Samstag, 25. November 2017

Das Sozialticket in Nordrhein-Westfalen wird von der CDU/FDP-Landesregierung gestrichen und soll im Straßenbau verbuddelt werden. Und mehr: Mobilität als neue (alte) soziale Frage


Seit 2011 gibt es für Bedürftige in NRW die Möglichkeit, ein Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr zu besonders günstigen Konditionen zu kaufen. Der genaue Preis variiert regional, beim Verkehrsbund Rhein-Ruhr (VRR) zum Beispiel kostet das Sozialticket mit 37,80 Euro etwa halb so viel wie eine reguläre Monatskarte.

Für viele betroffene Menschen ist das die einzige halbwegs erschwingliche Möglichkeit, sich mit dem öffentlichen Nahverkehr bewegen zu können. Man kann das abstrakt beschreiben oder an konkreten Fällen illustrieren, wie das hier von Nadine Rabaa versucht wird: Jessica: "Ohne Sozialticket könnte ich nicht mehr zur Schule fahren": »Jessica ist 25, erwartet ihr zweites Kind und nutzt das Sozialticket in Nordrhein-Westfalen. Drei Mal die Woche fährt sie mit dem Zug von Attendorn nach Olpe zur Schule, besucht dank des ermäßigten Tickets ihre Mutter, transportiert ihre Einkäufe, bringt ihre Tochter mit dem Bus in die Kita.« Sie wird mit diesen Worten zitiert: »Ich zahle monatlich rund 30 Euro für das Sozialticket – 30 Euro, die mir viele Freiheiten ermöglichen und mich im Leben weiterbringen. Wenn der Zuschuss für die Bahnfahrkarte wegfällt, zahle ich für ein Monatsticket 95 Euro.«

Nicht nur für Jessica war diese Nachricht ein Schock: Die schwarz-gelbe Landesregierung hat beschlossen, den Zuschuss für sozial Benachteiligte für Bahnfahrkarten bis 2020 schrittweise zu streichen. Die Ersparnisse - es geht hier um einen jährlichen Betrag von 40 Mio. Euro - sollen stattdessen in den Straßenbau investiert werden.

Diese 40 Mio. Euro - von denen man nur wenige Kilometer Straße bauen könnte - sind eines der wirksamsten Ausgaben für Menschen in den unteren Einkommensetagen unserer Gesellschaft: 300.000 Menschen sind von den Kürzungen im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW betroffen, dazu gehören Bezieher von Hartz IV, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter sowie von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Auch Wohngeldempfänger können bislang in NRW das Sozialticket in Anspruch nehmen.

Bezuschusste Fahrkarten gibt es auch in anderen Teilen Deutschlands, darunter in Städten wie Hamburg, Hannover oder Berlin. In Berlin hatte die rot-rot-grüne Landesregierung die Kosten für ein Sozialticket im Juli dieses Jahres von 36 auf 27,50 Euro gesenkt - eine normale Monatskarte für Berlin kostet mit 81 Euro fast das Dreifache. »Ein verbilligtes Sozialticket ist einer der zentralen Punkte auf der politischen Agenda der rot-rot-grünen Landesregierung. Damit soll Menschen mit geringem Einkommen die Teilhabe am öffentlichen Leben mehr als bisher erleichtert werden.«

Mit den Landesgeldern gleichen die Verkehrsbetriebe vor Ort Einnahmeausfälle des im Vergleich zum regulären Monatsticket halb so teuren Fahrschein aus.

Am stärksten betroffen von der Einsparung ist der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR). Mit 23 Millionen Euro floss bisher mehr als die Hälfte der NRW-Gelder ins Ruhrgebiet und Rheinland. Knapp 170.000 VRR-Kunden nutzen das 2013 im VRR flächendeckend eingeführte Ticket im Monat. 2016 machten sie damit rund 114 Millionen Fahrten. Für 2018 gilt das Ticket im VRR trotz Einnahmeausfällen von bis zu zweieinhalb Millionen Euro als gesichert.

Die Landesregierung verweist flapsig darauf, dass dann eben die Kommunen die Finanzierung übernehmen müssen - was aber bei vielen der armen und überschuldeten Kommunen gerade in NRW nicht passieren kann und wird. Dass ein Sozialticket ohne Fördergelder kaum zu stemmen ist, zeigt das Beispiel der Stadt Dortmund: Sie musste einst ein Pilotprojekt nach zwei Jahren abbrechen, weil die Einnahmeverluste auf zwölf Millionen Euro gestiegen waren.

