Informationen, Analysen und Kommentare aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik
Mittwoch, 24. Mai 2017
Hartz IV-Sanktionen: Sub-Existenzen im Nirwana zwischen Minimum und Nichts, konfrontiert mit einer sehr heterogenen Jobcenter-Welt
Das höchst brisante Thema Sanktionen im Hartz IV-System ist in diesem Blog in vielen Beiträgen behandelt worden. Die Sanktionen im Grundsicherungssystem werden in diesem Jahr hinsichtlich der behaupteten Verfassungswidrigkeit vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüft. Das Verfahren ist bereits angelaufen. Immer wieder stellen Beobachter der Diskussion die nur scheinbar simple Frage, wie es denn sein kann, dass ein "Existenzminimum" noch weiter eingedampft werden kann. Das ist eine richtige und wichtige Frage und wir dürfen gespannt sein, was das oberste Gericht unseres Landes zu dieser Frage sagen wird.
Aber faktisch haben wir an jedem Tag eines Jahres derzeit den Tatbestand, dass Menschen im Hartz IV-Bezug teilweise oder sogar vollständig die Leistungen gekürzt werden (so waren in den Jahren seit 2008 jahresdurchschnittlich 7.000 bis 12.000 Menschen "vollsanktioniert", also mit einer Leistungskürzung von 100 Prozent konfrontiert, vgl. dazu auch den Beitrag Sanktionen im Hartz IV-System in Zahlen und vor Gericht vom 15. April 2016). Und auch darauf muss hingewiesen werden: Von den Sanktionen gegen erwachsene Hartz IV-Empfänger sind zahlreiche Kinder betroffen (vgl. dazu den Beitrag Hartz IV: Auch die Kinder kommen unter die Räder. Von Sanktionen der Jobcenter sind jeden Monat tausende Familien betroffen vom 14. November 2016). Nun sollte man erwarten dürfen, dass (unabhängig von der Frage, ob man Sanktionen nun für verfassungswidrig hält oder nicht) eine derart drakonische Maßnahme der Beschneidung des an sich schon niedrigen und laut BVerfG eigentlich als "unabdingbares Grundrecht" zu gewährendes Existenzminimums wenn, dann nur unter Einhaltung aller rechtlichen Vorschriften und vor allem ohne Willkür seitens der Jobcenter verhängt wird. Aber was so selbstverständlich daherkommt, muss - wie so oft nichts - mit der Realität zu tun haben.
Das Recherchezentrum CORRECTIV hat sich nun zu Wort gemeldet mit einer Auswertung des Sanktionsgeschehens in den Jobcentern: So unterschiedlich kürzen Jobcenter den Hartz IV-Empfängern das Existenzminimum, so haben die das Ergebnis überschrieben.
»Kein Bus oder Bahnticket, keine neue Kleidung, am Monatsende kaum noch Essen: Hartz IV-Empfänger, die von ihren Jobcentern sanktioniert werden, müssen oft auf fast alles verzichten. Die mehr als 400 Jobcenter in Deutschland sanktionieren Hartz IV-Empfänger, wenn diese nicht zu Terminen erscheinen, Jobs ablehnen oder eine Beschäftigungsmaßnahme abbrechen. Wenn es hart kommt, zahlt der Staat überhaupt nichts mehr. Jeden Monat trifft die komplette Streichung von Leistungen rund 7000 Menschen.«
Man habe die Daten aller 407 Jobcenter ausgewertet. »Die Analyse zeigt: Wie häufig und wie stark die Jobcenter das Existenzminimum kürzen, unterscheidet sich drastisch. So werden in manchen Städten nicht nur besonders viele Arbeitslose sanktioniert. Manche Jobcenter streichen den Empfängern auch deutlich mehr Geld als andere.«
Die Sanktionsquoten der Jobcenter im Jahr 2016 streuen erheblich: Die niedrigste Sanktionsquote für 2016 wird für den Hochtaunuskreis mit 0,7 Prozent ausgewiesen, während das Jobcenter Rosenheim eine Quote in Höhe von 6,8 Prozent hatte. Das ist zehnmal so viel wie im Hochtaunuskreis.
