Man kann so sicher wie das Amen in der Kirche davon ausgehen, dass ein Thema der vor uns liegenden Bundestagswahl das Thema Alterssicherung und vor allem die drohende Altersarmut für immer mehr Menschen sein wird. Wie das heute schon aussehen kann, hat Andreas Wenderoth in seiner Reportage "Am Ende" exemplarisch aufgezeigt: »Fast jeder zweite Berufstätige in Deutschland fürchtet, dass die Rente im Alter nicht zum Leben reichen wird. Für Andrea Linke aus Berlin ist diese düstere Ahnung längst Realität. Aus dem Alltag einer Frau, die vier Jahrzehnte lang geschuftet hat und trotzdem mit der Armut kämpft.« Die 65jährige Frau arbeitet für acht Euro in der Stunde als Springerin für eine Zeitarbeitsfirma, die sie an Supermärkte in Berlin und dem Umland vermittelt. Sie arbeitet, weil sie muss, weil die Rente nicht reicht. Man muss sich die folgenden Worte, die wie Hammerschläge eines langen Lebens wirken, zu Gemüte führen:
»Außenhandelskauffrau gelernt, Sachbearbeiterin bei der Bewag und im VEB Energiekombinat. An der Kasse im Konsum und nach der Wende dann 15 Jahre bei Kaisers. 44 Jahre lang hart gearbeitet, um nun knapp über dem Sozialhilfeniveau angekommen zu sein. Dabei war sie nie faul, hat nichts verspielt oder übermäßig viel gewagt. Hat nie auf Kosten anderer gelebt und immer fleißig für ihre Rente eingezahlt. Ist ausdauernd die Runden eines langen Arbeitslebens gelaufen, um dann auf der Zielgeraden zu merken, dass das Versprechen eines würdigen Lebensabends ein Missverständnis gewesen ist.«
Was für die einen eine biografische Katastrophe darstellt, wird von den anderen als mögliche Quelle zukünftigen Geschäfts gesehen. In seinem Artikel "Der Renten-Paternalist" berichtet Martin Reeh über Heribert Karch, den Geschäftsführer des Versorgungswerks Metallrente, in seinem früheren Leben war er Leiter der Abteilung Tarifpolitik beim IG-Metall-Vorstand.
Rein geschäftlich gesehen muss er sich über solche Reportagen freuen, denn sie produzieren natürlich auch Ängste, in die gleiche Situation abzurutschen - und das braucht er als Resonanzboden, denn er hat ein Problem: »Das Versorgungswerk, eine Einrichtung von Metallarbeitgebern und IG Metall zur betrieblichen Altersvorsorge, steht unter Druck. Die Jüngeren schließen nicht genügend Betriebsrenten ab.« Dieses Problem könnte man lösen, zum Beispiel in dem man die betriebliche Altersvorsorge verpflichtend ausgestaltet. Nicht schlecht wäre es, wenn die Beschäftigten automatisch einzahlen und nur dann davon befreit werden, wenn sie ausdrücklich darauf verzichten.
Wobei man dabei dann auf die Uninformiertheit und auch auf die Bequemlichkeit der Betroffenen setzt, dass sie das nicht tun werden. Nun kann man als Anbieter so etwas vorschlagen, aber das wird dann als reine Produktwerbung identifiziert. Was macht man in so einer Situation? Man nimmt einen renommierten Namen und lässt eine Studie erstellen, die das, was man sagen wollte, selbst sagt. Und man kann dann auf die Studie verweisen. Und genau so ist es gekommen, zudem wurde das ganze Thema auch noch verpackt in eine Untersuchung, die den hier genannten Aspekt scheinbar nur als Nebenthema hat. Martin Reeh schreibt dazu:
»Man nehme: einen möglichst prominenten Wissenschaftler als Herausgeber (den Jugendforscher Klaus Hurrelmann). Einen möglichst originellen Aufhänger, der mit der eigentlichen Botschaft nichts zu tun hat ("Jugend optimistisch wie noch nie"), aber sie mit ins Blatt hievt. Und setze auf Medien, denen beim Wort "Studie" alle Sicherungen durchbrennen, die sie sonst davor schützen, PR-Müll ungefiltert abzudrucken. Was funktioniert hat.«
Und das ganze hat wunderbar geklappt, so landete der Bericht über diese Studie beispielsweise auf der Titelseite der "Berliner Zeitung" am 2. Mai dieses Jahres: "Jugend so optimistisch wie noch nie" lautete die Schlagzeile - aber bereits der Untertitel bringt es auf den Punkt: »95 Prozent der jungen Leute in Deutschland schätzen ihre Situation als sehr gut ein, zeigt eine Studie. Aber wegen mangelnder Vorsorge droht vielen Altersarmut. Forscher fordern deshalb ein Umsteuern in der Rentenpolitik,« müssen wir das lesen. Es überrascht uns jetzt nicht, dass wir weitere Informationen und entsprechende Zusammenfassungen der von Klaus Hurrelmann herausgegebenen Studie auf der Website der Metallrente finden.
