Der 3. Oktober wurde als Tag der Deutschen Einheit im Einigungsvertrag 1990 zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland bestimmt. Nach einem durch die Bundesländer rollierenden System fanden die offiziellen Feierlichkeiten in diesem Jahr in Mainz statt. Wenige Tage nach der Bundestagswahl vom 24. September 2017. Deren "tektonischen Verwerfungen" dominieren bis heute die Berichterstattung in den Medien - und die Gedanken derjenigen, die sich überlegen, was auf uns zukommen wird in der neuen Legislaturperiode. Derzeit sieht alles danach aus, dass es auf eine "Jamaika"-Koalition hinauslaufen wird, also ein Regierungsbündnis von Union, FDP und Grünen. Soweit man das derzeit absehen kann, wird es noch so einige Wochen dauern, bis die Akteure sich auf einen Koalitionsvertrag verständigen und es wird - gerade hinsichtlich sozialpolitischer Themen - nicht einfach werden, sich auf ein gemeinsames Programm zu verständigen.
Während die beiden Parteien der bisher regierenden Großen Koalition schmerzhafte, "historische" Verluste eingefahren haben, die bei der Sozialdemokratie zu dem noch am Wahlabend angekündigten Gang in die parlamentarische Opposition und bei der Union zu (bislang) keiner irgendwie erkennbaren Reaktion geführt haben, dreht sich selbst nach der Wahl vieles um die AfD, die mit 12,6 Prozent einen fulminanten Einzug in den Deutschen Bundestag eingefahren hat. Auch im Vorfeld (und damit sicher für das eine oder andere Prozent verantwortlich) kreiste die Debatte in den Medien oft (und einseitig) um die AfD und "ihre" Themen, vor allem um die Flüchtlingsthematik.
Und auch um die (angeblich) "Abgehängten", die zum Wahlerfolg der AfD beigetragen haben sollen. Immer wieder wird man mit dem Narrativ konfrontiert, dass es gerade auch die Menschen in prekären Lebenslagen gewesen sein sollen, die - vor allem in Ostdeutschland, womit wir einen Bezug zum Tag der Deutschen Einheit haben - zu dem beigetragen haben, was wir nun im Parlament der kommenden vier Jahre erleben werden.
Auf die Frage, wer denn nun der typische AfD-Wähler sei, werden beispielsweise solche Antworten gegeben: Arbeiter, männlich, ostdeutsch. Aber ist das wirklich so? Haben die Ostdeutschen die AfD in den Deutschen Bundestag gespült? Daran kann man zweifeln, wenn man einen Blick auf die Wahlarithmetik wirft, wie das Paul M. Schröder getan hat:
»Nahezu 68 Prozent der AfD-Wähler und -Wählerinnen lebt in Westdeutschland - ... die AfD (erhielt) bei den Bundestagswahlen am 24. September 2017 in Westdeutschland 3,970 Millionen ihrer insgesamt 5,877 Millionen gültigen Zweitstimmen (67,6 Prozent) ... Trotz der i.d.R. weit überdurchschnittichen AfD-Stimmanteile in den ostdeutschen Wahlkreisen ... hätten die ostdeutschen AfD-Stimmen allein nicht zum Einzug in den Deutschen Bundestag gereicht. 4,1 Prozentpunkte des AfD-Wahlergebnisses (12,6 Prozent der gültigen Zweitstimmen) kamen aus Ostdeutschland, 8,5 Prozentpunkte aus Westdeutschland.«
Gerade in Bayern und Baden-Württemberg, also zwei Bundesländern, denen es ökonomisch gesehen am besten geht, hat die AfD hohe Zweitstimmenanteile bekommen können.
Dennoch wird die große Erzählung von den frustrierten Ostdeutschen gerne durch die Medien getrieben - auch, um bewusst oder unbewusst von dem, was im Westen des Landes passiert ist, abzulenken, passt das doch alles in unser Bild von den verbitterten Ostdeutschen, die mal wieder durch abweichendes Verhalten auf sich aufmerksam zu machen versuchen.