Im Bundesdurchschnitt werden 20 Prozent des Regelbedarfs gekürzt - auch hier gibt es eine erhebliche Varianz zwischen den Jobcentern: Das Jobcenter Südwestpfalz kürzte 2016 im Schnitt mehr als ein Drittel des Regelbedarfs. Im Jobcenter Main-Taunus-Kreis sind es lediglich 11,5 Prozent.
Diese Unterschiede sind begründungsbedürftig. Denn die gesetzlichen Grundlagen - die Sanktionen sind in den §§ 31und 32 SGB II normiert - gelten in allen Jobcentern. Es lassen sich unterschiedliche Ursachen diskutieren:
Zum einen kann man die Jobcenter nicht eins zu eins miteinander vergleichen, sie unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der "Kunden", wie man die Hilfeempfänger dort nennt, sowie hinsichtlich der Arbeitsmarktverhältnisse.
»So gebe es in manchen Landkreisen zum Beispiel mehr freie Stellen. Und wo es mehr Jobs gibt, da laden die Jobcenter ihre Hartz IV-Empfänger häufiger zu Terminen, bieten ihnen mehr Jobs an und wollen sie häufiger in Maßnahmen vermitteln. Im Jobcenter-Jargon nennt man das eine „hohe Betreuungsdichte“. Mehrere Jobcenter-Leiter nennen diese hohe Betreuungsdichte im Gespräch als einen wichtigen Grund für mehr Sanktionen.«
Mit der hohen Betreuungsdichte verteidigt sich auch der Geschäftsführer des Jobcenters Rosenheim. Es gebe nunmal viele Beschäftigungsangebote. Aber: Die Arbeitsmarktlage wie in Rosenheim gilt auch für den Jobcenter-Bezirk der Stadt München. Dennoch kürzt Rosenheim etwa dreimal so viele Hartz IV-Empfänger unter das Existenzminimum wie München.
Also muss es noch andere Ursachen für die Varianz geben. Es ist naheliegend, auf die Mitarbeiter des Jobcenters zu schauen, denn die veranlassen ja die Sanktionierung und das offensichtlich auch bei vergleichbaren arbeitsmarkteichen Rahmenbedingungen ganz unterschiedlich:
„Persönliche Einstellungen und Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern können ebenfalls die Sanktionswahrscheinlichkeit beeinflussen“, schrieb schon 2013 das rheinland-pfälzische Arbeitsministerium in der Antwort auf eine Kleine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Daniel Köbler.
Aus Sicht der Betroffenen ist hier natürlich der Willkür Tür und Tor geöffnet.
Und die Unterschiede zwischen den Jobcentern werden noch größer (und entsprechend noch fragwürdiger), wenn man die Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger, die unter 25 Jahre alt sind, betrachtet. Für diese Personengruppe gilt eine verschärfte Sanktionsregelung, die man im § 31 a Absatz 2 SGB II findet:
»Deutschlandweit wurden im vergangenen Jahr im Schnitt vier Prozent der Unter-25-Jährigen sanktioniert. In einigen Regionen, wie im Hochtaunuskreis, lag die Quote bei weit unter einem Prozent. Im Jobcenter Gotha lag sie 19 Mal höher, die dortigen Mitarbeiter sanktionierten fast zehn Prozent aller Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahren.« Hinzu kommt: »Junge Hartz IV-Empfänger werden nicht nur häufiger, sondern auch härter sanktioniert. Im Schnitt kürzten die Jobcenter den jungen Arbeitslosen fast ein Drittel ihres monatlichen Regelbedarfes – rund zehn Prozentpunkte mehr als im Vergleich zu allen Altersklassen.«
