Es fängt schon damit an, dass bei der Diskussion über "die" Pflege immer wieder munter alles miteinander vermengt wird, was aber teilweise ganz unterschiedlichen Systemen folgt. So die Vermischung von Kranken- und Altenpflege beispielsweise.
Aber man muss es ja auch zugeben: Die Welten der Pflege sind sehr unübersichtlich. Und man kann bei einem Blick auf die mediale Berichterstattung schnell das Gefühl bekommen, dass es überall irgendwie brennt, aber zugleich fällt es schwer, das alles in einen Rahmen zu bringen, der bei der Einordnung helfen kann.
Und wenn auch große Unterschiede bestehen zwischen Krankenhaus- und Altenpflege, im Leben der Betroffenen und derjenigen, die sich um sie kümmern, gibt es immer wieder Situationen, die sich nicht an die versäulten Systeme halten und in ihnen bleiben. Darüber berichtet der neue "Pflege-Report 2018" mit dem Schwerpunkt „Qualität in der Pflege“, der gerade veröffentlicht wurde: Pflege-Report 2018: Zu viele Antipsychotika-Verschreibungen, Dekubitus-Fälle und Krankenhauseinweisungen in deutschen Pflegeheimen, so ist die Meldung des herausgebenden AOK-Bundesverbandes dazu überschrieben.
Zwischen deutschen Pflegeheimen bestehen deutliche Qualitätsunterschiede bei der Gesundheitsversorgung. Das zeigt eine aktuelle Analyse, die das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) im Rahmen des Pflege-Reports 2018 durchgeführt hat.
»Danach ist die Zahl der Antipsychotika-Verordnungen, Dekubitus-Fälle und Krankenhaus-Einweisungen in vielen Pflegeheimen zu hoch. Die Ergebnisse machen die zum Teil gravierenden Qualitätsunterschiede zwischen den Pflegeheimen deutlich. Das WIdO hat erstmals auch Versorgungsbereiche ausgewertet, die bislang nicht Bestandteil der gesetzlich vorgesehenen Qualitätssicherung sind, da sie über das Sozialgesetzbuch XI hinausgehen.«
Damit wird hier ein Bereich angesprochen, der sich ebenfalls durch eine große Unübersichtlichkeit auszeichnen und der uns gleich noch an anderer Stelle begegnen wird: Wer kontrolliert eigentlich wie die Pflegeheime? Diese Frage hört sich einfacher an als das, was man dann zur Kenntnis nehmen muss.
Was haben die Wissenschaftler vom WIdO nun eigentlich gemacht? »Neben den Antipsychotika-Verordnungen, den Dekubitus-Raten sowie vermeidbaren Krankenhauseinweisungen wurden außerdem noch der ärztliche Versorgungsgrad sowie Harnwegsinfekte in Pflegeheimen gemessen. Grundlage waren Abrechnungsdaten von AOK-versicherten Pflegebedürftigen aus rund 5.600 Pflegeheimen.«
»Ein wesentlicher Befund: Je 100 Heimbewohner treten jährlich im Durchschnitt 8,5 neue Dekubitus-Fälle auf. Das auffälligste Viertel der Heime mit 12 oder mehr Fällen hat dreimal so viele Fälle wie das Viertel der Heime mit den niedrigsten Raten ... Ein weiteres Ergebnis ist auffällig: 41 Prozent der Demenzkranken im Pflegeheim erhalten mindestens einmal pro Quartal ein Antipsychotikum. Dabei verstößt die dauerhafte Gabe von Antipsychotika an Demenzkranke gegen medizinische Leitlinien. Genauso wie die Häufigkeit von Dekubitus-Fällen ist auch die Zahl der Antipsychotika-Verordnungen ein wichtiger Indikator, um die Qualität der Versorgung in einem Heim zu bewerten. Im auffälligsten Viertel der Pflegeheime sind es so viele, dass statistisch gesehen jeder Bewohner mit Demenz in zwei Quartalen eine Antipsychotikaverordnung erhält. Damit liegt diese Rate um das 1,5-fache höher als beim Viertel der Heime mit den niedrigsten Werten ...
