Donnerstag, 20. Juli 2017

Und noch einmal vom Bundessozialgericht für die Akten: Keine Beitragsentlastung für Eltern in der Rentenversicherung


Grundsätzliche Entscheidungen kommen trocken daher: »Der 12. Senat des Bundessozialgerichts hat heute entschieden, dass es nicht gegen die Verfassung verstößt, wenn von Eltern wegen ihrer Betreuungs- und Erziehungsleistungen keine niedrigeren Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gefordert werden (Aktenzeichen B 12 KR 14/15 R).« Und damit es jeder, der nur Überschriften liest, auch versteht, haben die Bundessozialrichter ihre Pressemitteilung zur neuen Entscheidung so überschrieben: Fehlende Beitragsentlastung für Eltern in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht verfassungswidrig. Das war es dann in Kassel. Bleibt der klagenden Seite nur noch der Weg nach Karlsruhe. Die Kläger haben bereits angekündigt, sich auf diese Reise begeben zu wollen.  Dabei haben sie etliche Mitstreiter. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts von 2015, in dem das BSG bereits das gleiche Anliegen verworfen hatte, strengten bereits fast 400 Familien Klage beim höchsten deutschen Gericht an (Az.: B 12 KR 13/15 R und B 12 KR 14/15 R). Zu der angesprochenen Entscheidung des BSG aus dem Jahr 2015 vgl. auch den Beitrag Die Sozialversicherung und ihre Kinder. Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts: Keine Beitragsentlastung für Eltern vom 6. Oktober 2015. In dem damaligen Verharren ging es darum, dass ein Ehepaar den Beitrag zur Renten-, Kranken- und Sozialversicherung ab dem dritten Kind halbiert sehen wollte.

Zu den nunmehr entschiedenen Verfahren erfahren wir bei Thomas Öchsner in seinem Artikel Familien ohne Anspruch auf stärkere Entlastung:

»In den beiden neuen Verfahren hatten die Kläger argumentiert, sie seien finanziell schlechtergestellt als Kinderlose. Unterbrechungen des Berufslebens wegen der Erziehung und Betreuung führten zu Einkommensverlusten und damit zu Einbußen bei den Rentenansprüchen. Kinderlose, reiche und alte Versicherte hätten diese Nachteile nicht. Die Kläger verlangten deshalb, nur noch die Hälfte ihrer Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen beziehungsweise pro Jahr einen Betrag in Höhe des steuerlichen Existenzminimums von den fälligen Sozialbeiträgen abziehen zu können.«

Die Klage richtete sich aber nicht nur gegen die derzeitige Beitragszahlung in der Renten-, sondern auch in der Kranken- und Pflegeversicherung.

»Man kann es so sehen: Die Kinder sind die Beitragszahler von morgen, die dann das System finanzieren. Und deshalb ist es schwer haltbar, dass Kinderlose und Eltern gleichviel in die Rentenversicherung einzahlen. So lautet, kurz zusammengefasst, die Argumentation, mit der zwei Paare aus Baden-Württemberg mit der Unterstützung eines Elternverbands vor das Bundessozialgericht in Kassel gezogen sind. Ihr Ziel: dass Eltern weniger Sozialbeiträge zahlen müssen«, so die Zusammenfassung in diesem Artikel: Richter lehnen Elternbonus beim Rentenbeitrag ab.

Das höchste deutsche Sozialgericht bleibt seiner Linie aus der Vergangenheit treu und argumentiert auch in der neuen Entscheidung in bekannten Mustern:

»Unbestreitbar leisten, so das Gericht, Eltern durch die Betreuung und Erziehung von Kindern über ihre monetären Beiträge hinaus auch einen generativen Beitrag, der sich auf den Erhalt der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung auswirkt, wenn die Kinder später selbst zu Beitragszahlern werden. Dass Eltern und Kinderlose bei der Beitragsbemessung dennoch gleich behandelt werden, verstößt jedoch nicht gegen die Verfassung, weil es im Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung zusätzliche Leistungen für Eltern gibt, zum Beispiel Kindererziehungszeiten. Hierdurch hat der Gesetzgeber nach Auffassung des Senats den ihm bei der Gestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung zukommenden Spielraum in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise genutzt. Inwieweit eine stärkere Berücksichtigung der Betreuungs- und Erziehungsleistung möglicherweise sozialpolitisch wünschenswert oder angezeigt ist, obliegt allein der Entscheidung des hierzu berufenen parlamentarischen Gesetzgebers. Der Senat hat damit seine in den Urteilen aus den Jahren 2006 und 2015 geäußerte Rechtsauffassung bestätigt.«
Die Hoffnung der Kläger ist eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem von heute so fernen Jahr 2001 (Urteil vom 03. April 2001 - 1 BvR 1629/94). Darin findet man diesen Satz: »Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.«

Zur Verfassungswidrigkeit eines gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrags wurde damals vom höchsten deutschen Gericht  ausgeführt:

»Die Erziehungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder. Dabei ist entscheidend, dass der durch den Eintritt des Versicherungsfalls verursachte finanzielle Bedarf überproportional häufig in der Großelterngeneration (60 Jahre und älter) auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, nimmt mit dem Lebensalter deutlich zu. Sie steigt jenseits des 60. Lebensjahres zunächst leicht an, um dann jenseits des 80. Lebensjahres zu einem die Situation des Einzelnen maßgeblich prägenden Risiko zu werden ... Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems. Denn bei Eintritt der ganz überwiegenden Zahl der Versicherungsfälle ist das Umlageverfahren auf die Beiträge der nachwachsenden Generation angewiesen.« (Randziffer 56).

