Freitag, 19. Juli 2013

Ein mehrfaches Drama in Zahlen: Zur gesundheitlichen Situation von langzeitarbeitslosen Menschen

Es gibt in der Arbeitsmarktforschung eine lange Traditionslinie von Forschungen, die eine besondere gesundheitliche Belastung von arbeitslosen Menschen, vor allem hinsichtlich der zerstörerischen Wirkung lang andauernder Arbeitslosigkeit, nachweisen können. Man denke hier nur an die für die Sozialforschung so wichtige "Marienthal-Studie", die die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs dieses österreichischen Ortes in den 1930er Jahren untersuchte (vgl. hierzu: Jahoda, M., Lazarfeld, P. F. und Zeisel, H.: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Frankfurt: Suhrkamp 1975).

»Gesundheitlich eingeschränkte Arbeitnehmer tragen ein höheres Risiko, entlassen zu werden, und sie bleiben überdurchschnittlich lange arbeitslos. Zudem kann Arbeitslosigkeit gesundheitliche Probleme auslösen oder verstärken. Auch die wahrgenommene Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes hat bereits deutlich negative Auswirkungen auf die Gesundheit«: Mit diesen Worten beschreibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) einführend die Informationsplattform "Arbeitslos – Gesundheit los – chancenlos?", auf der man zahlreiche Materialhinweise zum Thema finden kann.

Nun wurde im Deutschen Ärzteblatt eine kompakte und eindrucksvolle Übersichtsarbeit von Britta Herbig, Nico Dragano und Peter Angerer über die vorliegenden epidemiologischen Befunde zum Thema veröffentlicht:

Herbig, B. et al. (2013): "Gesundheitliche Situation von langzeitarbeitslosen Menschen", in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 23-24, 2013, S. 413-419 (» PDF)

Eingangs beschäftigen sich die Autoren mit der Frage nach der Henne und/oder dem Ei - hier reformuliert als Frage nach Selektion und/oder Kausalität:

Selektion bedeutet, dass chronisch erkrankte Personen ein erhöhtes Risiko haben, arbeitslos zu werden. In der Folge sind Menschen mit solchen Erkrankungen in der Gruppe der Arbeitslosen überrepräsentiert (=> Krankheit verursacht Arbeitslosigkeit).

Kausalität hingegen bedeutet, »dass Arbeitslosigkeit selber zu einem Auslöser von Erkrankungen werden kann. Arbeitslosigkeit stellt einerseits eine schwere psychische Belastung für die Betroffenen dar, die besonders auf längere Sicht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko mit sich bringt. Andererseits ist ökonomische Armut eine wichtige Determinante von Gesundheit und Lebenserwartung – weil zum Beispiel gesunde Ernährung, Lebensumwelt, die Teilhabe an sozialen Aktivitäten und der Zugang zu medizinischer Versorgung vom Einkommen abhängen«. Es geht also um => Arbeitslosigkeit verursacht Krankheit.

Die Antwort auf die Frage nach Selektion und/oder Kausalität ist ein "Sowohl-als-auch": Vorliegende Metaanalysen kommen auf der Basis longitudinaler Studien zu dem eindeutigen Schluss, dass sowohl Selektion als auch Kausalität für Morbidität und Mortalität von Arbeitslosen verantwortlich sind. Herbig et al. formulieren die Schlussfolgerung so:

»Selektion und Kausalität interagieren und verstärken sich im Sinne eines Teufelskreises, indem eine chronisch kranke Person arbeitslos wird (Selektion) und die Arbeitslosigkeit dann die Krankheit verschlimmert (Kausalität), was wiederum die Chancen vermindert, wieder einen Arbeitsplatz zu finden.«

Der Beitrag von Herbig et al. werden zahlreiche beklemmende Befunde zum Thema präsentiert. Hier eine Auswahl, ansonsten sei hier die Lektüre des Originalbeitrags empfohlen:

Eine der größten aktuellen Metaanalysen mit 42 eingeschlossenen Längsschnittstudien aus verschiedenen Ländern und über 20 Millionen Personen zeigt einen durchschnittlichen Risikoquotienten von 1,63 für die Gesamtmortalität bei Arbeitslosen. Eine Übersetzung gefällig?
»Das heißt, Arbeitslosigkeit ist laut dieser Metaanalyse mit einem 63 % höheren Sterblichkeitsrisiko verbunden im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (Beschäftigte und Nicht-Beschäftigte; beim Vergleich nur mit Beschäftigten war der Unterschied noch größer« - nämlich 75%!