Problematisch erscheinen auch Kennzahlen, die die Schnittstelle zwischen Pflegeheim und Krankenhaus beleuchten. Krankenhausaufenthalte können für die in der Regel hochbetagten, kognitiv eingeschränkten Menschen im Pflegeheim selbst zu einem Gesundheitsrisiko werden. Die Auswertungen des WIdO zeigen nun, dass jeder fünfte Pflegeheimbewohner innerhalb eines Quartals ins Krankenhaus eingewiesen wird. Gleichzeitig gelten aber 40 Prozent dieser Einweisungen in Fachkreisen als potenziell vermeidbar. Bei einer besseren ambulant-ärztlichen Versorgung wären sie zum Teil gar nicht notwendig ... Pro Jahr summieren sich die so genannten ambulant-sensitiven Krankenhausfälle durchschnittlich auf 32 Fälle pro 100 Bewohner. Die fünf Prozent der Heime, die am auffälligsten sind, haben doppelt so hohe Raten wie der Durchschnitt. Das heißt, dort sind es 63 Fälle pro 100 Bewohner.«
Die im Pflege-Report 2018 präsentierten und hier nur auszugsweise zitierten Befunde sind natürlich aus der Vogel-Perspektive über alle Heime erstellt worden. Darunter lieget die Ebene des einzelnen Heims und der dort lebenden Menschen. Aus dieser Welt stellvertretend dieser Bericht von Sascha Adamek und Tina Friedrich: Berliner Heimaufsicht prüft Vorwürfe gegen Vitanas-Pflegeheime: »Seit knapp einem Jahr gehört die Vitanas-Pflegekette einem amerikanischen Investor. Seitdem soll sich die Personalsituation laut Betriebsrat deutlich verschlechtert haben: Überlastungsanzeigen der Beschäftigten häuften sich, außerdem gebe es massive Beschwerden von Angehörigen.«
Es geht um das Pflegeheim Rosengarten der Vitanas-Kette in Berlin Lankwitz. "Das Pflegeheim wird zum Wartesaal auf den Tod", so wird Henry Winz zitiert, dessen Schwiegervater seit zwei Jahren in dem Heim untergebracht ist. Er zählt »eine Reihe von Indizien auf, die auf Zeit- und Personalmangel hindeuten. Wochenlang sei der Fahrstuhl außer Betrieb gewesen, in den auch ein Rollstuhl passt - und damit seinem Schwiegervater "der einzige Weg an die frische Luft" versperrt.«
Er gehört zu »drei Dutzend Unterzeichnern eines Offenen Briefes an die Vitanas-Führung ... Darin werfen Angehörige und Betreuer dem US-Finanzinvestor "Oaktree" - der die Vitanas-Kette vor einem Jahr übernommen hatte - vor, das Heim verwahrlosen zu lassen. "Schmutzige Flure und Zimmer, verdreckte Balkone, Reparaturen, die nicht mehr erledigt werden", darüber hinaus "immer weniger Betreuungspersonal, unwissendes, täglich wechselndes Leasingpersonal" - daraus resultierend die Sorge vor Pflegefehlern ... Diese Sorge teilt auch Harald Hahne, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von Vitanas. Die Überlastung erlebten die Pflegerinnen und Pfleger jeden Tag: "Tätigkeiten, die sonst von fünf Pflegekräften durchgeführt werden, werden plötzlich nur noch durch drei Pflegekräfte erledigt". Die gleiche Arbeit und Qualität zu erbringen, funktioniere schon "rein rechnerisch nicht".«
An dieser Stelle, vor allem hinsichtlich der Nennung des Finanzinvestors Oaktree, wird sich der eine oder andere Leser dieses Blogs erinnern - da war doch was? Genau, am 15. Dezember 2017 wurde hier dieser Beitrag publiziert: Pflege-Business mit neuen Rekordmeldungen: Mit 1,1 Milliarden Euro kauft ein Private Equity-Investor einen Pflegeheimbetreiber. Darin findet man diese Hinweise:
