Und nicht wenige pflegende Angehörige besorgen sich Unterstützung bei Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, weil es zwischen dort und hier ein enormes Wohlstandsgefälle gibt. Die dann eine Zeit lang, oftmals im Wechselmodell, einige Monate hier sind und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren und nach einiger Zeit erneut aufbrechen. Jeder weiß, über wen wir hier sprechen. Vor allem Frauen aus osteuropäischen Ländern. Und wir reden hier nicht über ein abseitiges Thema. Wenn man bei Google den Suchbegriff "24-Stunden-Pflege" eingibt, um nur ein Beispiel zu nennen, dann bekommt man dieses Ergebnis: 575.000 Ergebnisse in 0,48 Sekunden.
Über die vielen überwiegend aus Osteuropa stammenden Menschen, die hier bei uns in den Familien bei den Betroffenen arbeiten und dort leben, wurde in diesem Blog immer wieder berichtet. Beispielsweise in diesem Beitrag vom 5. September 2016: Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier "Sklavinnen" unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun?. Dort findet man dieses Zitat:
»Rund um die Uhr, unterbezahlt und unversichert. "Pflegesklavinnen" nennen manche diese Menschen, oft aus Osteuropa, die teilweise weniger als 800 Euro im Monat verdienen – für einen Job, für den es eigentlich drei Pflegekräfte bräuchte. Die Frauen, selten Männer, arbeiten als 24-Stunden-Kräfte, auch "Live-Ins" genannt, in Privathaushalten. Von dort aus versorgen sie Menschen Tag und Nacht, gehen einkaufen, kochen, geben Tabletten und sind Gesprächspartner. Und weil sie keine Rechte haben, werden sie oft mit Füßen getreten.«
Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine Schattenwelt, was sich dann auch in den Zahlen niederschlagen muss: Experten schätzen, dass es zwischen 100.000 und 300.000 - ganz überwiegend Frauen - sind, ohne die hier das Pflegesystem kollabieren würde.
Letztlich ist es so gut wie unmöglich, eine osteuropäische 24-Stunden-Pflegerin legal in Deutschland zu beschäftigen, auch wenn immer wieder gerne anderes behauptet wird. Dabei muss man auch die problematische Rolle vieler Vermittlungsagenturen ansprechen, wie das in diesem Zitat deutlich herausgearbeitet wird:
»Die Frauen kommen meist im Wechsel mit einer Kollegin für jeweils drei Monate nach Deutschland. Agenturen bezeichnen die Einsätze als Dienstreisen oder schicken die Frauen von polnischen Unternehmen aus nach Deutschland. Solche Dienstreisen sind jedoch Steuerbetrug im Herkunftsland. Und eine Entsendung würde nur funktionieren, wenn dabei deutsche Arbeitszeitgesetze und deutscher Mindestlohn gezahlt würden. Das geschieht bei der 24-Stunden-Pflege nicht. Sehr beliebt ist deshalb die angebliche Selbstständigkeit solcher Helfer. Das Problem: Wer über Wochen oder Monate in einem Haushalt arbeitet, keine eigenen Arbeitsmittel einsetzt und sich die Arbeitszeit nicht selbst einteilen kann, der ist nicht selbstständig.«
Und dieses Thema wurde nun auch aufgerufen vom EWSA - dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Der EWSA hatte bereits im Januar 2016 die Initiativstellungnahme Die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften veröffentlicht, die dann auch im September 2016 offiziell verabschiedet worden ist.
Der Ausschuss hat nun einen genaueren Blick auf die Situation in Deutschland in diesem Bereich geworfen und die Befunde unter dieser Überschrift veröffentlicht: Europa braucht eine proaktive Langzeitpflegepolitik. Die dort präsentierte Bestandsaufnahme aber lässt den noch positiv klingenden Titel in den Hintergrund treten. Auf einer Veranstaltung zu diesem Thema wurden "die schlimmen Arbeitsbedingungen der in deutschen Haushalten beschäftigten Pflegekräfte" offengelegt. Daraus einige wichtige Aspekte:
Die Branche in Deutschland sei hochgradig fragmentiert und unreguliert: »Unterbezahlten Pflegekräften werden grundlegende arbeitsrechtliche und Sozialschutzansprüche verweigert, und die Pflegebedürftigen haben keine Gewähr für die Qualität der Pflege, die sie erhalten.« Auch hier wird eine verheerende Diagnose präsentiert: » (Die) Arbeitsbedingungen in den deutschen Haushalten sind mitunter so schlecht, dass sie an Ausbeutung grenzen und an moderne Sklaverei erinnern.«
„Es ist höchste Zeit, faire Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte aus Osteuropa, die Tag und Nacht die deutschen Familien bei der Pflege unterstützen, zu fordern. Sie sollen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden. Ihre Arbeit muss anerkannt und Arbeitsrechte beachtet werden“, wird Sylwia Timm vom Projekt „Faire Mobilität“ des DGB zitiert. „Die 24-Stunden- Pflege und -Betreuung ist Arbeitsausbeutung“, mahnte sie und wies darauf hin, dass die in diesem Rahmen geleistete Arbeit nicht von der Arbeitszeitrichtlinie und anderen einschlägigen Regelungen gedeckt ist. Oft müssen die Pflegekräfte länger als gesetzlich erlaubt arbeiten, ohne Pausen, Ruhezeiten oder freie Tage. Auch die Entlohnung ist nicht angemessen, und Überstunden oder Bereitschaften werden überhaupt nicht bezahlt. Sozialversicherungsbeiträge werden entweder gar nicht oder nur in der geringstmöglichen Höhe entrichtet. Die Pflegekräfte haben keine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung und leben oft unter erbärmlichen Umständen, etwa in ungeheizten Räumen, oder müssen im selben Raum wie die pflegebedürftigen Menschen, um die sie sich kümmern, schlafen.
