Montag, 20. November 2017

Kafka in Dortmund? Wenn's nur das wäre. Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems


Zuweilen muss man selbst als professioneller Beobachter sozialpolitischer Irrungen und Wirrungen schlucken. Beispielsweise bei so einer Meldung: »Weil eine Mitarbeiterin des Jobcenters einen Hartz-IV-Empfänger beim Betteln beobachtet hatte, wurde dem Mann ein großer Teil seiner Bezüge gestrichen. Das Betteln ist laut Jobcenter als Beruf oder Selbstständigkeit zu bewerten.« Das kann man diesem Artikel entnehmen: Jobcenter kürzt bettelndem Mann Hartz IV. Da kommt man schon ins Grübeln: Betteln als Beruf oder Selbständigkeit? Gibt es da auch Ausbildungsgänge? Kann man eine geförderte Umschulung machen? Kann man - natürlich nach Vorlage eines Businessplans - eine Existenzgründungsförderung beantragen? Nun mag der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen - bitte nicht übertreiben. Dieser Blog soll doch kein Ableger des kafkaesken Schreibens werden. Nun denn, schauen wir uns den Fall einmal genauer an.

»Weil sein Arbeitslosengeld nur knapp zum Leben reicht, bettelt ein 50-jähriger Dortmunder regelmäßig in der Innenstadt. Doch dass er für kleine Spenden stundenlang in den Einkaufsstraßen ausharrt, kommt dem Mann nun teuer zu stehen.« Konkret geht es um den Fall von Michael Hansen, wie zuerst in diesem Artikel von Tobias Großekemper dargestellt: Keine milde Gabe vom Jobcenter: Dortmunder Bettler wurde Hartz IV gekürzt. Und erneut werden wir Zeugen einer diesen vielen Lebensläufe, die dann im Hartz IV-System aufschlagen und für die das Grundsicherungssystem dann leider nicht selten auch die Endstation darstellt.

»Hansen, in Hagen geboren, als Heimkind groß geworden, kein Glück und keine Ausbildung, dafür aber Vorstrafen im Gepäck, hatte – wenn überhaupt – Jobs bei Zeitarbeitsfirmen gefunden. Was auch schon länger her ist: Er bezieht seit 2005 mit kleinen Unterbrechungen Hartz IV. In der Monatsmitte wird dann das Geld knapp. Und so setzt sich Hansen dann vor das Schaufenster eines Modehauses, seinen kleinen Hund neben sich, und hält die Hand auf.«

Man kann es auch so ausdrücken: Michael Hansen, sagt seine Anwältin Juliane Meuter, "ist eine gescheiterte Seele". Das zumindest findet man in dem Artikel Warum ein Jobcenter von einem Bettler ein Einnahmenbuch verlangt, mit dem Thomas Öchsner von der Süddeutschen Zeitung den Fall aufgegriffen und auseinandergenommen hat.

Aber irgendwann hatte Hansen so richtig Pech, was dazu geführt hat, dass jetzt das Jobcenter Dortmund mit Akribie verfolgt, wie viele Euro und Cent in seinem Pappbecher an seinem Stammplatz in der Fußgängerzone landen. »Irgendein Mensch missgönnte Hansen die milden Gaben und schwärzte ihn offenbar bei den Sozialbehörden an«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel - die anonymisierende Darstellung bei ihm verwundert etwas, denn in dem Artikel von Tobias Großekemper wird der Ablauf konkreter und übrigens mit Bezug auf das Jobcenter selbst beschrieben: Hier wird Jobcenter-Sprecher Michael Schneider zitiert, der ausführt, »Hansen sei im Januar 2017 von einer Mitarbeiterin des Jobcenters beim Betteln gesehen worden. Daraufhin sei er um eine Stellungnahme gebeten worden.«

Eine Stellungnahme, das hört sich irgendwie noch ganz normal und nicht wirklich bedrohlich an. Folgen wir also dem weiteren Gang der Geschichte und entblättern, von was hier gesprochen werden muss. Öchsner erzählt den Ablauf so:

»Der Ärger begann Mitte des Jahres mit einem amtlichen Schreiben. Darin kündigte das Jobcenter Hansen an, vorläufig vom 1. August an von der Hartz-IV-Zahlung ein Jahr lang monatlich 300 Euro, abzüglich einer Pauschale von 30 Euro einzubehalten. Statt 1235,42 Euro wären Hansen und seiner Frau damit noch 965,42 Euro geblieben, wovon allein knapp 500 Euro für die Warmmiete weggehen.«

Wie kommen die jetzt auf 300 abzuziehende Euro abzüglich einer Pauschale von 30 Euro? Haben die eine Betriebsprüfung beim Bettler Hansen gemacht? Ja, so ungefähr muss man sich das vorstellen. Und wir erfahren jetzt Dinge, die für Kafka überaus inspirierend gewesen wären in ihrer ganz eigenen Gestalthaftigkeit, die sich irgendwo zwischen Komik, Absurdität und bodenlosen Zynismus bewegt.