Wenn entscheidend ist, dass der eintretende Bedarf überproportional häufig in der älteren Generation eintritt - ist das dann nicht gerade in der Rentenversicherung systembedingt hoch relevant?

Und 2015 hat man sich erhofft, dass das Bundessozialgericht (BSG) dieser Sichtweise der Verfassungsrichter von damals folgen würde - hinsichtlich der beitragsfinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung und darüber hinaus auch für Kranken- und erneut Pflegeversicherung, also für das gesamte Sozialversicherungssystem. Dann aber kam am 30. September 2015 diese Botschaft vom BSG: Keine Beitragsentlastung für Eltern in der Sozialversicherung wegen ihres Aufwandes für Kinderbetreuung und Kindererziehung.

Bereits 2015 hat das Bundessozialgericht (BSG) ausgeführt:

»Der Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts einen weiten sozialpolitischen Spielraum. Er bewegt sich innerhalb der Grenzen dieses Gestaltungsspielraums, wenn er den Aufwand für die Betreuung und Erziehung von Kindern in verschiedenen Regelungen des Leistungsrechts berücksichtigt. Zu nennen sind insoweit in erster Linie die Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und die beitragsfreie Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung.«

Und dann mit Blick auf die BVerfG-Entscheidung aus dem Jahr 2001:

»Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3.4.2001 - 1 BvR 1629/94, in dessen Folge in der sozialen Pflegeversicherung ein Beitragszuschlag für Kinderlose von 0,25 Beitragssatzpunkten eingeführt wurde, folgt nichts anderes. Es lässt sich weder daraus noch aus anderen verfassungsrechtlichen Gründen ein Anspruch auf einen allgemeinen umfassenden Ausgleich der finanziellen Belastungen durch die Kinderbetreuung und -erziehung im Beitragsrecht der Sozialversicherung herleiten.«

Bereits 2015 wurden grundsätzliche Aspekte kontrovers diskutiert, siehe dazu die Darstellung in dem Beitrag Die Sozialversicherung und ihre Kinder. Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts: Keine Beitragsentlastung für Eltern vom 6. Oktober 2015, dabei die besondere Rolle von Jürgen Borchert, früher mal Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht in Darmstadt, hervorhebend, der bereits das Pflegeversicherungsurteil des BVerfG 2001 mit erstritten hat und der auch bei der aktuellen Entscheidung des BSG die Klägerseite mit vertreten hat.

Fazit: Grundsätzlich kann man die Problematik so zuspitzen: »Gerade die "individualistische Engführung" der Beitragserhebung in der Sozialversicherung, die gleichsam blind ist gegenüber den Aufwendungen der Familien für ihre Kinder sowie die seit Jahren laufende Verschiebung von den direkten hin zu den indirekten Steuern haben ja zu dem beigetragen, was Borchert immer wieder anprangert: eine Überlastung der Familien und eine Umverteilung zugunsten der Kinderlosen.« So meine Zusammenfassung bereits am 18. November 2013 in dem Blog-Beitrag Die Rentenversicherung zwischen kinderzahlabhängiger Talfahrtbeschleunigung und einem schönen Blick auf die Schweizer Berge. Irgendwo dazwischen die großkoalitionäre Sparflamme. Und was kann daraus folgen?

Man kann das zum einen über die Beitragsseite im engeren Sinne auflösen, also innerhalb des gegebenen Systems. Das ist der Weg, der mit der Klage eingeschlagen wurde.

Aber es gibt auch eine andere - weiterführende - Perspektive: Im Kontext des beobachtbaren Strukturwandels stellt sich die Aufgabe, das tradierte lohnbezogene Sozialversicherungssystem grundsätzlich zu überdenken. Und Jürgen Borchert selbst plädiert nach seiner umfassenden Analyse der teilweise perversen Umverteilungswirkungen in den bestehenden Systemen am Ende seines neuen Buches ("Sozialstaats-Dämmerung", 2013) für eine "BürgerFAIRsicherung" für die Bereiche Alter, Krankheit und Pflege - und meint damit eine Abkehr von einer Mittelgenerierung, die auf sozialversicherungspflichtige Arbeitseinkommen und die dann auch noch begrenzt bis zu den Beitragsbemessungsgrenzen basiert und alle anderen relativ ungeschoren davon kommen lässt. Er spricht bei der Begründung für sein Modell bewusst den Bezug an zur Schweiz und den dort vorfindbaren Konstruktionsprinzipien einer "Alters- und Hinterlassenenversicherung" (AHV).

»Ein Umbau der großen sozialen Sicherungssysteme müsste neben der Beseitigung der offensichtlichen Verteilungsperversitäten beispielsweise gegenüber den Familien vor allem eine zukunftsfestere Finanzierung der großen Systeme zur Absicherung von zentralen Lebensrisiken schaffen. Und das bedeutet eben konsequenterweise eine Abkehr von der Fokussierung und damit letztendlich immer stärkeren Drangsalierung eines sich schwer unter Druck befindlichen, tendenziell immer kleiner werdenden Teilstücks des volkswirtschaftlichen Kuchens namens sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeitseinkommen und die dann wie gesagt auch noch nach oben begrenzt durch die Beitragsbemessungsgrenzen.«

An diesem Passus aus dem Beitrag vom 18.11.2013 hat sich nichts geändert - auch nicht an der Tatsache, dass erneut eine Große Koalition an der Regierung ist, die einen solchen großen Umbau zu ihrer Aufgabe hätte machen können. Was sie aber bekanntlich nicht getan hat.

Das wurde 2015 so formuliert und das kann man im Sommer des Jahres 2017 genau so wieder aufrufen.

Foto: © Stefan Sell