»So hat eine amerikanische Gesellschaft den sechstgrößten deutschen Heimbetreiber aufgekauft. 13 Pflegeheime gehen in den Besitz eines US-Investors, einer vermeintlichen „Heuschrecke“. Hamburgs größter privater Pflege-Anbieter, Pflegen & Wohnen, ist in die Hände der US-amerikanischen Heuschrecke Oaktree gefallen. Oaktree verwaltet 100 Milliarden US-Dollar, etwa 40 Prozent davon haben die Manager aus Kalifornien weltweit in Unternehmen investiert. Und die haben außerdem die Vitanas Holding erworben, die mit gut 7.700 Pflegeplätzen sechstgrößte Einrichtung dieser Art ... Mit der Vitanas Holding sowie der Hamburger Pflege & Wohnen (insgesamt mehr als 8.300 Pflegeplätze) kann Oaktree auf dem Pflegeheimmarkt den sechsten Rang unter den deutschen Anbietern einnehmen, knapp hinter dem Berliner Unternehmen Kursana mit seinen gut 9.000 Residenzplätzen. Kursana gehört zur Berliner Dussmann Gruppe. Die marktführenden Ketten Curanum und Casa Reha mit knapp 25.000 Pflegeplätzen in 221 Heimen gehören der börsennotierten französischen Korian. Der nächstgrößere Rivale, Alloheim Senioren-Residenzen mit Sitz in Düsseldorf, 143 Heimen und gut 14.000 Plätzen, gehört dem Finanzinvestor Carlyle, der aber schon wieder einen neuen Eigentümer sucht.«
Die hier konkret werdende Entwicklung wird auch von anderen Medien aufgegriffen, so von Spiegel Online unter der Überschrift Finanzinvestoren stecken Milliarden in Gesundheitsfirmen: »Ob Pharmaunternehmen oder Pflegeheime - Finanzinvestoren stecken Milliarden in den europäischen Gesundheitsmarkt. Begehrt sind deutsche Firmen.« Beteiligungsfirmen haben 2017 in Europa 12,8 Milliarden US-Dollar (10,9 Milliarden Euro) in die Gesundheitsbranche investiert - drei Mal so viel wie im Jahr davor. Der Großteil entfällt auf deutsche Firmen. Speziell zu den Pflegeheimen erfahren wir:
»Gerade Alten- und Pflegeheime sind bei Beteiligungsfirmen begehrt. Laut der Beratungsfirma Terranus übernahmen Investoren 2017 hierzulande mehr als 40.000 Pflegebetten - fast doppelt so viele wie 2015.
"Private Betreiber profitierten davon, dass es im bisher zersplitterten Markt einen Bedarf nach Zusammenschlüssen gibt", sagt Terranus-Geschäftsführer Hermann Josef Thiel. So sei der größte Pflegeheimbetreiber hierzulande die französische Kette Korian, die durch Übernahmen stark gewachsen sei und nun 28.000 Betten zähle.«
Man sollte sich keinerlei Illusionen hingeben, was der enorme Renditedruck der Anlagegesellschaften in einem dermaßen sensiblen Bereich wie der Altenpflege bedeutet, in dem die Personalkosten zwischen 70 bis 80 Prozent der Gesamtkosten liegen - vor allem vor dem Hintergrund des hier fatal sich auswirkenden Geschäftsmodells der Anleger: Beteiligungsfirmen übernehmen Unternehmen oft mit dem Ziel, sie nach einigen Jahren mit Gewinn zu veräußern. Und dazu werden sie konsequent auf Wiederverkaufslinie gebracht, koste es, was es wolle. Dazu auch der Beitrag Bei den einen zu wenig, von dem anderen eine Menge. Die Altenpflege und das Kapital vom 3. November 2017.