Die härtere Sanktionierung der jüngeren Hartz IV-Empfänger ist nun keine neue und überraschende Erkenntnis: Bereits im Mai 2011 hatte der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit in seinem Positionspapier Ausgrenzung junger Menschen verhindern - neue Wege in der Förderung gehen und Jugendsozialarbeit stärken darauf hingewiesen, dass man in der Praxis der Jobcenter beobachten muss, »dass junge Menschen dreimal so häufig sanktioniert werden wie über 25‐Jährige. Jede fünfte Sanktion führt zur völligen Leistungsstreichung. Um ihr Überleben abzusichern, flüchten sich die betroffenen jungen Menschen oft in illegale Beschäftigung oder Kleinkriminalität. Auch ein völliges „Verschwinden“ der Hilfebedürftigen aus dem Hilfesystem kommt vor. So versagt auch die Jugendhilfe diesen jungen Menschen ihre Unterstützung, denn nach herrschender Rechtsmeinung befürchtet sie, die Regelung des SGB II zu unterlaufen, wenn sie für sanktionierte Jugendliche aus dem Rechtskreis SGB II tätig wird. Daher ist es verbreitete Praxis der Jugendämter, sich für diese Jugendlichen als „nicht zuständig“ zu erklären.« Vgl. dazu auch den Beitrag Diesseits und jenseits der schwarzen Pädagogik: Eine Studie zu den Wirkungen von Sanktionen auf junge Hartz IV-Empfänger - und ihre "Nebenwirkungen" vom 9. Februar 2017.
Ganz offensichtlich muss man davon ausgehen, dass eine wie auch immer ausgestaltete individuelle Willkür in den einzelnen Jobcentern eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Es geht hier aber nicht um die Performance bei einem Theaterauftritt von Laienschauspielern, sondern um die Kürzung des Existenzminimums. Und dass bei den Entscheidungen, die zu Sanktionen führen, offensichtlich einiges schief läuft, kann man auch daran erkennen: »Widersprüche von sanktionierten Hartz-IV-Beziehern haben hohe Erfolgsaussichten. Wie aus einer Bundestagsanfrage der Fraktion Die Linke hervorgeht, wurden 37 Prozent aller Widersprüche gegen Sanktionen im Jahr 2016 (teilweise) stattgegeben. Klagen gegen Sanktionen sind zwar oft erfolglos, im Vergleich zu anderen Klagetatbeständen halten Sanktionen einer Überprüfung aber seltener stand«, kann man diesem Bericht entnehmen: Hohe Erfolgsquoten bei Widersprüchen gegen Sanktionen.
Das hat nicht nur, aber auch mit der Personalsituation in den Jobcentern zu tun. Und die ist von einem doppelten Damoklesschwert bedroht: Zum einen fehlt in vielen Jobcentern Personal für vorhandene Stellen. Dazu als ein aktuelles Beispiel die Situation im Jobcenter Münster: »Im Jobcenter hat die Zahl der unbesetzten Stellen einen neuen Höchststand erreicht. 42 der 322 Schreibtische sind aktuell verwaist – fast doppelt so viele wie vor einem Jahr«, kann man dem Artikel Viele Schreibtische verwaist: 42 Stellen im Jobcenter sind zurzeit unbesetzt entnehmen.
Und dann kommt hinzu: In den Jobcentern werden überdurchschnittlich viele Stellen befristet vergeben, vor allem in der Form der sachgrundlosen Befristung, die man für längsten zwei Jahre machen kann, dann muss der gerade eingearbeitete Mitarbeiter wieder gehen und zeitlich befristete Stellen können neu vergeben werden - nur nicht an den bisher beschäftigten Arbeitnehmer, da das aufgrund der Gefahr eines Einklagens auf eine Entfristung vermieden werden muss. Mit Blick auf die Situation in den Jobcentern, wo immer noch überdurchschnittlich viele Mitarbeiter befristet beschäftigt sind, vgl. den Artikel Befristungen von Jobcenter-Mitarbeitern meist nicht begründet. 95 Prozent der knapp 5.000 befristeten Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit in den Jobcentern sind sachgrundlos befristet, was bedeutet, wenn die ausscheiden (müssen), dann benötigt man neues Personal, das aber wieder erneut eingearbeitet werden muss.
Soll man sich da wirklich wundern, dass die Fehler vor Ort immer größer werden?