Die Reaktionen überraschen nicht: Für die Pläne hagelt es Kritik von Betroffenen, Politikern und Verbänden, so der Artikel Städte kritisieren geplante Abschaffung des Sozialtickets. Auch hier wieder  findet man die Stimmen aus der Realität:

»Für viele Benachteiligte ist das Angebot für den öffentlichen Nahverkehr ein Tor zur Normalität: "Das Sozialticket garantiert meinem Sohn sozialen Halt", sagte uns etwa die Düsseldorferin Stefanie Boenki. Ihr Sohn ist 29, behindert und wurde auf Pflegegrad zwei eingestuft. Seine Miete zahlt das Sozialamt, 240 Euro hat er für den Monat zur freien Verfügung. "Er fährt mit der Bahn zum Arzt, zum Amt und zum Einkaufen. Wenn jetzt auch noch das Ticket teurer wird, weiß ich nicht mehr, wie er und auch ich das stemmen sollen", sagte die 49-Jährige Altenpflegerin.«

Oder hier: "Für arme Menschen völlig unerschwinglich": »Die Arbeitslosenhilfe Wuppertal kritisiert die von der NRW-Landesregierung angekündigte Streichung der Zuschüsse für das Sozialticket scharf.«

»Der Preis für eine Sozialticket-Monatskarte beträgt aktuell 37,80 Euro. Dies ist schon jetzt wesentlich teuer als die im Regelbedarf SGB II vorgesehenen 25 Euro pro Monat für Mobilität (für Erwachsene). Mit der Abschaffung des Sozialtickets für Arbeitslose, Geringverdiener, Sozialhilfebezieher und Wohngeldbezieher wird armen Menschen ihre Teilhabe an Mobilität im öffentlichen Raum stark eingeschränkt.« So die Stellungnahme der Arbeitslosenhilfe Wuppertal.

Aber wir sollten den Blick weiten. Die ganze verständliche Kritik bezieht sich "nur" auf den Status Quo - und der ist, wie jeder, der sich in der wirklichen Wirklichkeit bewegt, das Gegenteil von befriedigend. Man schaue sich nur an, wie oft denn überhaupt noch - gerade im eher ländlichen Raum - der öffentliche Nahverkehr überhaupt noch die Strecken bedient. Durch Ausdünnung der Fahrpläne und durch die Privatisierung des ÖPNV wird die Leistungsseite immer stärker heruntergefahren.

Man muss sich der Teufelskreis-Problematik bewusst werden, die sich hier im Alltag entwickelt. Da werden beispielsweise Hartz IV-Empfänger aufgrund der hohen Mietpreise an den Stadtrand oder in das Umland verdrängt, zugleich aber haben sie kein Auto und dann auch noch ein ausgedünntes Netz an öffentlichen Personennahverkehr. Selbst wenn die jetzt ein Stellenangebot bekommen, wo sie aber morgens um 6 Uhr anfangen müssen  oder erst am späten Abend nach Hause kommen können - wie sollen die das geregelt bekommen, wenn sie nicht - wie für alle Entscheidungsträger ganz selbstverständlich - einen eigenen Pkw benutzen können?

Das Thema hat eine weit über die unmittelbar aufgerufene Frage des Sozialtickets hinausreichende Dimension. Es geht hier letztendlich um die Mobilität als eigenständige und überaus bedeutsame Frage der Teilhabe an der Gesellschaft.

Dazu gibt es passenderweise neue Veröffentlichungen. Beispielsweise diese:

Oliver Schwedes und René Bormann (2017): Mobilität als Teil der Daseinsvorsorge. Mobilität verstehen, steuern und allen ermöglichen, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017

Die Daseinsvorsorge »ging auf die Einsicht zurück, dass in modernen Gesellschaften die Menschen nicht mehr selbst, sondern der Staat jene Infrastrukturleistungen erbringen muss, die für das Zusammenleben großer Menschenmassen erforderlich sind. Die Kanalisation und die elektrischen Netze ... sind dafür wichtige Beispiele. Die Idee vom Hausanschluss war geboren! Der Haus- anschluss, der sicherstellt, dass jede Bürgerin und jeder Bürger Zugang zu den im täglichen Leben notwendigen Leistungen hat, ist Teil der Daseinsvorsorge. Somit ist der Hausanschluss eine soziale Angelegenheit.«

Auch der Verkehr ist Teil der Daseinsvorsorge und sollte im Sinne des Gemeinwohls organisiert werden. Allerdings bezog sich der Anspruch seinerzeit, aufgrund fehlender Alternativen, nur auf den öffentlichen Verkehr.

Das allerdings wurde im wahrsten Sinne des Wortes überrollt: Mit der Massenmotorisierung der Nachkriegszeit änderte sich die Situation im Verkehrssektor grundlegend.
»Das private Automobil erlaubte es immer mehr Menschen, für ihre persönlichen Mobilitätsbedürfnisse selbst zu sorgen. Sie waren damit immer weniger auf die staatliche Dienstleistung des öffentlichen Verkehrs angewiesen. Zwar sorgte der Staat mit gewaltigen Straßeninfrastrukturmaßnahmen und einer Stellplatzpflicht im Verkehrsbereich für einen dem Hausanschluss durchaus vergleichbaren Zugang. Darüber hinaus organisierten die Menschen ihre Mobilität aber immer selbstständiger bzw. unabhängiger. Bis schließlich das Grundbedürfnis Mobilität fast nur noch durch den privaten Pkw realisiert werden konnte, während der Anschluss an den öffentlichen Verkehr zunehmend ausgedünnt wurde.«
Heute allerdings haben sich die Verhältnisse gerade in den Städten wesentlich verändert: Individuelle Mobilität ist von privater Automobilität zu entkoppeln.

»Während die städtischen Netzinfrastrukturen aufgrund ihres kollektiven Gebrauchs eine dauerhafte und damit effiziente Versorgung gewährleisten, ist der Pkw eine rein private Nutzungsform. Die meiste Zeit des Tages über wird der private Pkw nicht genutzt, während für Personen ohne eigenen Pkw ein Hausanschluss Mobilität nicht gewährleistet ist. Denn nicht vor jeder Haustür ist eine Haltestelle des ÖPNV eingerichtet. Auch kann man in der Regel nicht aus der Haustür treten, sich ein Leihrad nehmen und zur nächsten Haltestelle fahren, um dort schnell und zügig in den nächsten Verkehrsträger umzusteigen. Schließlich stehen einem auch im Wohnumfeld nur in den seltensten Fällen Carsharing-Autos zur Verfügung. Sie fehlen gerade dort, wo sie am meisten gebraucht werden: in den Randbezirken der Städte ebenso wie im ländlichen Raum. In der Folge nimmt die soziale Ungerechtigkeit für einen wachsenden Teil der Bevölkerung in dem Maße zu, wie ihre Mobilität bzw. gesellschaftliche Teilhabe aus den genannten Gründen eingeschränkt wird.«

Die eigentliche Herausforderung lautet also, dass wir heute Verkehrsdienstleistungen, die über die hohe Netzdichte und Taktfrequenz des bestehenden öffentlichen Nahverkehrs hinausreichen, brauchen. Verkehrspolitische Strategien zur Erhaltung von Mobilität sind sehr eng mit sozialpolitischen Fragestellungen verbunden. Dazu Schwedes und Bormann:

»Selbst wenn einkommensarme Haushalte absolut geringere Verkehrsausgaben haben, geben sie im Vergleich zu einkommensstarken Haushalten einen wesentlich höheren Anteil ihres Haushaltseinkommens für Mobilität aus. Zudem sind die Verkehrskosten in den letzten Jahren überdurchschnittlich gewachsen. Einkommensarme Haushalte haben kaum die Möglichkeit, steigende Verkehrskosten zu kompensieren, da große Teile des Einkommens in festen Ausgaben für den Bereich Ernährung, Kleidung, Hygieneartikel etc. gebunden sind. Schließlich können die Einkommensarmen ihre Verkehrskosten kaum reduzieren, da sie bereits jetzt vor allem nichtmotorisierte und öffentliche Verkehrsmittel nutzen.«