Auftritt: Der zuständige Sachbearbeiter, der offensichtlich Zeit und endlich mal einen Fall bekommen hat, an dem er seine Rechenkünste demonstrieren konnte und durfte.

Der Herr Sachbearbeiter rechnete Herrn Hansen »in seinem Schreiben penibel vor: "Sie halten sich regelmäßig in der Dortmunder Innenstadt auf und erzielen dort Einnahmen aus Ihrer privaten Spendensammlung. Da die monatliche Höhe dieser Einkünfte variiert, werden hier zunächst 300 Euro monatlich (im Durchschnitt 10 Euro täglich) als Einkommen berücksichtigt." Im Jobcenter ging man also davon aus, dass Hansen 30 Tage im Monat, ohne freien Tag, auch sonntags um Spenden von Fußgängern bittet.«

Aber wieso 10 Euro/Tag? Ein Sprecher der Behörde sagt dazu, Hansen selbst habe angegeben, "im Schnitt 10 Euro täglich zu erhalten". Wie man das halt so sagt, wenn man einzelne Tage meint, an denen man der Bettelei nachgeht, aber sicher nicht 30 Tage pro Monat wie in diesem Fall der Herrn H.

Man kann es ja mal versuchen mit dem kalkulatorischen Ansatz von Arbeitstagen, der Manchester-Kapitalisten die Freudentränen in die Augen treiben würde. Man kann aber auch dagegen halten. »Nachdem Hansens Anwältin Widerspruch eingelegt hatte, werden ihm statt der 300 Euro nun 120 Euro beziehungsweise nach Abzug der 30-Euro-Pauschale 90 Euro abgezogen.«

Selbst darüber kann man streiten, aber das Jobcenter hat entweder Blut gerochen oder fühlte sich durch die anwaltliche Intervention drangsaliert und infolgedessen die Daumenschrauben angezogen - und offensichtlich nicht nur das, sondern bei dem zuständigen Sachbearbeiter hat sich irgendwas verselbständigt, was zu Papier gebracht werden musste gegen den Untertan Herr H.:

»In weiteren Schreiben forderte die Behörde Hansen auf, "ein Einnahmebuch zu führen und dort die jeweiligen Tageseinnahmen zu dokumentieren". Und weiter stand in dem Brief: "Ich weise Sie darauf hin, dass geltend gemachte Ausgaben nur noch Vorlage entsprechender Nachweise berücksichtigt werden können (Quittungen)". Kauft sich Hansen also vom erbettelten Geld einen Kaffee, soll er sich dafür einen Beleg geben lassen, um von den Einnahmen Ausgaben abziehen zu können. Außerdem forderte das Jobcenter den Hartz-IV-Empfänger dazu auf, sich von der Gewerbemeldestelle einen Nachweis geben zu lassen, "ob es sich bei der von Ihnen ausgeübten Tätigkeit um eine meldepflichtige Tätigkeit handelt". Dann könne er nämlich Fahrten in die Innenstadt und Verpflegungskosten absetzen, sagt der Sprecher des Jobcenters.«

Fehlt eigentlich nur der Hinweis, dass man auch Kartenzahlungen (EC oder Kreditkarten wie VISA) berücksichtigen müsse. Dass das dem Sachbearbeiter aber entgangen ist, deutet darauf hin, dass er oder sie eher zu den älteren Semestern gehört, die sich durch eine ausgesprochene Bargeldaffinität auszeichnen.

Aber wieder zurück zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, soweit man die hier leisten kann, was man zugleich auch muss, denn es handelt sich um eine Tatsache und eben nicht um wirre Gedanken eines Schriftstellers.

Die Anwältin des Herrn Hansen hat reagiert und ausgeführt: "Nahezu grotesk ist, zu verlangen, dass über die Geldausgaben der Passanten Buch geführt wird. Als nächstes erwarten Sie wahrscheinlich noch, dass den Geldgebern eine Quittung ausgestellt wird."

Das Jobcenter behauptet nun, diesen Einwurf nicht bekommen zu haben. Wahrscheinlich ist das anwaltliche Schreiben mit der Widerrede von einem rumänischen Postzusteller irgendwo in der Dortmunder Innenstadt verloren worden.

Man muss an dieser Stelle einmal innehalten und die Frage aufwerfen - kann das denn alles mit rechtlich wahren Dingen zugehen? Und hier die Antwort: Ja, das kann es: »Juristisch gesehen verhält sich das Jobcenter korrekt, so steht es im Sozialgesetzbuch II. (Paragraphen 11 und 11a Abs. 5 SGB II)«, so der Hinweis bei Tobias Grossekemper.