Auch speziell für Deutschland wurde erheblich erhöhte Mortalitätsrisikowerte gemessen:
»Bei Versicherten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) mit 1 bis unter 2 Jahren Arbeitslosigkeit zeigte sich im Vergleich zu den durchgängig Berufstätigen eine 1,6-fach erhöhte Mortalität, bei Personen mit mindestens 2 Jahren Arbeitslosigkeit in den vorangehenden 3 Jahren war im Folgezeitraum das Mortalitätsrisiko 3,4-fach erhöht.«

Hinsichtlich der psychischen Erkrankungen ergibt sich das folgende Bild: »Zwei Metaanalysen weisen mit hohen Effektstärken eine deutlich schlechtere psychische Gesundheit von Arbeitslosen im Vergleich zu Erwerbstätigen nach«. Einige Studien verdeutlichen eine Zunahme der psychischen Erkrankungen mit der Dauer der Arbeitslosigkeit.

Aus dem Formenkreis der psychischen Erkrankungen wird hinsichtlich der Arbeitslosen am häufigsten über Depressionen diskutiert: In einer zitierten Studie »wurde nahezu eine Verdopplung des Anteils an Personen mit klinisch relevanten depressiven Symptomen bei Arbeitslosen gefunden« und eine eigene Studie der Autoren des Übersichtsartikels speziell zu Langzeitarbeitslosen über 50 Jahre kommt zu nlch höheren Werten. Auch hinsichtlich der Angststörungen weisen einige Studien auf eine deutlich höhere Auftrittswahrscheinlichkeit bei Arbeitslosen hin. In einer Studie wird davon berichtet, dass 47 % der Langzeitarbeitslosen in Deutschland Anzeichen einer Angststörung zeigen.

Auch die körperlichen Erkrankungen und ihr Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit werden analysiert. Beispiel Herzinfarkte: »Auswertungen von Krankenkassendaten von Personen, die aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus in die Arbeitslosigkeit gerieten, zeigten, dass Krankenhauseinweisungen aufgrund von Herzinfarkten mit der Dauer der Arbeitslosigkeit anstiegen: In den ersten 8 Monaten betrug das relative Risiko 1,49 ..., nach 8 bis 16 Monaten 1,82 ... und nach mehr als 16 Monaten 3,08«. Das sind gewaltige Unterschiede.
Eine Studie aus den USA »ergab, dass – unter Kontrolle anderer kardiovaskulärer Risikofaktoren – das Risiko für einen Herzinfarkt ... und einen Schlaganfall ... nach Eintritt einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit um mehr als das Doppelte anstieg im Vergleich zu weiterhin berufstätigen Personen«.

Herbig et al. weisen mit Blick auf die um uns herum tobende Wirtschaftskrise in vielen europäischen Staaten auf die im wahrsten Sinne des Wortes tödlichen Folgen der Massenarbeitslosigkeit hin, mit der die europäischen Krisenstaaten konfrontiert sind - sie verdeutlichen dies am Beispiel der Selbsttötungen:

»Bereits in der Weltwirtschaftskrise 1929 kam es zu einem Anstieg der Anzahl an Suiziden ... In ähnlicher Form wiederholt sich dies in der heutigen Europäischen Finanzkrise, wie Daten aus Griechenland, Italien, Großbritannien und Gesamteuropa zeigen ... Stuckler und Kollegen ... berechneten in einer Analyse der Mortalitätstrends in den 26 Staaten der Europäischen Union für die Jahre 1970 bis 2007, dass ein Anstieg der Arbeitslosenquote um 1 % mit einer Erhöhung der Suizidrate von 0,79 % einherging.«

Neben der offensichtlichen überdurchschnittlichen Betroffenheit der Arbeitslosen von gesundheitlichen Einschränkungen gibt es ein weiteres Problem, auf das die Autoren hinweisen: »Arbeitslose suchen trotz vorhandener Notwendigkeit seltener Hilfe im Gesundheitssystem; dieser Effekt bleibt auch bestehen, wenn für soziodemografische Variablen, soziale Unterstützung und persönliche Finanzen adjustiert wird«.

Wenn es belegbar so ist, »dass Arbeitslose eine gesundheitliche Risikogruppe darstellen«, wie Herbig et al. schlussfolgern, dann sollte neben anderen Maßnahmen gerade mit Blick auf die Gruppe der langzeitarbeitslosen Menschen dringend das Thema Alternativen zu der derzeit ablaufenden Passivierung dieser Menschen in einem erwerbsarbeitslosen Zustand mit Transferleistungsbezug auf die Tagesordnung gesetzt werden - und damit haben wir einen weiteren und wichtigen Argumentationsbaustein für die Verfügbarmachung und Sicherstellung einer sinnvollen öffentlich geförderten Beschäftigung. Nicht nur, aber auch, damit die Menschen nicht im wahrsten Sinne des Wortes vor die Hunde gehen.