Untersuchungen haben ergeben, dass in etwa jedem zehnten deutschen Haushalt mit einem Pflegebedürftigen eine Hilfskraft beschäftigt wird, die rund um die Uhr mit in der Wohnung lebt und arbeitet.
„Wichtig ist, dass die im Haushalt von Fachkräften erfolgende Pflege professioneller gestaltet und reguliert wird“, erklärte der Berichterstatter der EWSA-Stellungnahme, Adam Rogalewski. Die Branche sei zudem sehr fragmentiert, und einige Agenturen vermittelten Pflegekräfte zu Bedingungen, die auf Sozialdumping hinausliefen.
Der EWSA, so wird deren Berichterstatter Adam Rogalewski zitiert, schlägt unter anderem vor, im Haushalt lebende Pflegekräfte auf dem EU-Arbeitsmarkt dadurch anzuerkennen, dass eine gemeinsame Definition für diesen Beruf festgelegt wird und diese Pflegekräfte mit allen Rechten, die ihnen aufgrund der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften der EU und der Mitgliedstaaten zustehen.
Aber ist das nicht - eigentlich - schon der Fall?
„Es existieren bereits klare Anforderungen an rechtlich legale Beschäftigungsverhältnisse für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft (sogenannte 24-Stunden-Betreuung). Woran es jedoch mangelt, ist Rechtssicherheit, und das befeuert nur den Schwarzmarkt, der in unserem Bereich mit 90 % unglaublich groß ist. Teilweise werden unpraktikable Scheinlösungen gefordert, die nicht umsetzbar sind. Das betrifft beispielsweise die Anstellung der Betreuungspersonen durch die Privathaushalte oder eine Ausweitung der stationären Versorgung – diese Lösungen sind für mich nicht realistisch“, sagte Juliane Bohl, von der Hausengel Holding AG, einem Mitglied des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP).
Doch nur wenige Pflegekräfte sind direkt von der Pflegefamilie angestellt, viele werden über Agenturen vermittelt. Den Aussagen der Betroffenen zufolge übernehmen die Agenturen jedoch nur selten Verantwortung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und bieten mitunter Scheinverträge an, die den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise entsprechen.
Barbara Janikowska, eine polnische Pflegerin, die die letzten acht Jahre in deutschen Haushalten tätig war, berichtete auf der Veranstaltung des EWSA, dass ihre Verträge niemals der ursprünglichen Arbeitsbeschreibung der Agentur entsprochen hätten.
Frau Janikowska zufolge diktieren die Agenturen die Bedingungen auf dem Markt für im Haushalt lebende Pflegekräfte. „Die potenziellen Arbeitnehmer sind buchstäblich Kanonenfutter. Sklaven im modernen Europa, die die Kassen der Agenturen füllen und ihre Gewinne steigern sollen. Um jeden Preis!!! Nie werde ich die Stellen vergessen, wo ich von 5 Uhr früh bis 22 Uhr abends arbeiten musste“, so die Pflegerin.
Der EWSA befindet sich nun auf einer Informationsreise durch einzelne EU-Mitgliedsstaaten und die Ergebnisse sollen zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 2018 in einem entsprechenden Bericht vorgelegt werden.
Allerdings wird nicht nur der eine oder andere an dieser Stelle ratlos zurückbleiben und fragen, wo sind denn nun Lösungs- oder Gestaltungsvorschläge, um die seit langem und auch von vielen anderen immer wieder beklagten Zustände zu verändern? Wenn man denn Kopf aus dem Sand ziehen soll, müsste man ja auch irgendwas erkennen können/wollen.
Und genau hier sind wir an einem Punkt angekommen, der erklärt, warum die Politiker - gar nicht als Vorwurf gemeint - das Thema meiden wie der Teufen das Weihwasser. Wie man die Sache auch dreht und wendet - immer wird man sich die Finger schmutzig machen müssen, weil es innerhalb unseres Systems keine wirklich befriedigende Lösung geben kann, bei der nicht gegen eine der ja durchaus begründeten Regulierungen von Arbeitsverhältnissen und -bedingungen verstoßen wird.