Dazu der Artikel Warum der Protest sich ausweiten könnte von Stefan Locke:
»Zwischen Fichtelberg und Kap Arkona hat die AfD etwa doppelt so viele Stimmen wie im Westen geholt. Und weil Meinungsforscher herausfanden, dass mehr als ein Viertel der Männer im Osten die Partei wählten, wird seit Tagen mit überwiegend hanebüchenem Ausstoß am Ost-Mann herumpsychologisiert. Er ist jetzt der Problembär der Republik, in deren Vorstellung er einsam und von allen Frauen verlassen in seinem Plattenbau hockt und diesen nur verlässt, um Ausländer zu verprügeln, die Bundeskanzlerin anzubrüllen und falsche Parteien zu wählen.«
Aber auch Locke bemüht das Bild des Protestwählers, denn negative Gefühle durch "Globalisierung, Gängelung und Geringschätzung" seien in Ostdeutschland stark ausgeprägt. »Die Entwicklung im Osten wirkt, vor allem bei den Globalisierungsfolgen, wie eine Blaupause für das, was auch auf den Westen zukommt und was, siehe Wahlergebnis, bereits jetzt zu spüren ist. Die AfD fängt dieses Unbehagen ein, Lösungen hat sie nicht.«
Die Verengung auf Ostdeutschland wird in der aktuellen Berichterstattung weiter vorangetrieben: Rechtsruck im Osten – was jetzt zu tun ist, so hat Dietmar Neuerer seinen Beitrag im Handelsblatt dazu überschrieben. Dabei erkennt er selbst, dass die üblichen Ableitungen des Wahlverhaltens aus der sozialen Lage schon bei einer groben Betrachtung nicht wirklich weiterführen (können): »In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel, dem wirtschaftsschwächsten Land in Ostdeutschland, wurde mit 18,6 Prozent der niedrigste AfD-Anteil in den neuen Bundesländern verzeichnet, während die AfD im deutlich wohlhabenderen Sachsen mit 27 Prozent stärkste Kraft wurde. Im Kreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge, Wahlkreis der ehemaligen Parteivorsitzenden Frauke Petry, erzielte die AfD mit 35,5 Prozent der Zweitstimmen ihren besten Wert. Die Arbeitslosigkeit liegt hier jedoch nur noch wenig über fünf Prozent und die nah gelegene Landeshauptstadt Dresden bietet für ostdeutsche Verhältnisse gute Einkommen für Pendler.«
Das es komplizierter ist als die gerne verwendeten "wenn, dann ..."-Ableitungen nahelegen, konnte man auch der einen Tag nach der Wahl veröffentlichten Datenanalyse Wie Einkommen, Migration und Arbeitslosigkeit das Wahlergebnis beeinflussen entnehmen. Dort wurden sozio-demografische Merkmale der Wahlkreise auf Korrelationen mit den Stimmenanteilen der einzelnen Parteien untersucht. Beispiele daraus: »Der Wähleranteil der AfD ... ist umso tiefer, je mehr Menschen mit Migrationshintergrund in einem Wahlkreis leben.« Sozialpolitisch besonders interessant: »... zwischen Arbeitslosigkeitsquote und Wähleranteil der AfD besteht kaum ein Zusammenhang.« Übrigens ein umgekehrter Zusammenhang besteht zu den Anteilen der Linken, die dort punkten können, wo es hohe Arbeitslosenquoten gibt. Aber die treffen sich auch mit der AfD bei einem anderen Merkmal: »Ein starker negativer Zusammenhang ist zwischen dem Wähleranteil der Linken und dem Einkommen zu beobachten: Wo Menschen wenig verdienen, wählen sie eher Die Linke. Auch der Wähleranteil der AfD ist tendenziell höher, je weniger die Haushalte im Durchschnitt verdienen.«
Eine wirklich hilfreiche und in die Tiefe gehende Analyse des Wahlverhaltens findet man in der bereits am Tag nach dem Wahlsonntag veröffentlichten Auswertung Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017. Wahlnachtbericht und erste Analyse von Horst Kahrs.
Möglicherweise geraten auch die alten (parteipolitischen) Koordinaten von "links" und "rechts" durcheinander. Das zeigt auch ein Blick auf das Wahlverhalten von Gewerkschaftern. Dazu der Beitrag Bundestagswahl 2017: So haben GewerkschafterInnen gewählt. Auf die AfD entfielen bei den Gewerkschaftsmitgliedern mit 15 Prozent mehr Stimmen als im Durchschnitt über alle Wähler (12,6 Prozent). Mit 22 Prozent liegen AfD und Linke in Ostdeutschland bei den Gewerkschaftsmitgliedern gleichauf.