Und da darf doch der demografische Wandel nicht fehlen. Immer mehr ältere, immer weniger jüngere Menschen, das kennen wir alle als Argumentationsmuster. Da muss man "Reserven" mobilisieren auf dem Arbeitsmarkt. Neben der Förderung der Zuwanderung von Arbeitskräften, derzeit ja auch ein sehr aktuelles Thema, gibt es doch noch "die" Frauen, die in solchen Zusammenhängen dann gerne erwähnt werden und hierbei in Deutschland ganz besonders deren Arbeitszeit, denn bei der sehen die Arbeitsmarktforscher den größten möglichen Entlassungseffekt für den Arbeitsmarkt. Hier aber nicht im Sinne einer Arbeitszeitverkürzung gemeint, sondern im Gegenteil im Sinne ihrer Ausdehnung. Natascha Lenz thematisiert das in ihrem Artikel "Frauen könnten mehr arbeiten". Sie berichtet: Die Hälfte der in Teilzeit arbeitenden Frauen würde ihre Wochenarbeitszeit gerne ausweiten, hat das IAB herausgefunden. Die Senkung der Teilzeitbeschäftigtenquote um ein Drittel und die Umwandlung in Vollzeitbeschäftigung könne ein zusätzliches Arbeitsvolumen von 3,25 Milliarden Stunden bringen, heißt es in der Studie „Die Zukunft der Arbeitswelt – auf dem Weg ins Jahr 2030“ vom März 2013, die von einer Expertenkommission für die Robert-Bosch-Stiftung erstellt worden ist. Aber auch in diesem Beitrag wird auf die Hemmfaktoren für eine Realisierung dieses Ansatzes hingewiesen: Neben der Frage der Kinderbetreuung wird richtigerweise auf die "Minijob-Falle" abgestellt. Der Minijob erweise sich nicht als Brücke in den regulären Arbeitsmarkt. Und Lenz bringt die kritische Sichtweise auf den Punkt:
»Arbeitgeber nutzten Minijobs offenbar als „Exit-Option“, um tarifliche und gesetzliche Standards zu umgehen und damit ihre Arbeitskosten zu senken, warnt auch das IAB. Doch die Signale aus der Politik sind entmutigend. Erst zu Beginn des Jahres ist die steuerfreie Einkommensgrenze von 400 auf 450 Euro im Monat gestiegen. Die Fehlanreize haben damit noch an Gewicht gewonnen – mit fatalen Auswirkungen.«
So ist es leider. Und hier schließt sich auch wieder der Kreis zu dem ersten Beitrag, der hier besprochen wurde - zum Themenfeld Altersarmut, vor allem der Frauen:
»Statt sich eine eigenständige Alterssicherung aufzubauen, tappen viele Frauen von der Minijob- in die Armutsfalle. Das Problem der niedrigen Renten aufgrund der Teilzeitbeschäftigung hat sich insgesamt durch die Ausweitung der Minijobs noch verschärft. Für 41 Prozent der zwischen 1962 und 1966 geborenen Frauen sei eine Rente unter 680 Euro zu erwarten, haben Barbara Riedmüller und Ulrike Schmalreck von der Freien Universität Berlin herausgefunden.«
Die erwähnte Studie "Die Lebens- und Erwerbsverläufe von Frauen im mittleren Lebensalter.
Wandel und rentenpolitische Implikation" von Riedmüller und Schmalreck wurde 2012 veröffentlicht und ist eine gute Analyse der "Minijob-Fallen"-Problematik, vor allem für die Frauen aus der Baby-Boomer-Generation.
