Dienstag, 10. Juni 2014

Böse Krankenhäuser, rechnungsprüfend-korrekte Krankenkassen und eine Botschaft mit einer gehörigen Portion "Was für eine Sauerei"-Faktor. Oder ist es doch nicht so einfach?

Das ist wieder so eine Meldung mit dem gewissen "Was für eine Sauerei"-Faktor: Mehr als die Hälfte aller Klinik-Abrechnungen ist zu hoch, können wir einem Artikel auf Spiegel Online entnehmen. »Krankenhäuser rechnen offenbar in großem Stil zu ihren Gunsten ab ... Die Kassen beziffern den Schaden auf 2,3 Milliarden Euro.« Im ersten Halbjahr 2013 waren knapp 53 Prozent aller kontrollierten Rechnungen zu hoch. »Auf den beanstandeten Rechnungen wurden demnach Behandlungen aufgelistet, die nicht in dem behaupteten Umfang oder sogar überhaupt nicht erbracht wurden.«

Nun soll hier kein Methodenseminar veranstaltet werden - aber die Überschrift des Artikels ist schlichtweg Unsinn und sie führt den normalen Lesern auf eine falsche Fährte, die da lautet: Jede zweite Rechnung, die die Krankenhäuser ausstellen, sei falsch. Das ist aber bei weitem nicht der Fall. Denn die 53 Prozent beziehen sich nicht auf alle Rechnungen der mehr als 2000 Kliniken, sondern nur auf die geprüften Rechnungen. Und das ist allein deshalb schon ein erheblicher Unterschied, weil eben nicht alle Rechnungen geprüft wurden.

Hierzu erfahren wir dann Details: »In einem ersten Schritt werden die Abrechnungen auf Auffälligkeiten hin durchgesehen. Dies kann zum Beispiel ein zu langer Aufenthalt im Krankenhaus bei einer leichten Erkrankung sein. In einem zweiten Schritt werden dann bundesweit bis zu zwölf Prozent aller Abrechnungen genau geprüft.« Das bedeutet anders formuliert, dass sich die 53% "Trefferquote" nur auf eine Auswahl an Rechnungen beziehen und diese ist dann auch noch eine gleichsam vorselektierte, weil nur die mit Auffälligkeiten überhaupt in die Prüfgruppe kommen.

Der "wahren" Dimension nähert man sich über die andere Zahlenangabe an, die ebenfalls von den Krankenkassen veröffentlicht worden ist: Hochgerechnet beläuft sich der Schaden auf erhebliche 2,3 Milliarden Euro. Die nun aber muss man in Relation setzen zu den Gesamtausgaben der Kassen für die Krankenhausrechnungen und die beliefen sich auf mehr als 66 Mrd. Euro. Wir reden also, wie jeder im Kopf nachrechnen kann, von einem Schadensvolumen in einer Größenordnung von knapp 3,5% - unter der Voraussetzung, dass die Hochrechnung der Kassen stimmig ist.

Damit an dieser Stelle keine Missverständnisse entstehen – jede falsche Abrechnung ist natürlich ein Betrugsdelikt und muss verfolgt werden. Auf der anderen Seite muss man sich vor Augen führen, über was für ein System wir hier sprechen. Seit der Einführung eines Fallpauschalensystems auf der Basis von DRGs müssen tausende von Kodierungen vorgenommen werden, die dann am Ende einen bestimmten Geldbetrag ergeben. Von Anfang an war das System mit der Herausforderung konfrontiert, dass einzelne Akteure beispielsweise durch ein so genanntes Upgrading wirtschaftliche Vorteile realisieren können, in dem beispielsweise Patienten kränker gemacht werden, als sie in Wirklichkeit sind.

Bei einem dermaßen komplexen System wie der gegenwärtigen Krankenhausfinanzierung ist für jeden, der die Verhältnisse in vergleichbaren Systemen kennt, eine Quote von knapp 3,5 % an Falschabrechnungen – wobei es darunter schwere, aber auch leichte Fälle gibt – nicht wirklich überraschend. Wie gesagt, das ist keine Entschuldigung für falsches Abrechnungsverhalten zum Schaden der Beitragszahlergemeinschaft. Aber es relativiert doch ganz erheblich die durch die Überschrift im ersten Moment ausgelöste Dramatik der Befunde.