Dabei haben die Gewerkschaften massiv Stellung bezogen gegen die AfD und - soweit überhaupt erkennbar - ihre Programmatik, die in vielerlei Hinsicht zentralen gewerkschaftlichen Positionen widerspricht. Dennoch hat die AfD gerade bei den Arbeitern hohe Stimmenanteile erzielen können. Das ist nun kein Novum, sondern bereits bei den vorangegangenen Landtagswahlen erkennbar gewesen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass auch die Wahlforschung der Frage nachgegangen ist, welche Motive bei den Wählern hier eine Rolle spielen Auf der Basis einer Umfrage unter 5.000 Personen im Januar 2017 wird das beispielsweise in dieser Studie thematisiert, die ein besonderes Augenmerk auf Gewerkschaftsmitglieder wirft:
Richard Hilmer et al. (2017): Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern. Forschungsförderung Working Paper Nr. 44, Düsseldorf 2017
Scheinbar entlastend für die Gewerkschaftsspitze ist in dem Kontext der präsentierten Wahlergebnisse die eigenen Mitglieder betreffend dieser Befund:
»Ein wichtiges Ergebnis mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Gewerkschaftsmitgliedschaft und AfD: Erstmals kann mit dieser Untersuchung nachgewiesen werden, dass die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft unter Kontrolle gängiger sozialstruktureller Merkmale in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit, AfD zu wählen oder sich eine AfD-Wahl vorstellen können, keinen Unterschied macht. Das bedeutet, dass Gewerkschaftsmitglieder nicht häufiger AfD wählen als andere Bevölkerungsgruppen.« (Hiller et al. 2017: 7)
Der Schlüssel ist natürlich die Formulierung "unter Kontrolle gängiger sozialstruktureller Merkmale" - was bedeutet, wenn man die soziale Lage berücksichtigt, dann relativiert sich der auch bei den Bundestagswahlen erkennbare (scheinbar) überdurchschnittlich hohe Wähleranteil für die AfD unter den Gewerkschaftsmitgliedern. Dennoch ist das nicht wirklich ein Anlass zur Beruhigung.
Denn wenn man sich im "klassischen" Koordinatensystem von "linken" und "rechten" Parteien bewegt, dann könnte man die Frage aufwerfen, warum die Unzufriedenen unter den Gewerkschaftsmitgliedern nicht die Linken wählen oder als Protestpartei in Anspruch nehmen, vertreten die doch an vielen Stellen sehr gewerkschaftsnahe Positionen (vgl. dazu aber beispielsweise den Artikel Warum links so schwierig ist von Oliver Stenzel: »Ginge es nur nach den Inhalten ihres Wahlprogramms, könnte die Linke auf ein glänzendes Ergebnis bei der Bundestagswahl hoffen. Doch so einfach funktionieren Wahlentscheidungen nicht«).
»Sind rechts und links für Wähler noch die Pole der politischen Auseinandersetzung, die sie jahrzehntelang waren? Bei den vergangenen Landtagswahlen jedenfalls zeigte sich, dass viele Anhänger der Linkspartei nun der AfD ihre Stimmen gaben – obwohl diese auf der ganz anderen Seite des politischen Spektrums zu verorten ist. In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt verlor die Linke im vergangenen Jahr die mit Abstand meisten Wähler an die AfD«, so Paul Bartmuß et al. in ihrem im Juli 2017 veröffentlichten Artikel Was Anhänger von AfD und Linke eint.
Datenauswertungen zeigen erstaunliche Gemeinsamkeiten bei den Unterstützern der Linkspartei und der AfD, meinen die Autoren gefunden zu haben. Dennoch ist das Wahlverhalten zugunsten der AfD ausgeschlagen. Als eine Hauptursache wird in dem Artikel dieser Ansatz hervorgehoben:»Sind rechts und links für Wähler noch die Pole der politischen Auseinandersetzung, die sie jahrzehntelang waren? Bei den vergangenen Landtagswahlen jedenfalls zeigte sich, dass viele Anhänger der Linkspartei nun der AfD ihre Stimmen gaben – obwohl diese auf der ganz anderen Seite des politischen Spektrums zu verorten ist. In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt verlor die Linke im vergangenen Jahr die mit Abstand meisten Wähler an die AfD«, so Paul Bartmuß et al. in ihrem im Juli 2017 veröffentlichten Artikel Was Anhänger von AfD und Linke eint.
»Wegen ihrer Programmatik gelten AfD und Die Linke als Protestparteien. Diese Rolle hat die Linkspartei, zumindest zwischenzeitlich, im Zuge des immensen Flüchtlingszuzugs in den Augen vieler Wähler verloren.
Viele Wähler haben sich von der Linkspartei abgekehrt, ... weil für viele von ihnen die Linke inzwischen zu den etablierten Parteien zählt. In Brandenburg und Thüringen etwa ist sie Teil der Landesregierung und gerade in den neuen Bundesländern zählen sich Neugebauer zufolge viele ihrer Anhänger zu den Abgehängten.«
Da haben wir sie wieder, die überall zitierte (und missbrauchte) Figur der "Abgehängten". Die bevölkern seit geraumer Zeit Teile der Berichterstattung (und die Welt der nach Erklärungen für die Wahlergebnisse Suchenden). So findet man bei einer einfachen Recherche über die Begrifflichkeit ganz große Zahlen: 3,7 Millionen Abgehängte. Und da geht es "nur" um Kinder und Jugendliche: »Mehr als jeder vierte Minderjährige in Deutschland ist ... sozial benachteiligt oder von Armut bedroht. 3,7 Millionen Kinder und Jugendliche gehörten zu den Abgehängten ihrer Generation, also 28 Prozent. Jeder zehnte junge Mensch wächst nach dem Bericht in einem Elternhaus auf, in dem weder Vater noch Mutter erwerbstätig sind, bei elf Prozent haben beide Eltern keine Ausbildung.« Mit solchen und anderen Beispielen über vermeintlich und tatsächlich "Abgehängte" kann man mittlerweile Bibliotheken füllen.
Aber das reizt auch zu kritischen Kommentierungen. Bereits im November des vergangenen Jahres hat Rainer Hank dazu unter der Überschrift Kennen Sie vielleicht einen Abgehängten? ausgeführt:
»Dabei geistert ... durch die aktuellen Diskurse eine dunkle Gestalt: Der Abgehängte. Meist tritt er im Rudel auf: Die Abgehängten. Sie sind an allem schuld. Sie wählen garstige Parteien und schmuddelige Politiker - Trump in Amerika, Petry in Deutschland ... Und sie vermasseln dem Establishment seine Partys ... Früher hatte der Abgehängte wenigstens noch ein ordentliches Klassenbewusstsein, das ihn dazu verpflichtete, in die Laubenpieperkolonie einzutreten, Sozialdemokrat zu werden und für Fidel Castro zu schwärmen. Heute ist er irgendwie unberechenbar, fast anarchisch und unterschwellig wütend ... Die nicht abgehängten Privilegierten ... beschuldigen sich in einem Akt öffentlicher Selbstkasteiung, bislang vom Abgehängten keine Notiz genommen zu haben, ja noch nicht einmal den Moment registriert zu haben, als ihn die Lokomotive des sozialen Fortschritts einfach hatte stehen lassen.«
Allerdings kann Rainer Hank mit der Kategorie des "Abgehängten" wenig anfangen und sie scheint ihm mit Blick auf die Wähler der AfD auch nicht wirklich überzeugend zu sein, was sich beispielsweise in diesem den Wahlerfolg der AfD in Bayern bei der Bundestagswahl gleichsam prognostisch vorwegnehmenden Zitat widerspiegelt: »Dass signifikante Milieus, die ... Petry wählen – ... gut betuchte, aber ängstliche Bürger und Rentner out of Rosenheim in Oberbayern – gar nicht auf die Idee kämen, sich selbst als abgehängt zu beschreiben, fällt nicht ins Gewicht.«
Am Ende seines launigen Kommentars leitet Rainer Hank dann aber über zu einer zweiten Gruppe, die es immer wieder - vor irgendwelchen Wahlen - in den Raum der öffentlichen Aufmerksamkeit schafft:
»Einiges spricht dafür, dass es leibhaftige abgehängte Menschen in unserer Gesellschaft gibt. Sie sind arm, haben nie eine Zukunft vor sich gehabt und die Verzweiflung längst hinter sich. Es sind die Nichtwähler. Mit den abgehängten Geistern des aktuellen Diskurses sollte man sie freilich keinesfalls verwechseln.«
Die Nichtwähler. Damit sind wir bei einem seit langem diskutierten und auch bei der Bundestagswahl in diesem Jahr erneut erkennbaren Problem. Das wurde hier am 21. Mai 2017 - ausgelöst durch die historische Wahlniederlage der SPD in ihrem "Stammland" Nordrhein-Westfalen - in dem Beitrag Soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung - und durch die Wahlen? Eine sozialpolitische Herausforderung bereits umfassend angesprochen und zum Thema gemacht. Dort finden sich auch zahlreiche Hinweise auf Studien vergangener Jahre, die sich mit den Nichtwählern und der sozialen Schichtung dieser Gruppe befasst haben. In dem Beitrag findet man beispielsweise diese Diagnose: »Die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Stadtvierteln zeigt sich immer deutlicher auch in der Wahlbeteiligung. Während in den sozialen Brennpunkten der Städte in Nordrhein-Westfalen Wahlmüdigkeit und Demokratieverdrossenheit wachsen, kommt es in den besseren Vierteln zu „einer Art bürgerlicher Gegenmobilisierung“, ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Damit verschärft sich ein besorgniserregender Trend der vergangenen Jahre.«
Interessanterweise wird die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen als eine "populäre" und zugleich als eine "sozial prekäre" Wahl charakterisiert - und das passt auch zur Bundestagswahl: Auf der einen Seite sehen wir eine (wieder) ansteigende Wahlbeteiligung, zugleich aber auch: „Je wirtschaftlich schwächer ein Stimmbezirk ist, umso geringer ist dort die Wahlbeteiligung“. Die soziale Spaltung zwischen Wählern und Nichtwählern habe sich nochmals verschärft.
Dahinter steht immer auch eine sozialräumliche Spaltung. Wer das plastisch haben möchte, der kann ein Blick in diesen Artikel werfen: Luxus und Hartz IV: Zwei Welten in einer Stadt: »Zwei Kieze, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Der eine ist der Wahlbezirk 118 in Mitte. Die Gegend um den Arkonaplatz, wo am Sonntag Menschen wählten, die sich Wohnungen zu Mietpreisen von bis zu 17 Euro pro Quadratmeter leisten können. Das ganze Gegenteil ist der Wahlbezirk 321 in Neukölln. Der Kiez am Michael-Bohnen-Ring gehört laut Stadtentwicklungs-Monitoring zu denen mit den ärmsten Wähler Berlins. Ein sozialer Brennpunkt, in dem fast jede zweite Familie von Hartz IV lebt. Zwei Welten in einer Stadt.«
Auch im Vorfeld der Bundestagswahl in diesem Jahr wurde versucht, dem Phänomen der Nichtwähler auf die Spur zu kommen (so auch der Versuch Nichtwähler - die unbekannte Spezies, eine Hintergrund-Sendung des Deutschlandfunks vom 30.08.2017).
Zur Studienlage vgl. Beate Küpper (2017): Das Denken der Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Einstellungsmuster und politische Präferenzen, 2., aktualisierte Auflage, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Juli 2017 oder Horst Kahrs (Hrsg.) (2017): Wahlenthaltung. Zwischen Abwendung, Verdrossenheit und Desinteresse, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Juni 2017, um nur zwei Beispiele zu zitieren.
Mit Blick auf mögliche Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Wahlverhalten kommt beispielsweise eine kurz vor der Wahl veröffentlichte DIW-Studie zu diesem Befund:
„Am untersten Ende der Einkommensskala“, so Brenke weiter, „stehen schließlich jene Menschen, die sich ganz von der Politik abgewandt haben und gar nicht zur Wahl gehen wollen.“ Diese Gruppe hat auch am wenigsten vom Einkommenswachstum der letzten 15 Jahre profitiert und fällt noch in anderer Hinsicht aus dem Rahmen: Unter den Nichtwählern und Nichtwählerinnen befinden sich überproportional viele Menschen, die als Beschäftigte nur einfachen Tätigkeiten nachgehen oder arbeitslos sind. „Die Einkommenshöhe und die Partizipation am wirtschaftlichen Wachstum ist also nach wie vor mit politischer Teilhabe korreliert“, so Kritikos.
Bei der Studie handelt es sich um diese Arbeit: Karl Brenke und Alexander S. Kritikos (2017): Wählerstruktur im Wandel, in: DIW Wochenbericht Nr. 29/2017.
Das alles hat Auswirkungen, die bereits im Beitrag aus dem Mai 2017 angesprochen wurden: Es ist nicht nur eine Abwendung der Nicht-Wähler gerade in den Gebieten, in denen sich soziale Probleme ballen, von der Politik zu beklagen, sondern spiegelbildlich auch eine Abwendung der Politik von den Menschen (und ihren Problemen), die zunehmend als nicht mehr wahlrelevant wahrgenommen werden.
Zu dieser bedenklichen Entwicklung passen dann solche Befunde aus der aktuellen Diskussion: "Soziale Schieflage bei Wahlbeteiligung wird immer krasser":
»Soziale Ungleichheit beeinflusst zunehmend die Wahlen, sagt der Detmolder Sozialwissenschaftler Robert Vehrkamp, der für die Bertelsmann Stiftung die Wahlbeteiligung in Deutschland erforscht. Er beobachtet eine wachsende soziale Spaltung: Der typische Nichtwähler lebe in Wohnvierteln mit hoher Arbeitslosigkeit, Armut und niedriger Bildung. In solchen Vierteln wählten nur noch 30 Prozent der Bewohner, in gutbürgerlichen dagegen um die 80.«
Vehrkamp weist darauf hin, dass auch die zuletzt wieder gestiegene Wahlbeteiligung an der diagnostizierten Spaltung nichts ändert, ganz im Gegenteil - die Abstände werden größer: In besser gestellten Milieus wird noch mehr gewählt als vorher.
Ausgerechnet Nichtwähler-Hochburgen seien zudem für die Parteien »wahlkampffreie Zonen«. Sich um Nichtwähler zu bemühen, verspreche den etablierten Parteien wenig Erfolg. »Es fehlen ihnen inzwischen auch die Ressourcen dafür«, sagte Vehrkamp. Das verstärke den Trend. Damit bekämen die sozialen Probleme der Nichtwähler-Milieus in der Politik auch immer weniger Aufmerksamkeit, fürchtet Vehrkamp. »Ein Teufelskreis.«
Zu den Nichtwählern führt er aus: Sie seien weder unpolitisch noch zufrieden: »Sie erwarten aber nichts mehr von den etablierten Parteien.«
Das passt zu den Ergebnissen einer explorative Studie unter langzeitarbeitslosen Menschen:
Denkfabrik-Forum für Menschen am Rande, Sozialunternehmen NEUE ARBEIT gGmbH Stuttgart (Hrsg.) (2017): „Gib mir was, was ich wählen kann.“ Demokratie ohne Langzeitarbeitslose? Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler/innen, Köln 2017 (Verlagsseite)
Über die wird auf dieser Seite berichtet: www.studie-nichtwaehler.de. Es handelt sich wie angesprochen nicht um eine repräsentative Studie, aber um eine explorative Studie, die speziell die Langzeitarbeitslosen nicht nur adressiert, sondern bei der Methodik wurde versucht, "auf Augenhöhe" zu kommen, in dem die langzeitarbeitslosen Menschen von anderen Langzeitarbeitslosen interviewt wurden. Auch wenn die Studie aufzeigt, dass es die "Nicht-Wähler" nicht gibt und die Motive durchaus heterogen sind - es bleibt die Frage und die Aufgabe, wie man hier wieder eine stärkere Teilhabe - und das bedeutet immer auch eigene Beteiligung - hinbekommt. Die bisherigen Befunde eines weiteren Auseinanderlaufens zwischen "oben" und "unten" bei der realen Wahlbeteiligung stimmen pessimistisch. Dennoch und gerade deswegen: Die Suche nach Wegen, das aufzuhalten und möglichst umzukehren, wird von großer Bedeutung auch vor dem Hintergrund, dass es nicht nur zu einer Abwendung der Nicht-Wähler vom (partei)politischen System kommt, sondern auch zu einer Exklusion der Exkludierten aus dem Koordinatensystem derjenigen, die die Weichen stellen und die Entscheidungen treffen.