Die medizinische Technik, Krankheitsrisiken vorherzusagen, macht starke Fortschritte. Es droht eine "unversicherbare Klasse", so die These von Urban Wiesing in einem Gastbeitrag für die "taz". Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Uni Tübingen. Er ist Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Er geht zurecht von einem Grundtatbestand der Versicherungsökonomie aus: Versicherungen versichern Risiken, aber keine Gewissheiten. »Ein brennendes Haus lässt sich nicht mehr gegen Feuer versichern. Und ein Haus, von dem man weiß, dass es in zehn Jahren brennen wird, lässt sich nur zu hohen Prämien gegen Feuer versichern. Der Wert des Hauses muss durch die Prämien in zehn Jahren angespart sein - zuzüglich Kosten und Gewinn für die Versicherung.«
Wenn man das jetzt überträgt auf den Bereich der privaten Krankenversicherung, dann wird das Problem erkennbar: Wenn die private Versicherung weiß, dass in zehn Jahren der Versicherte an dieser oder jener Krankheit erkranken oder gar versterben wird, dann muss sie sich genau so verhalten wir im Fall des Hauses. Mit Blick auf die zunehmende Zahl an Untersuchungen, mit denen zukünftige Krankheiten diagnostiziert werden können (=> prädiktive Medizin), droht eine "uninsurable social underclass". Werden die Betroffenen auf die GKV verwiesen, dann hätte der fehlende Kontrahierungszwang der PKV dieser wieder einmal zur "Rosinenpickerei" verholfen. Aus dem Dilemma resultiert für Wiesing ein weiterer Argumentationsbaustein für die Einführung einer "Bürgerversicherung": »Je mehr Risiken durch prädiktive Diagnostik zur Gewissheit werden, umso schwieriger wird es, betroffene Menschen privat gegen Krankheit zu versichern. Für dieses Problem gibt es eine einfache und umfassende Lösung: die Bürgerversicherung. Sie unterlässt, wozu private Versicherer gezwungen sind, nämlich die individuelle Risikokalkulation. Sie muss jeden Bürger aufnehmen, und dann ist es egal, ob der Bürger weiß, dass er in Zukunft an einer schweren Erkrankung leiden wird oder nicht. Und jeder Bürger kann die Vorteile der prädiktiven Diagnostik nutzen, ohne befürchten zu müssen, nicht mehr versicherbar zu sein.«
Kehren wir zurück in die teilweise an sich schon ungemütliche Gegenwart: "Die Scheu vor den schweren Psycho-Fällen", so hat Heike Haarhoff ihren Artikel überschrieben, in dem sie von Vorwürfen der Ersatzkassen berichtet an die Adresse der 21.000 ambulant tätigen Psychotherapeuten: Diese würden bevorzugt Patienten mit leichten Störungen behandeln und die schweren Fälle auf die lange Bank schieben. Und wenn man schon mal dabei ist, kritisiert man die Psychotherapeuten auch wegen ihres angeblichen Unwillens, sich fortzubilden in Gruppentherapie, mit der mehr Patienten schneller geholfen werden könne. Die Kassen fordern neue Ausbildungswege, mit der die Gruppentherapie erschlossen werden kann und setzen parallel auf Veränderungen im Vergütungssystem, denn bei der Höhe der Vergütung solle auch die Schwere der Störung eine stärkere Berücksichtigung finden. Die Bundespsychotherapeutenkammer wies die Vorwürfe natürlich zurück und erkennt in der Fokussierung auf Gruppentherapie das, was sicher auch maßgeblich dahinter steht: Eine pauschale Einsparungsmöglichkeit. Mehr Leute in der gleichen Zeit, so läuft das ja auch in der Automobilindustrie.
Nun könnte man den Kassen zurufen - was sind schon die paar Therapien, die ihr heute finanzieren müsst, gegen das, was auf euch zukommt, wenn man sich verdeutlicht, wie viele neue psychische "Krankheiten"auf das System zukommen könnten, wenn das neue psychiatrische Handbuch namens DSM-5 am 22. Mai 2013 veröffentlicht wird. Dazu gibt es ein launisches Interview mit dem amerikanischen Psychiater Allen Frances, der die Vorgängerversion verantwortet hat und nun die neue bekämpft. Die New York Times nennt Frances den einflussreichsten Psychiater der USA. Er lehrte an der Duke University in North Carolina und war maßgeblich an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM-3 und DSM-4 beteiligt. Gerade erschien sein Buch "Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen". Seine grundsätzliche Kritik steckt in der folgenden Aussage von ihm: »Das System der psychiatrischen Diagnosen ist viel zu beliebt geworden. Wann immer Sie lesen, dass es eine Zunahme einer Störung gibt, haben sich nicht etwa die Menschen verändert, sondern die Bezeichnungen.« Auch Frances kann natürlich eines der vielen Kopfschütteln auslösenden Beispiele nennen, die da auf uns zukommen werden: »Es wurden Störungen mit aufgenommen, die an der Grenze zur Normalität liegen. Störungen, die es davor nicht gab. Nehmen wir "Binge-Eating-Disorder". Wenn das Handbuch raus ist, wird es diagnostiziert werden. Es bedeutet, ein Mal die Woche zu viel zu essen, und das über 12 Wochen. Ich habe das sicher auch, wie 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung. Das wären 10 bis 15 Millionen Amerikaner, die dann plötzlich eine Störung haben.« Eine andere neue "Diagnose" hat auch was: "Disruptive Mood Dysregulation Disorder", so lautet die neue Bezeichnung für Wutausbrüche. Francis dazu: »Es gibt so gut wie keine Forschung dazu. Man würde Ihnen Medikamente geben, Neuroleptika. Davon würden Sie 10 Prozent Ihres Gewichts zunehmen. Um Sie zu beruhigen, würde man Sie dick machen.« Das kann ja heiter werden.
Aber man darf das Thema nicht so generell abwertend beenden - das bedient dann doch nur vordergründige Skepsis gegen jede Form der psychiatrischen oder psychotherapeutischen Hilfe. Deshalb an dieser Stelle der Blick auf eine Gruppe von Menschen, von denen wirklich viele ausgebrannt sind und denen seit nunmehr 60 Jahren u.a. von einer Institution geholfen wird, die einen derart altbackenen Namen hat, dass der schon wieder was hat: Das Müttergenesungswerk. Daniela Martens erzählt uns in ihrem Beitrag "Mama, entspann dich!" für den "Tagesspiegel" die Geschichte dieser Institution. Zugleich ist der Artikel ein interessanter Ritt durch 60 Jahre Frauen- und Familienentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland.