlich nur darauf hinwies, daß man über 13 Euro Stundenlohn brauche, um angesichts des sinkenden Rentenniveaus überhaupt eine Chance zu haben, mit seiner Rente über Sozialhilfeniveau zu landen ...«

Bei aller Sympathie für den Mindestlohn an sich, hier scheint jemand – immerhin der Hauptgeschäftsführer eines nicht unbedeutenden Wohlfahrtsverbandes – aus einer medialen Selbstverliebtheit über die Wirkung seiner Worte gleichsam mit dem Feuer zu spielen, denn allen halbwegs mit Vernunft gesegneten Beteiligten muss doch klar sein, dass man in der derzeitigen Situation nicht ernsthaft einen Mindestlohn von 13 € pro Stunde fordern kann, so gerne man das jedem wünschen würde. Der eigentliche Ansatzpunkt an dieser Stelle wäre auch weniger das Hochschrauben des gesetzlichen Mindestlohns, sondern eine kausale Therapie dergestalt, dass man an dem - übrigens trotz Rentenpakets weiter fortbestehenden - Absinken des Rentenniveaus ansetzt und hier eine Veränderung herbeiführt. Denn das Problem, dass man einen so hohen Stundenlohn braucht, um überhaupt eine Rente zu bekommen, die oberhalb der Mindestsicherung liegt, entspringt der politisch gesetzten Reduktion des Rentenniveaus.

(3) Von wesentlich wichtigerer Bedeutung wäre – gerade wenn man aus ökonomisch durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht so hoch bei Mindestlohn einsteigen kann, wie man eigentlich möchte – die Frage, wie sich der Mindestlohn in den vor uns liegenden Jahren weiter entwickeln wird.  Hierfür soll es bekanntlich eine Mindestlohnkommission geben. Hinsichtlich der Aufgabe und der Besetzung dieser Kommission hat es einige Diskussion bereits im Vorfeld gegeben. Nunmehr gibt es eine interessante „Große Koalition“ zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, denn die  möchten die Höhe des Mindestlohns am liebsten künftig unter sich aushandeln. »Nur alle zwei Jahre soll nach dem Willen der Tarifpartner die Lohnuntergrenze angepasst werden, und zwar immer automatisch in der Höhe der vorangegangenen Tarifabschlüsse«, berichtet Karl Doemens in seinem Artikel Mindestlohn ist kein Anhängsel und wünscht sich richtigerweise: »Hoffentlich bleibt die schwarz-rote Koalition hart« in ihrer Ablehnung dieses durchsichtigen Vorschlags. Man müsste ansonsten wirklich die Frage stelle, wozu man dann noch eine Kommission bräuchte. Bereits die "abgespeckte" Variante in dem Gesetzentwurf hat - leider - nicht mehr viel mit dem zu tun, was wir beispielsweise in Großbritannien mit der "Low Pay Commission" oder in Australien mit der "Fair Work Commission" haben.