"Mit Hartz IV ist es schlimmer geworden" meint der Arbeitsrechtler Peter Schüren von der Universität Münster in einem Interview, in dem es um Arbeitsverträge geht, bei denen die Mitarbeiter übervorteilt werden von den Arbeitgebern. Schüren vermutet nach seinen Beobachtungen einen Anstieg dieser Fälle. Worum geht es dabei? Schüren nennt Beispiele:
»Zum Beispiel werden Arbeitsverhältnisse im Billiglohnbereich mit einer Art Akkordsystem versehen, das zwangsläufig die Stundenlöhne noch weiter absenkt, weil die Vorgaben viel zu hoch sind. In einem Fall sollten Friseure einen täglichen Mindestumsatz erreichen, damit überhaupt ein Lohn bezahlt wird. Oder Mitarbeiter mit geringem Einkommen müssen gratis Überstunden leisten. Solche Fälle nehmen zu ... Meist sind es einfachste Tätigkeiten, die keine Ausbildung voraussetzen. Und Branchen in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad minimal ist. Und es betrifft vermutlich oft Menschen, die am Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben. Unternehmen nutzen diese Situation aus, zur Kostensenkung mittels schlechter Arbeitsbedingungen.«
Schüren stellt einen eindeutigen Bezug her zu den Hartz-Gesetzen: »Mit den Hartz-Reformen nahm das zu. Denn Hartz IV hat den Druck auf die Menschen stark erhöht, jedes Arbeitsangebot anzunehmen.« Natürlich wird er auch gefragt, ob es Lösungsansätze gibt - und er benennt einen wichtigen Punkt:
»Wenn man den Betroffenen einen Vorwurf machen will, dann den, dass sie sich gewerkschaftlich viel zu wenig organisieren. Diese Menschen machen sich nicht klar, dass sie ihre Lage nur durch eine konsequente kollektive Interessensvertretung verbessern können. Wenn sie das nicht tun, werden sich die schlechten Bedingungen kaum ändern ... Wer sich als Einzelner wehrt, sollte am besten vorher einen neuen Job haben. Der Arbeitnehmer hat im laufenden Arbeitsverhältnis bei Konflikten nur eine Chance, wenn es im Unternehmen einen Betriebsrat gibt, der den Konflikt für ihn mit dem Arbeitgeber austrägt.« Interessant und wichtig auch seine Einschätzung, was vor Gericht passiert, wenn es denn mal zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommt: Auf Urteile sollte man seiner Meinung nach eher nicht hoffen »... Vergleiche sind häufiger. Dann gibt es etwas Geld, und der Arbeitsplatz ist meist weg. Strafverfahren wegen sittenwidriger Löhne sind ganz selten. Etwas häufiger kommt es vor, dass Sozialversicherungsbeiträge bei Dumpinglöhnen nachgefordert werden.«
Bleiben wir in Themenfeld Arbeitsmarkt. Jan Mielke beschäftigt sich in seinem Artikel "Wenn ein Job nicht reicht" mit den Aussagen einer Studie, dass in Berlin immer mehr Menschen zusätzlich zu ihrer regulären Beschäftigung arbeiten. Berlin hat ja schon länger den Ruf weg als Stadt der Aufstocker und der prekären Arbeit. »Knapp 70.000 Berufstätige arbeiteten im vergangenen Jahr zusätzlich zu ihrer regulären Beschäftigung in einem Minijob; 2003 waren es noch gut 27.000.« In den vergangenen zehn Jahren lag damit der Anstieg in Berlin am höchsten in allen Bundesländern - 158%.
»Auch bundesweit ist der Trend sichtbar: Die Anzahl der so genannten „Multi-Jobber“ mit zwei oder mehr Arbeitsverhältnissen hat sich in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt: von 1,15 auf 2,57 Millionen.« Wie immer kommt jetzt ein "aber": Berlin liegt hinsichtlich des Anteils der "Multi-Jobber" keinesfalls an der Spitze: Knapp 6% aller Beschäftigten haben hier mehrere Jobs – deutlich weniger als etwa in Baden-Württemberg, das auf einen Spitzenwert von knapp 10% kommt, gefolgt von Bayern. Insgesamt muss eine Schlussfolgerung aus der Studie, die von Gewerkschaften in Auftrag gegeben wurde, zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden, weil wir schlichtweg nicht wissen, ob das so ist: »Eine neue Studie zeigt nun, dass für immer mehr Menschen in der Hauptstadt ein Job zum Leben nicht reicht.« Das kann so sein, es kann aber auch sein, dass der eine oder die andere einen Zweit-Job ausübt, um damit den jährlichen Sommerurlaub im Ausland zu finanzieren. Es sei ihnen gegönnt und sowieso deren Sache, aber das wäre natürlich eine andere Situation, der auf einen zweiten oder dritten Job angewiesen ist, um existenziell über die Runden zu kommen. Die gibt es auch, aber wir wissen empirisch zu wenig darüber.
Wir haben die Exkursion zum Thema Arbeitsmarkt mit Hartz IV begonnen und damit soll es auch vorerst enden: "Das Märchen vom faulen Hartz-IV-Empfänger" - so ist ein Artikel überschrieben, der von "Welt Online" publiziert wurde, wo gerade erst eine gegenteilige Berichterstattung gelaufen ist, so dass man den Eindruck bekommen kann, hier will man sich etwas entschuldigen für die vorangegangene Berichterstattung. Während angeblich laut einer Allensbach-Umfrage 37 Prozent der befragten Bürger davon überzeugt sind, dass Hartz-IV-Empfänger gar nicht arbeiten wollen, wird Heinrich Alt von der BA zitiert mit den Worten »Wir reden hier über Einzelfälle, über ein Randphänomen«. Der Artikel beruft sich dann auf eine Studie des IAB der Bundesagentur und fasst deren Befunde zusammen:
»Danach waren zwei Drittel der Hartz-IV-Empfänger gar nicht untätig. 30 Prozent arbeiteten – die meisten davon als Minijobber. Zehn Prozent machten eine Ausbildung, weitere zehn Prozent absolvierten eine Maßnahme des Jobcenters, weitere zehn Prozent kümmerten sich um ihre kleinen Kinder und fünf Prozent pflegten Familienangehörige. Der überwiegende Teil der Hartz-IV-Bezieher ist daher gar nicht zur Arbeitssuche verpflichtet. Dabei ist die Arbeitsmotivation unter den Leistungsbeziehern nach den Erkenntnissen der Forscher recht hoch – sogar höher als in der übrigen Bevölkerung: Drei Viertel erklärten, "Arbeit zu haben ist das Wichtigste im Leben". 80 Prozent würden auch dann gerne arbeiten, wenn sie das Geld nicht brauchen. Allerdings handelt es sich hierbei um die Selbsteinschätzung der Arbeitslosen.«
Die Ausführungen beziehen sich auf die IAB-Studie "ALG-II-Bezug ist nur selten
ein Ruhekissen" von Jonas Beste, Arne Bethmann und Mark Trappmann, die allerdings schon 2010 veröffentlicht worden ist.