Man ist ja einiges gewohnt in der Gesundheitspolitik - aber die Situation der Hebammen ist ein bemerkenswertes Beispiel für eine höchst gefährliche Entwicklung, einen ganzen Berufsstand fundamental zu beschädigen. Es muss schon einiges schief laufen, wenn sogar die BILD-Zeitung mit den für sie typischen großen Buchstaben die Frage in den Raum wirft: "Droht vielen Hebammen jetzt das Aus?". Es wird vor einem Zusammenbruch der freiberuflichen Geburtshilfe gewarnt und ein rasches Eingreifen der Politik gefordert. Schaut man auf die Seite des Deutschen Hebammenverbandes (DHV), dann springt einem diese Meldung entgegen: "Versicherungsmarkt für Hebammen bricht zusammen!". Und der Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BfHD) titelt: "Versicherungsmarkt für Hebammen bricht zusammen – Berufsstand bedroht. Hebammenverbände fordern gemeinsam: endlich politische Lösung der Haftpflichtproblematik". Was ist hier los? Gab es nicht erst Ende des vergangenen Jahres positive Nachrichten zu vernehmen? So konnte man beispielsweise Ende Dezember 2013 lesen "Krankenkassen übernehmen steigende Versicherungskosten für Hebammen". »Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wird die Prämienerhöhung bei den Berufshaftpflichtversicherungen für Hebammen übernehmen. Einen entsprechenden Vertrag hat der GKV-Spitzenverband jetzt mit den Verbänden der Hebammen unterzeichnet.« Und jetzt die apokalyptisch daherkommenden Nachrichten aus der Welt der Hebammen. Wie passt das zusammen?
Es geht im Kern um ein nicht(-mehr-)lösbares Versicherungsproblem. Denn die Hebammen sind ein wichtiger Teil des Systems der Geburtshilfe. Die findet in unterschiedlichen Konfigurationen statt - der Normalfall ist die Entbindung in einem Kreißsaal einer Klinik. Daneben gibt es eine deutlich geringere Zahl an Hausgeburten und Entbindungen in so genannten "Geburtshäusern", das sind von Hebammen geleitete Einrichtungen (eine Übersicht über die "Geburtshäuser" findet man hier).
»Die Zahl der Kinder, die in Deutschland außerhalb von Kliniken geboren werden, liegt seit Jahren zwischen rund 10.000 und 12.500. Genaue Zahlen gibt es nicht, es gibt kein eigenes Register. Für 2011 weist das Statistische Bundesamt 662.685 lebend geborene Kinder aus, davon kamen laut Qualitätsbericht für außerklinische Geburtshilfe (QUAG) 10.829 nicht in einem Krankenhauses zur Welt. Die meisten von ihnen waren als außerklinische Geburten geplant. Laut QUAG beginnen in Deutschland knapp zwei Prozent aller Schwangeren die Geburt außerhalb einer Klinik« (Quelle: Hausgeburten in Deutschland). Der aktuellste "Qualitätsbericht 2011. Außerklinische Geburtshilfe in Deutschland" wurde 2013 publiziert.
Es gibt etwa 21.000 Hebammen in Deutschland, zwischen 3.000 und 3.500 arbeiten freiberuflich. Sie spielen neben den wie gezeigt wenigen Hausgeburten und Entbindungen in Geburtshäusern eine wichtige Rolle in den Kliniken, bei den Beleggeburten. Etwa 20% der Geburten entfallen auf diese drei Fallkonstellationen. Unabdingbare Voraussetzung für eine Tätigkeit in der Geburtshilfe ist das Vorhandensein einer Berufshaftpflichtversicherung, denn wenn bei der Geburt etwas schief geht, dann sind die Folgen in aller Regel gravierend und lebenslang. Die folgende Abbildung verdeutlicht in trockenen Geldbeträgen ausgedrückt das derzeit eskalierende Problem.
Es gibt vielfältige Gründe für die Explosion der Haftpflichtversicherungsbeträge, die von den Hebammen zu zahlen sind: »Durch den medizinischen Fortschritt leben Kinder mit Geburtsschäden länger. Anders als früher bekommen sie heutzutage auch den Erwerbsschaden ersetzt, wenn sie keinen Beruf ausüben können. Es wird mehr geklagt. Musste ein Versicherer 1998 noch 640.000 Euro für einen typischen Geburtshilfe-Fall aufbringen, waren es 2010 schon 3,3 Millionen Euro« (zit. nach: Geburtshilfe ist kaum noch bezahlbar, FAZ, 15.02.2014).
Wir werden mit einem Versicherungsproblem konfrontiert, das sich verdichten lässt auf das Phänomen "nicht-mehr-versicherbarer Risiken". Insofern müssen wir von einem "Marktversagen" sprechen, die Anführungszeichen sollen zugleich signalisieren, dass hinter dem "Marktversagen" neben grundlegenden versicherungstechnischen Problemen (relativ kleine Grundgesamtheit und speziell bei den freiberuflichen Hebammen eine erhebliche Konzentration der abzusichernden Risiken aus Sicht der Versicherer) auch eine Kostenentwicklung hinsichtlich der tatsächlichen Schadensentwicklung steht, die vor allem durch die expandierende Rechtsprechung bedingt ist, denn die Schadensausgleichsansprüche der Betroffenen wurden immer weiter ausgedehnt, was natürlich das abzusichernde Risiko für die Versicherer immer teurer macht - und das in Verbindung mit einer schwierigen Kalkulationsbasis.
Dem in der FAZ am 15.02.2014 erschienen Beitrag "Geburtshilfe ist kaum noch bezahlbar" kann man einige wichtige Hintergrundinformationen entnehmen:
Auslöser für die gegenwärtige Eskalation im Bereich der Haftpflichtprämien ist der aufgrund der steigenden Schadenszahlungen angekündigte Ausstieg der Nürnberger Versicherung. Die wird sich zum 1. Juli 2015 aus dem Haftpflichtgeschäft mit Hebammen zurückziehen. Das Problem: Damit kommt es zu einem Zusammenbruch der beiden letzten bestehenden Versicherungskonsortien, die bislang noch Deckungen angeboten haben. Denn die Nürnberger Versicherung war Bestandteil sowohl eines Konsortiums mit der Versicherungskammer Bayern und der R+V für Mitglieder des Deutschen Hebammenverbandes sowie gemeinsam mit der R+V für den Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands. Wenn nun kein zusätzlicher Marktteilnehmer die Lücke in den Konsortien schließt, dann könnten die Hebammen ab Sommer 2015 ohne jeglichen Versicherungsschutz dastehen. In dem Artikel wird darauf hingewiesen, dass die Situation in den Krankenhäusern, die auch ihre Hebammen absichern müssen, zwar noch nicht so dramatisch ist wie bei den freiberuflich tätigen Hebammen, aber seit dem Ausstieg der Zurich Versicherung aus dem Markt vor 14 Monaten muss auch hier eine deutliche Verschärfung der Situation konstatiert werden. Nur noch vier Versicherungen bieten Haftpflichtversicherungen an, und deren Bestandskunden mussten zwischen 10 und 30 % mehr für ihre Versicherung zahlen. Kunden der aus dem Markt ausgeschiedenen Zurich Versicherung, die gezwungen waren, sich einen neuen Anbieter zu suchen, mussten sogar zwischen 50 und 100 % höhere Prämien bezahlen. Die Situation spitzt sich weiter zu, denn – so der FAZ-Artikel – der Wettbewerb ist zum Erliegen gekommen, weil die vier Versicherungen Allianz, Ergo, R+V und die Versicherungskammer Bayern zwar den Schutz für Bestandskunden aufrechterhalten, aber kaum noch neue Kunden annehmen. Sehr interessant ist auch der Hinweis, dass es zwar mit der HDI-Gerling einen neuen Anbieter auf dem Markt gibt, diese Versicherung aber nur Policen anbietet, die nach einem ganz anderen Prinzip funktionieren als die bisherigen Haftpflichtversicherungen: es geht um "Claims made". Darunter ist zu verstehen, dass der Kunde sich seinen Versicherungsschutz jeweils für das Jahr eingekauft, in dem der Schaden gemeldet wird. Für die Versicherung ist das ein vorteilhaftes Prinzip, denn dadurch kann die Kalkulationsbasis für die notwendige Bildung von Reserven erheblich verbessert werden. Außerdem vermeidet die Versicherung damit ein Problem, das in der Vergangenheit dazu geführt hat, dass beispielsweise die Zurich Versicherung ihrer haftpflichtversicherten Risiken viel zu schwach mit Reserven unterlegt hatte und eine halbe Milliarde Euro nach schießen musste. Das hat dann letztendlich zu dem vollständigen Rückzug aus dem Markt geführt. Wie jede Medaille, so hat auch dieses Prinzip seine Schattenseite, denn der Versicherungsnehmer verliert bei diesem Prinzip seine bisherige Sicherheit, dass Risiken, die in der Vergangenheit verursacht wurden, adäquat abgesichert sind.
Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, wie man mit dem Problem der zunehmend nicht-mehr-versicherbaren Risiken umgehen kann – und muss, will man nicht die aufgrund von Versicherungslosigkeit resultierende Aufgabe der freiberuflich tätigen Hebammen provozieren. Versicherungsökonomisch gesprochen kann es nur die Lösung geben, dass von einer normalen versicherbaren, d.h. vor allem für die Versicherer kalkulierbaren Basis abgesehen, die darüber hinausgehenden Risiken gleichsam sozialisiert werden müssen. Anders ausgedrückt: es muss eine gesetzliche Haftungsobergrenze für Hebammen geben. Für Zahlungen, die über diese Grenze hinaus gehen, muss der Steuerzahler oder die Sozialversicherung aufkommen. An dieser Stelle ist also der Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU) gefordert – und zwar schnell, denn ansonsten muss vor dem Hintergrund des am Horizont drohenden Zustandes der Versicherungslosigkeit ab Juli 2015 jeder werdenden Mutter eine Hebammen-Betreuung in der bisherigen Form bereits mit Beginn ihrer Schwangerschaft, also ab dem Herbst dieses Jahres, versagt werden, da die elementare Voraussetzung für die Berufsausübung dann zum Zeitpunkt der Entbindung nicht mehr vorliegen würde.