Hier können nur Bruchstücke aus der aktuellen Berichterstattung präsentiert werden - und zur "Abrundung" sei mal wieder eine dieser zentralen Lebenslügen der deutschen Pflegepolitik aufgerufen. gemeint ist die Tatsache, dass viele Pflegebedürftige nur deshalb zu Hause verbleiben können, weil sie und ihre Angehörigen auf die Unterstützung durch osteuropäische Pflege- und Betreuungskräfte zurückgreifen können, die monatelang in den Haushalten der Betroffenen leben und arbeiten.
Der Deutschlandfunk hat dieses Thema wieder einmal aufgegriffen in einer Sendung unter dem Titel: Osteuropäische Pflegekräfte daheim statt Pflegeheim? »In Deutschland sind knapp drei Millionen Menschen auf Hilfe im Alltag angewiesen, wobei der weitaus größte Teil von Ehepartnern oder Verwandten betreut wird. Als Alternative vermitteln spezielle Agenturen aber auch Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa. Das ist preiswert - aber auch eine gute Lösung?« So die Fragestellung der Sendung, in der mit Prof. Dr. Bernhard Emunds, dem Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen, Geschäftsführung und Vorstandsmitglied des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege, zwei ganz unterschiedliche Gesprächspartner vertreten waren.
Die Position von Emunds wird so zusammengefasst: »In der sogenannten 24-Stunden-Pflege leben Polinnen und andere Mittel- und Osteuropäerinnen mit in den Haushalten der Pflegebedürftigen. Dort übernehmen sie Pflegeaufgaben, hauswirtschaftliche Tätigkeiten und bei Demenz auch die Aufsicht der zu pflegenden Person. Nimmt man die Zeiten ihrer Einsatzbereitschaft, die sie vor Ort verbringen, hinzu, arbeiten diese Pflegekräfte an sieben Tagen die Woche – abgesehen von kurzen Ruhepausen rund um die Uhr. Eine solche Erwerbstätigkeit ist ausbeuterisch. In den Phasen ihres Pflegeeinsatzes in Deutschland haben diese Migrantinnen keine Zeit, in der sie dem Pflegebedürftigen oder seiner Familie nicht zur Verfügung stünden. Das verstößt gegen das Menschenrecht auf Freizeit. Deshalb muss die Nachfrage nach sog. 24-Stunden-Pflege soweit wie möglich reduziert werden: durch eine Verbesserung der stationären Angebote und durch neue Pflegewohngruppen sowie durch individuell zugeschnittene Kombinationen unterstützender Dienstleistungen.«
Und Frederic Seebohm? Seine Perspektive auf das Thema Leist sich so: »Täglich sind mehr als 300.000 Pflegebedürftige auf Betreuung in häuslicher Gemeinschaft existentiell angewiesen. Wer das nicht will, muss zusätzlich zu schon jetzt 800.000 stationären Plätzen weitere 3.750 Heime bauen – und zusätzlich 50.000 examinierte Pflegekräfte herbeizaubern. Auch müsste man den Willen der Betroffenen brechen, die zu Hause bleiben wollen. Betreuungspersonen aus Osteuropa sind nicht ersetzbar. Denn Angehörige sind selber pflegebedürftig, noch berufstätig oder schlicht nicht existent. Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) kämpft für qualifizierte, rechtssichere, bezahlbare Betreuung in häuslicher Gemeinschaft, Hand in Hand mit ambulanten Pflegediensten. Das ist in Österreich seit 11 Jahren üblich. Als Vorsorgeanwalt und Geschäftsführer des VHBP nehme ich nicht hin, dass die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft tabuisiert und über häufige Schwarzarbeit hinweggesehen wird. Pflegebedürftige dürfen möglichst in ihrem Zuhause leben und sterben. Das ist kein Privileg für die oberen Zehntausend. Das ist einfach Menschlichkeit für z.B. eine pensionierte Lehrerin, also die Mitte der Gesellschaft.«