Mittwoch, 20. Dezember 2017

Lkw-Fahrer und arbeitslose Selbständige als Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH


Der Europäische Gerichtshof (EuGH) spielt mit seiner Rechtsprechung eine immer größere Rolle in der Ausgestaltung der - eigentlich - in nationalstaatlicher Souveränität befindlichen Sozialpolitiken innerhalb der überaus heterogenen EU von (noch) 28 Mitgliedsstaaten. Man denke hier an Fragen der Arbeitnehmerrechte, der (Nicht-)Freizügigkeit in die Sozialsysteme der einzelnen Mitgliedsstaaten - für einen ersten Eindruck vgl. auch die Beiträge zum Thema EuGH in diesem Blog.

Nun wird erneut berichtet von sozialpolitisch relevanten Entscheidungen des EuGH. Lkw-Fahrer dürfen Ruhezeit nicht im Fahrzeug verbringen, so ist eine der Meldungen überschrieben. »Lastwagenfahrer müssen regelmäßig eine Pause von mindestens 45 Stunden einlegen. Diese dürfen sie allerdings nicht in ihrem Lkw verbringen. Zu diesem Urteil kam der Europäische Gerichtshof (EuGH) nach jahrelangem Rechtsstreit in Luxemburg.« Der Hintergrund der aktuellen Entscheidung: »Vor mehr als drei Jahren hatte das belgische Transportunternehmen Vaditrans geklagt - denn in Belgien kann eine Geldbuße von 1800 Euro verhängt werden, wenn ein Fahrer die wöchentliche Ruhezeit in seinem Fahrzeug verbringt. Der EuGH sollte über die korrekte Auslegung einer entsprechenden EU-Verordnung entscheiden.«

Konkret beklagte das belgische Transportunternehmen die Strafe in Belgien, obgleich eine einschlägige Unionsverordnung ein solches Verbot nicht vorsehe. Hier bezieht man sich offensichtlich auf die Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. 2006, L 102, S. 1).

Die Entscheidung des EuGH (Urteil vom 20.12.2017, C‑102/16) wurde der Öffentlichkeit unter dieser Überschrift mitgeteilt: Im Straßentransportsektor dürfen die Fahrer die ihnen zustehende regelmäßige wöchentliche Ruhezeit nicht in ihrem Fahrzeug verbringen. Ergänzt um diesen zweiten Satz: »Hingegen darf die reduzierte wöchentliche Ruhezeit unter bestimmten Voraussetzungen im Fahrzeug eingelegt werden.«
Der EuGH hat die Klage zurückgewiesen, das Gericht liest die Verordnung so: Der Unionsgesetzgber hatte die Absicht, »dem Fahrer zu erlauben, die reduzierten wöchentlichen Ruhezeiten im Fahrzeug zu verbringen, und ihm dies umgekehrt für die regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeiten zu verbieten.«

»Zudem ist – so der Gerichtshof – wesentliches Ziel der Verordnung die Verbesserung der Arbeitsbedingungen des Personals im Straßentransportsektor sowie die Straßenverkehrssicherheit im Allgemeinen. Der Gesetzgeber wollte somit den Fahrern die Möglichkeit geben, ihre regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeiten an einem Ort zu verbringen, der geeignete und angemessene Unterbringungsbedingungen bietet. Eine Lastkraftwagenkabine ist aber offensichtlich kein geeigneter Ort für längere Ruhezeiträume als die täglichen Ruhezeiten und die reduzierten wöchentlichen Ruhezeiten.«

Die EU-Staaten seien verpflichtet, für Verstöße gegen die Verordnung Sanktionen vorzusehen, argumentieren nun die Richter. Damit sei der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit dieser Strafen nicht verletzt. "Es ist Sache der Mitgliedstaaten, festzulegen, welche Sanktionen geeignet sind, um die Geltung und die Wirksamkeit der Verordnung zu gewährleisten", kann man diesem Artikel entnehmen: Europäischer Gerichtshof bezieht Stellung: Urteil zur regelmäßigen Wochenruhezeit. Darin findet man mit Blick auf die Situation in Deutschland diesen interessanten Hinweis:

»In Deutschland ist es schon seit einigen Monaten nicht mehr gestattet, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen. Nach einer anfänglichen Schonfrist und Aufklärungsaktionen seitens der Polizei sind inzwischen erste Kontrollen erfolgt. Insgesamt halten sich die Kontrolleure von BAG und Polizei aber noch sehr zurück.«