Allerdings kann man an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob man den Weg einer Sozialisierung dieser spezifischen Risiken, die mit der Geburtshilfe verbunden sind, nicht gleich „richtig“ institutionell umsetzt, d.h. zu diskutieren wäre eine staatliche Versicherungslösung, dies auch vor dem Hintergrund der damit möglichen Reduzierung von Verwaltungs- und sonstigen Kosten.
Viele strukturelle Fragen, die über die aktuell sich zuspitzende Problematik der drohenden Versicherungslosigkeit hinausgehen, sind bereits aufgearbeitet worden in dem 2012 veröffentlichten Gutachten des IGES-Instituts für das Bundesgesundheitsministerium: "Versorgungs- und Vergütungssituation in der außerklinischen Hebammenhilfe. Ergebnisbericht für das Bundesministerium für Gesundheit", so lautete der Titel dieser umfassenden Bestandsaufnahme. In diesem Gutachten konnte man bereits das nachlesen, was sich jetzt gleichsam zuspitzt:
»In einigen Bereichen haben die Hebammen ihr Leistungsangebot in der letzten Zeit bereits spürbar eingeschränkt, weil für sie diese Leistungen nicht mehr rentabel zu erbringen waren. Dies betrifft neben Geburtsvorbereitungs- und Rückbildungskursen vor allem die außerklinische Geburtshilfe sowie die Betreuung von Geburten in 1:1-Betreuung. Ausschlaggebend für den Rückzug aus der Geburtshilfe waren die drastischen Erhöhungen der Berufshaftpflichtprämien in jüngster Zeit. Für die Versorgungssituation kritisch zu beurteilen ist diese Entwicklung vor allem hinsichtlich der 1:1- Betreuung von Geburten, da die Hebammen die Nachfrage hier bereits in der Vergangenheit aus Kapazitätsgründen nicht voll befriedigen konnten. Auch für die Wochenbettbetreuung überschritt bei einem großen Teil der freiberuflich tätigen Hebammen (rd. 70 %) die Nachfrage das Angebot« (IGES 2012: xxi).
Aber auch wenn die Große Koalition nun noch rechtzeitig in die Gänge kommen sollte und eine entsprechende Auffanglösung installiert, bleiben grundsätzliche Fragen, die mit dem Thema verbunden sind. Es geht hier nicht nur um eine hoch emotionalisierte Frage aufgrund des Gegenstandes der Hebammen, also den Geburten, sondern ganz grundsätzlich um die Frage der Ausgestaltung der Gesundheitsberufe in Deutschland. Denn über die konkrete Frage der Prämienhöhe ihrer Berufshaftpflichtversicherungen stellt sich die Frage nach der Verortung der Hebammen im Versorgungssystem in Deutschland. Und damit vergleichbare Fragen, die wir auch bei anderen Gesundheitsberufen wie den Physiotherapeuten, Ergotherapeuten oder Logopäden haben. Das ganze Feld ist im wahrsten Sinne des Wortes verseucht mit Interessen geleiteten Abgrenzungen und der Sicherung von eigenen Claims. Vor dem Hintergrund der existenziellen Bedrohung, die sich nunmehr tatsächlich für einen Zweig der Hebammen aufgebaut hat, hätte man beispielsweise eine massive Intervention der Gynäkologen auf der erste Seite für den Berufsstand erwartet. Doch da ist bislang noch nicht sehr viel gekommen.
Fazit: Auch wenn es aktuell primär darum gehen muss, den existenzbedrohenden Prozess eines Abrutschens in die Versicherungslosigkeit durch eine schnelle und zupackende politische Lösung zu stoppen, muss daran erinnert werden, dass wir dringend endlich eine systematische Diskussion und vor allem Entscheidungen brauchen, wie es mit der systematischen Verortung der einzelnen Gesundheitsberufe, die es neben den klassischen Medizinern gibt und die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wie auch der Ausdifferenzierung der Bedarfe an Bedeutung gewinnen werden müssen, weitergehen soll.
Übrigens – nicht nur die deutschen Hebammen befinden sich erheblich unter Druck. Vergleichbares wird aus unserem Nachbarland Frankreich berichtet, in dem ja bekanntlich die Geburtshilfe, anders als in vielen Regionen in unserem Land, aufgrund der hohen Geburtenrate eher das Problem hat, dass die steigende Nachfrage kaum noch gedeckt werden kann. Dort tobt aktuell eine Auseinandersetzung, bei der die Hebammen versuchen, ihren Berufsstand aufzuwerten. Weiterführend hierzu der interessante ARTE-Beitrag: "Der Zorn der französischen Hebammen". Dazu ebenfalls der Filmbeitrag "Deutsche und französische Hebammen vor Kollaps". Ach ja, einen Unterschied gibt es allerdings zwischen dem deutschen und dem französischen Hebammen. Die französischen Hebammen befinden sich bereits seit längerem in einem Streik. In Deutschland ist die Situation – noch – anders. Hier hofft man auf die GroKo. Mal sehen, wie das ausgeht.