Dass die Kliniken der Betrugsvorwürfe der Krankenkassen bestreiten, wie Stefan Sauer berichtet, kann nicht überraschen. Aber schauen wir uns ihre Argumentation genauer an: Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat die Zahlen der Kassen in der Pressemitteilung (Kliniken weisen Vorwurf der Falschabrechnung zurück) kritisiert, denn:

»Richtig ist ..., dass mehr als 95 Prozent der Klinikrechnungen letztlich unbeanstandet bleiben (bei ca. 18,6 Millionen Behandlungsfällen jährlich).« Denn ein Großteil der Prüfthemen befasst sich mit Streitigkeiten, die aber nicht das betreffen, was wir normalerweise als "Abrechnungsbetrug" bezeichnen würden: »Rund 70 Prozent der Prüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) stellen in Frage, ob Patienten ins Krankenhaus hätten aufgenommen werden sollen bzw. ob sie früher hätten entlassen werden können. Hier geht es nicht um Abrechnungen, sondern um die Infragestellung der von den Krankenhäusern umfassend geleisteten medizinischen Versorgung.« Und auch die bereits genannten 2,3 Milliarden Euro werden seitens der Krankenhausgesellschaft infrage gestellt: »Bei den 2,3 Milliarden Euro handelt es sich um das von Krankenkassen ausgelöste Prüfvolumen. Das tatsächliche Kürzungsvolumen beläuft sich auf weniger als die Hälfte. Und dies auch nur, weil letztlich die Kliniken vielfach Rechnungskürzungen akzeptieren, da sie – von der überbordenden Flut von MDK-Prüfungen mürbe gemacht – kein Interesse an langwierigen Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen haben. Auch um den Verwaltungsaufwand zu minimieren und den Behandlungsfall endgültig abschließen zu können.«

Auf ein weiteres irritierendes Merkmal des bestehenden Systems muss abschließend noch aufmerksam gemacht werden. Guido Bohsem hat in seinem Artikel "Strafe muss sein" das Problem anhand einer aufschlussreichen Analogie deutlich zu machen versucht:

»Nehmen wir einmal an, die Spielregeln bei Verkehrskontrollen würden geändert. Die Polizei dürfte zwar weiterhin nach Ermessen Autos oder Motorräder anhalten, die Fahrzeuge untersuchen und den Fahrer pusten lassen. Sollte sich aber der Fahrer als ausreichend nüchtern herausstellen und auch sonst nichts zu finden sein, bekäme er 50 Euro. Die Polizei müsste also ein Knöllchen zahlen, weil sie das Fahrzeug unnötig kontrolliert hätte.«

Die meisten würden an dieser Stelle sicher einwenden, dass das eine recht absurde Vorstellung ist. Nicht so im Bereich der Krankenhausfinanzierung und der Prüfung der Richtigkeit der Rechnungen.

»Wenn der Medizinische Dienst der Krankenkassen die Rechnung eines Krankenhauses prüft, ohne fündig zu werden, muss er 300 Euro Strafe zahlen. Stellt sich hingegen heraus, dass die Klinik falsch abgerechnet hat, muss sie lediglich das zu viel gezahlte Geld zurückerstatten. Eine Strafe ist nicht vorgesehen.«

Dieses auf den ersten Blick eigenartige System wurde in die Welt gesetzt, damit die Kassen keinen Anreiz haben, willkürlich und so gut wie jede Abrechnung kritisch infrage zu stellen und die Krankenhäuser mit entsprechenden Prüfverfahren und Anfragen lahm zulegen. Guido Bohsem plädiert nun dafür, ein Gleichgewicht zu schaffen und auch die Kliniken für gezielte Falsch-Abrechnungen zu bestrafen - zumindest diejenigen, die besonders dreist schummeln. Das könnte, so seine Hoffnung, abschreckende Wirkungen auf die haben, die tatsächlich falsch abrechnen.

Ansonsten bleibt wieder einmal die Erkenntnis: Je komplizierter ein System ausgestaltet wird, vor allem wenn es um die Abrechnung von Geldern geht, desto größer werden die zahlreichen Schnittstellen zu auffälligem bzw. illegalem Verhalten. Was wieder einmal für die Devise sprechen würde: Keep it simple. In den allermeisten Feldern der Sozialpolitik ein hoffnungsloser Traum.