Das Gesetz für den öffentlichen Personennahverkehr wäre ein guter Ausgangspunkt für ein wesentlich weiter gefasstes Mobilitätsgesetz. An die Stelle des Nahverkehrsplans könnte künftig ein Mobilitätsplan treten. Denn während das Nahverkehrsgesetz auf den öffentlichen Kollektivverkehr fokussiert und im Nahverkehrsplan ein entsprechendes Mindestangebot verkehrlicher Anschlussfähigkeit für jede Bürgerin und jeden Bürger anbieten soll, liegt dem Mobilitätsgesetz ein anderes, aktuelles Verständnis von Verkehr zugrunde. Im Mobilitätsgesetz sollte Mobilität als Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe verstanden werden.
Die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Mobilität zur Sicherstellung gesellschaftlicher Teilhabe rückt in den Mittelpunkt. Der Ball wird - und das stimmt einen aktuell natürlich skeptisch - in das Feld der Kommunen gespielt:

»Beispielsweise könnte eine Kommune zusammen mit städtischen Wohnungsbaugesellschaften, den öffentlichen Verkehrsunternehmen und in Kooperation mit privaten Mobilitätsdienstleistern, seien es Taxiunternehmen, Carsharing- oder Bikesharing-Anbieter etc., neue Konzepte des autoarmen Wohnens entwickeln. Solche Kooperationen sind gerade auch für die ländlichen Regionen von Bedeutung.«

Ganz offensichtlich müssen hier richtig dicke Bretter gebohrt werden. Bereits 2009 wurde diese Arbeit von Altenburg et al. veröffentlicht: Teilhabe zu ermöglichen bedeutet Mobilität zu ermöglichen. Darin findet man diesen Hinweis:

»Zur Sicherung der Teilhabechancen in der Gesellschaft durch Mobilität stehen der Politik im Wesentlichen zwei grundsätzliche Strategien zur Verfügung, die hier plakativ als „Subventionierung von Mobilität“ und „Integrierte Siedlungs- und Verkehrsentwicklung“ bezeichnet werden. Eine Subventionierung von Mobilität würde darauf abzielen, die Teilnahme am Verkehr für alle Bevölkerungsgruppen bezahlbar zu halten. Traditionell steht der Pkw-Verkehr im Fokus der Maßnahmen, die sich über Steuerentlastungen und Prämien bis hin zu mobilitätsorientierten Transferzahlungen („Mobilitätsgelder“) erstrecken könnten. Auch die Pendlerpauschale ist in diesem Kontext zu nennen. Eine Umstrukturierung des Raum- und Verkehrssystems würde hingegen darauf abzielen, gewissermaßen krisenfeste Mobilitätsmuster z.B. durch kurze Wege und eine Nutzung von Alternativen zum Auto zu erreichen. Die denkbaren Maßnahmen erstrecken sich in diesem Fall von ÖPNV-Ausbau über eine verkehrssparsame Siedlungsentwicklung und Aufbau einer funktionierenden Nahversorgung bis hin zur Förderung alternativer Mobilitätsformen.« (Altenburg et al. 2009: 6)

Allerdings benennen die Autoren  auch die Schwachstellen der beiden Ansätze: »Die Nachteile der Subventionsstrategie bestehen in dem Risiko, ein Mobilitätsverhalten zu konservieren, dass dauerhaft nur noch durch Subventionen aufrechterhalten werden kann. Die Alternativstrategie hingegen ist aufgrund ihrer oft längerfristigen Wirkungszeiträume und indirekten Wirkungszusammenhänge im Hinblick auf politische Umsetzbarkeit weniger populär.«

Wieder einmal werden wir konfrontiert mit der unbefriedigenden Tatsache, dass man etwas verteidigen muss im offensichtlichen "Krieg gegen die Armen", das aber bei genauer Draufsicht eigentlich als aus der Zeit gefallen zu bewerten ist. Denn das eigentliche Problem besteht darin, (nicht nur) in den Städten neue und wegweisende Mobilitätskonzepte zu entwickeln. Doch dafür fehlen gerade vor Ort vielerorts die Voraussetzungen. Da erlebt man auch in anderen  Kontexten, beispielsweise der kommunalen Altenhilfe oder den erheblichen Schwankungen bei der Umsetzung dessen, was im SGB VIII grundsätzlich verankert worden ist.

Foto: © Stefan Sell