Faktoren wie Ehegattensplitting, die traditionelle Aufteilung in Lohnsteuerklasse 3 für den Hauptverdiener und Klasse 5 für die dazuverdienende Ehefrau oder die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse bauen weitere Hürden auf für eine Aufstockung der Arbeitszeit bei den Frauen. Interessant ist die abschließende Bilanzierung in dem Artikel: Zwar seien sich die Arbeitsmarktexperten darin einig, dass sich „das Machtgefüge auf dem Arbeitsmarkt“ allmählich ändert. Doch sei der „Leidensdruck“ vieler Unternehmen noch nicht groß genug.
Dann runden wir das Bild mal ab mit einem Blick auf Frauen, die zu uns kommen und hier nicht nur arbeiten wollen (müssen), sondern das in weit mehr als wir unter Vollzeit tun (müssen): »Immer mehr Polinnen arbeiten als Hilfspflegerinnen in deutschen Privathaushalten. Die Vermittlungsagenturen versprechen teilweise eine Betreuung rund um die Uhr«, schreibt Barbara Dribbusch in ihrem Artikel "Wenig eigenes Leben in der Fremde". Viele osteuropäische Betreuerinnen haben in den Privathaushalten kaum freie Stunden für sich. Oft wechseln sich die Hilfspflegerinnen in einem Zwei- oder Dreimonatsrhythmus mit einer Kollegin aus dem Heimatlandab, denn: nur die freie Zeit in der Heimat werde von den Frauen als "das eigene Leben angesehen", heißt es in einer Studie der Hochschule St. Georgen zu "ausländischen Pflegekräften in Privathaushalten", so Dribbusch in ihrem Artikel. Und weiter erfahren wir:
»Viele der Betreuerinnen aus Osteuropa arbeiten schwarz. Etwas über 4.000 Hilfskräfte aus Polen sind in Privathaushalten direkt legal angestellt. Betreuerinnen kommen ansonsten legal über polnische Zeitarbeitsfirmen, die mit hiesigen Agenturen kooperieren und ihre Betreuungskräfte nach Deutschland entsenden. Viele verdienen dabei mit: Bekommt eine Hilfspflegekraft netto 1.000 Euro monatlich, muss der Kunde in Deutschland um die 1.800 Euro an die polnische Leiharbeitsfirma zahlen. Die Kunden haben zusätzlich noch einige hundert Euro jährlich an Gebühren für die deutsche Vermittlungsagentur zu berappen. Kost und Logis müssen für die Betreuerin frei sein. Die Zeitarbeitsfirma in Polen entrichtet die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern nach polnischem Recht.«
Aber so gut wie keiner bei uns will etwas von diesem Thema wissen - alle ducken sich weg. Das habe ich schon vor längerer Zeit erfahren müssen, als ich im Anschluss an Medienberichte vorgeschlagen hatte, das Thema offensiv zu diskutieren und Lösungen zu entwickeln, die zum einen akzeptieren, dass wir natürlich das enorme Wohlstandsgefälle zwischen uns und Osteuropa ausnutzen, um eine für die Haushalte bezahlbare häusliche Pflege zu organisieren, auf der anderen Seite muss man aber die teilweise katastrophale Vereinzelung der osteuropäischen Frauen verbessern helfen. Die Resonanz war gleich Null und alle hoffen, dass es irgendwie so weitergeht wie bisher.
Sell, S. (2010): Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 09-2010, Remagen, 2010
Aber es werde selbst für die Leiharbeitsfirmen immer schwieriger, Personal zu finden, berichtet Dribbusch und zitiert Katarzyna Jedrzejek von Aterima med, einer Leiharbeitsfirma in Krakau: »Viele der Betreuerinnen wollten lieber schwarzarbeiten, weil sie hofften, damit mehr zu verdienen. Außerdem hätten die deutschen Kunden immer größere Erwartungen an die betreuerischen Dienstleistungen, so Jedrzejek. "Sie erwarten, dass das Personal Referenzen, Zertifikate und sehr gute Sprachkenntnisse hat."«
Viele der Frauen halten das Heimweh in der Fremde nicht aus. Hinweise auf die billigsten Telefon- und Internettarife für den Kontakt von Deutschland nach Polen nehmen auf der Homepage von Aterima med breiten Raum ein. Die Leiharbeitsfirma hat auch eine Beratungshotline, wenn man nicht klar kommt mit demenzkranken Pflegebedürftigen. Was mag sich alles an Schicksalen hinter solchen Informationen verbergen? Aber wen interessiert es? So lange man diese Frauen in dieser Schattenwelt lassen kann, wo sie mit ihrer Arbeit unser Pflegesystem stabilisieren, wird sich ohne Druck (von wem?) nichts ändern.