Dazu den Artikel BAG kontrolliert Wochenruhezeit: Lkw-Fahrer ziehen den Vorhang zu von Jan Bergrath aus dem September 2017: »Beamte des Bundesamts für Güterverkehr (BAG) stoßen bei der Kontrolle der Wochenruhezeit an ihre Grenzen. Zieht der Lkw-Fahrer den Vorhang zu, bleibt er unbehelligt.« Auch relevant: »Die im Volksmund als Polen-Sprinter bezeichneten Transporter bis 3,5 Tonnen fallen grundsätzlich nicht unter das Verbot, die Fahrer bleiben unbehelligt.«

Und auch eine weitere sozialpolitisch hoch relevante Entscheidung ist aus Luxemburg bekannt geworden: Arbeitslose Selbstständige behalten Aufenthaltsrecht in EU-Land, so die Meldung des Handelsblatts. Wird ein Unionsbürger in einem europäischen Mitgliedstaat unverschuldet arbeitslos, verliert er damit nicht automatisch sein Aufenthaltsrecht in dem Staat. Das gilt auch für Selbstständige, wie der EuGH nun entschieden hat. Es geht um das Urteil vom 20.12.2017, C-442/16.

Der EuGH informiert über die Entscheidung unter der Überschrift "Einem Unionsbürger, der nach mehr als einem Jahr eine Erwerbstätigkeit als Selbständiger in einem anderen Mitgliedstaat wegen eines Mangels an Arbeit, der auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruht, aufgegeben hat, bleibt die Eigenschaft eines Selbständigen und infolgedessen ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat erhalten".

Zum Sachverhalt teilt uns das Gericht mit:

»Herr Florea Gusa, ein rumänischer Staatsangehöriger, reiste 2007 in das Hoheitsgebiet Irlands ein. Von 2008 bis 2012 war er als selbständiger Stuckateur tätig und entrichtete in Irland seine Steuern, die einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträge und die anderen Abgaben auf seine Einkünfte.
Im Jahr 2012 gab Herr Gusa seine Tätigkeit wegen eines auf dem Rückgang der Konjunktur beruhenden Mangels an Arbeit auf. Er verfügte über kein Einkommen mehr und stellte daher einen Antrag auf Gewährung eines Zuschusses für Arbeitsuchende. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Herr Gusa nicht nachgewiesen habe, dass er noch immer ein Recht auf Aufenthalt in Irland besitze. Seit Beendigung seiner selbständigen Erwerbstätigkeit als Stuckateur habe Herr Gusa nämlich seine Eigenschaft als Selbständiger verloren und daher nicht mehr die in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts erfüllt.«

Bei der angesprochenen Richtlinie geht es um die Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

»Art. 7 der Richtlinie sieht jedoch vor, dass einem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, die Erwerbstätigeneigenschaft und damit ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat in vier Fällen erhalten bleibt. Einer dieser Fälle betrifft die Situation, dass ein Bürger „nach mehr als einjähriger Beschäftigung“ in „unfreiwillige Arbeitslosigkeit“ gerät. Herr Gusa geht davon aus, dass ihm die Selbständigeneigenschaft und folglich ein Aufenthaltsrecht in Irland nach dieser Vorschrift erhalten bleibe. Die irischen Behörden wiederum sind der Ansicht, dass diese Vorschrift nur für Personen gelte, die eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer ausgeübt hätten.«

Die Entscheidung des EuGH ist eindeutig: »In seinem heutigen Urteil geht der Gerichtshof davon aus, dass aus dem Wortlaut der fraglichen Bestimmung nicht abgeleitet werden kann, dass sie nur den Fall von Personen erfasst, die keine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer mehr ausüben, und nicht für Personen gilt, die eine Erwerbstätigkeit als Selbständige aufgegeben haben.

»Der Gerichtshof entscheidet daher, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der, nachdem er sich in einem anderen Mitgliedstaat etwa vier Jahre rechtmäßig aufgehalten und als Selbständiger gearbeitet hatte, diese Tätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit, der auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruhte, aufgegeben hat, die Eigenschaft eines Selbständigen im Sinne der Richtlinie erhalten bleibt.«

Die Luxemburger Richter haben nunmehr entschieden, dass sich aus dem geltenden EU-Recht keine Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Selbstständigen ableiten ließe: »Beide könnten unfreiwillig durch den Verlust ihrer Arbeit in eine vergleichbare schwierige Lage geraten. In diesem Fall seien sie rechtlich geschützt. Eine Unterscheidung sei umso mehr ungerechtfertigt, da sie dazu führen würde, dass Selbstständige, die mehr als ein Jahr im Aufnahme-EU-Staat tätig waren und Steuern entrichtet haben, wie Personen behandelt würden, die in dem Staat erstmals einen Job suchen - und noch nie in das dortige Sozialversicherungs- und Steuersystem eingezahlt haben«, so diese Zusammenfassung des Urteils.