Das Dilemma, in dem man sich hier bewegen muss, habe ich in dem Beitrag Häusliche Betreuung und Pflege: Eine völlig berechtigte Skandalisierung, wenn hier "Sklavinnen" unterwegs sind. Aber zugleich die bohrende Frage: Was tun? vom 5. September 2016 so skizziert:
- Eine auf den ersten Blick völlig verständliche, aber zugleich sehr wohlfeile Position wäre es, die Ausbeutung und das krasse Gefälle zu skandalisieren und zu argumentieren, dass es diese Verstöße gegen arbeits- und sozialrechtliche Standards schlichtweg nicht geben darf, man also durch eine deutliche Erhöhung des Verfolgungsdrucks und der Bestrafung illegalen Handelns wieder für Ordnung in diesem wichtigen Bereich sorgen muss. Unabhängig von der Frage, ob man das in diesem Feld überhaupt praktisch umgesetzt bekäme, woran hier erhebliche Zweifel geäußert werden sollen, muss man sich klar machen, dass damit ja nicht der Bedarf und die Nachfrage verschwinden. Wenn man dann in diesem Zusammenhang auf das Vorbild der skandinavischen Staaten verweist, dann muss man auch in Deutschland den notwendigen Schritt gehen und eine massive Ausweitung der Altenpflege vom Personal und damit auch von den dafür notwendigen Finanzmitteln fordern. Nicht umsonst sind die Ausgaben in Skandinavien für die auf der kommunalen Ebene angesiedelte Altenpflege um ein Mehrfaches höher als bei uns. Das muss dann politisch eingefordert und umgesetzt werden - und selbst dann muss es genug Menschen geben, die in diesem Bereich auch arbeiten (wollen/können). Selbst wenn man dieses Szenario präferiert, wofür es aus sozialpolitischen Gründen viele gute Argumente gibt, wird man eine ganz erhebliche Übergangszeit berücksichtigen müssen, vor denen man nicht die Augen verschließen darf.
- Eine andere Variante wäre, auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen und abzuwarten. Denn die Ausbeutungsstrukturen, die sich hier teilweise entwickelt haben, werden abnehmen, wenn sich die Angebots-Nachfrage-Relationen verschieben. Und das ist in ersten Umrissen schon zu beobachten, denn: Osteuropäerinnen werden nicht für alle Zeiten als preiswerte Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Dies allein schon, weil die osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch des Ostblocks einen dramatischen demografischen Einbruch erlebt haben, mit einer sehr niedrigen Geburtenrate und Länder wie Polen beispielsweise in den vergangenen Jahren ökonomisch durchaus aufgeholt haben, so dass der Druck hin zur Akzeptanz einer Pendelmigration nachgelassen hat. Allerdings ist das kein abrupter Prozess und zugleich wird man sehen, dass dann ein Teil der Agenturen einfach das Rekrutierungsspektrum weiter ostwärts ausweiten wird. Und den betroffenen Betreuungs- und Pflegekräften wird auch nicht geholfen, sie verbleiben weiter in dem Ausbeutung und Missbrauch förderlichen völlig eintransparenten Umfeld der "schwarzen" Haushalte.
Wichtigstes Ziel dabei wäre es, diesen völlig intransparenten Bereich ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, um darüber eine fachliche Begleitung (und damit immer auch Kontrolle) zu ermöglichen. Das würde auch der unterstützten Selbstorganisation der Betreuungs- und Pflegekräfte neue Räume eröffnen. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, sich zu organisieren und untereinander auszutauschen, dabei jederzeit - beispielsweise über die Pflegestützpunkte - Beratung und Hilfestellung erhalten zu können. Über einen solchen Weg könnte man praktisch Missbrauch und Ausbeutung wesentlich besser eindämmen als mit allen anderen formal-rechtlich daherkommenden, aber in der Lebenswirklichkeit ins Leere laufenden Instrumenten.
Dann kann man die mögliche - und vor dem Hintergrund der ansonsten anfallenden Ausgaben an anderer Stelle immer noch überaus lohnenswerte - finanzielle Förderung und Unterstützung der Betroffenen bzw. ihrer auftraggebenden Haushalte an die Beteiligung an den neuen "legalisierten" Strukturen einer in Teilbereichen weiterhin hoch problematischen, weil natürlich zumindest hinsichtlich der Arbeitszeiten im nicht wirklich legalen Bereich angesiedelten Form der Sonderbeschäftigung verbindlich binden. Um wenigstens ein Bein in diesen Bereich zu bekommen und den betroffenen Frauen wirksam helfen zu können. Und gleichzeitig würde es die organisierte Erschließung dieses bislang völlig in einer Schattenwelt stattfindenden Beschäftigungsbereichs ermöglichen, rechtzeitig Alternativen anzudenken, zu entwickeln und auszuprobieren, die wir brauchen, um Betreuung und Pflege im häuslichen Umfeld besser, menschenwürdiger zu organisieren.
Man ahnt schon, warum man entweder gerne "nur" skandalisierend über diesen Bereich diskutiert oder lieber auf Tauchstation geht und nach dem Rollenmodell der drei Affen das Thema durch Nicht-Behandlung wegzuwünschen hofft.