Also werfen wir einen Blick in die Paragrafenwelt: Der angesprochene § 11 SGB II statuiert in seinem Absatz 1: »Als Einkommen zu berücksichtigen sind Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen. Dies gilt auch für Einnahmen in Geldeswert, die im Rahmen einer Erwerbstätigkeit, des Bundesfreiwilligendienstes oder eines Jugendfreiwilligendienstes zufließen.« Im § 11a SGB II ist das nicht zu berücksichtigenden Einkommen aufgeführt  und in dem § 11b SGB II findet man die Beschreibung der Absetzbeträge, die das anzurechnende Einkommen mindern können. Darauf hatte der Sachbearbeiter den Herrn H. ja auch hingewiesen.

Insofern könnte sich der Herr Sachbearbeiter in Sicherheit und im Recht wiegen. Aber Tobias Großekemper denkt an dieser Stelle weiter und führt aus:

»... was ist mit den vielen Menschen, die sich ihr Essen im Gast-Haus, in der Suppenküche Kana oder bei der Tafel abholen? Ist das nicht, auf den Monat gerechnet, mehr wert als 30 Euro und müsste demnach auf eventuelle Hartz IV-Bezüge angerechnet werden? Wo fängt die Hochrechnerei an? Wo hört sie auf? Und rechnet sich das eigentlich?«

Außerdem kann und muss man an dieser Stelle auch auf den § 11 a Abs. 5 SGB II hinweisen:

»Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit
1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder
2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.«

Genau diese Vorschrift war hier schon mal Thema, in dem Beitrag Einstecken und behalten oder angeben und anrechnen lassen? Wenn sich Sozialgerichte mit dem Trinkgeld für Hartz IV-Empfänger beschäftigen vom 14. Oktober 2017.

Aber manche Akteure lassen sich von solchen Gedanken nun wirklich nicht aus der Umlaufbahn bringen. So auch nicht das Jobcenter Dortmund:

»Das Jobcenter Dortmund nimmt den Fall Hansen jedenfalls so ernst, dass es ihm bereits mitgeteilt hat: Falls er nicht reagiere und die Unterlagen, also ein Buch über seine Einnahmen und Nachweise über Ausgaben, nicht vorlege, "können die Geldleistungen ganz entzogen werden".«

Also die Androhung einer 100-Prozent-Sanktionierung als aktueller Zwischenstand dieser eben nicht kafkaesken, weil nicht der Phantasie, sondern der Realität entsprungenen Geschichte? Leider ist es so.

Dabei ginge es auch anders, Paragrafen hin oder her. Dazu Thomas Öchsner in seinem Artikel:

»Auch ein Fall wie der von Hansen ist nicht neu: 2009 kürzte ein Mitarbeiter des Fachbereichs Soziales der Stadt Göttingen einem Hartz-IV-Empfänger die Leistungen, weil er diesen selbst beim Betteln vor einem Supermarkt gesehen hatte. Es folgte ein Sturm der Entrüstung bei Sozialverbänden und Politikern. Der Göttinger Oberbürgermeister ordnete daraufhin an, dass Bettler ihre Almosen behalten dürfen, auch wenn die Erlöse eigentlich als Einkommen anzurechnen sind.«
So ist das. Spielräume sind da und sie sollten genutzt werden im Interesse der Menschen. Die nicht auf der Sonnenseite des Lebens leben können.

Und manchem Sachbearbeiter möchte man zurufen, lest Adam Smith, einem der Väter der Ökonomie, heutzutage oftmals und ausschließlich reduziert auf die angeblich so segensreiche "unsichtbare Hand", die - wenn man sie nur machen lässt - alle Menschen zum Glück geleiten wird. Wie dem auch sei, Adam Smith war viel mehr als nur die Bestätigung der kapitalistischen Bewegungsgesetze. Nehmen wir beispielsweise dieses Zitat von Adam Smith und wünschen uns, dass der eine oder andere Rächer der Solidargemeinschaft in Jobcenter und anderen Sozialinstitutionen das auch lesen wird:

"Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder das Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, dass wir es nachfühlen können. Dass wir oft darum Kummer empfinden, weil andere Menschen von Kummer erfüllt sind, das ist eine Tatsache, die zu augenfällig ist, als dass es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen; denn diese Empfindung ist wie alle anderen ursprünglichen Affekte des Menschen keineswegs auf die Tugendhaften und human Empfindenden beschränkt, obgleich diese sie vielleicht mit der höchsten Feinfühligkeit erleben mögen, sondern selbst der ärgste Rohling, der verhärtetste Verächter der Gemeinschaftsgesetze ist nicht vollständig dieses Gefühles bar."
(Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, 1759)

Man glaube nicht, dass das schon überall im Jahr 2017 angekommen ist.

Foto: © Stefan Sell