Samstag, 6. Mai 2017

Die Armut aus der Perspektive der statistischen Umlaufbahn und mit Blick auf die Betroffenen: Von den großen Zahlen und den vielen kleinen Einzelfällen


Um es gleich voran zu stellen: Es gibt nicht lösbare Dilemmata. Man kann und muss sich diese bewusst machen, aber man wird das eine nicht zugunsten des anderen aufheben können und umgekehrt. Die Armutsforschung und gerade die armutspolitische Debatte wären hier als Beispiel zu nennen: Da gibt es zum einen den Blick von oben auf die großen Zahlen, mit denen man versucht, eine überaus komplexe und zugleich immer viele Einzelfälle umfassende gesellschaftliche Problematik wie "die" Armut quantitativ abzubilden. Das führt dann nicht nur zu den immer wiederkehrenden und letztendlich nicht beantwortbaren Fragen nach dem Muster: Wie viele Menschen sind denn nun arm? Sondern auch zu einem unvermeidbaren methodischen Streit, ob man überhaupt Armut richtig misst, was dann gerne im politischen Streit über die Zahlen instrumentalisiert wird. Wir haben das jüngst erst wieder erleben müssen im Umfeld des nach langen Geburtswehen veröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Und zum anderen sind da Millionen Einzelfälle, bei deren genauerer Betrachtung jedem klar wird, dass wir mit Armut und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben konfrontiert sind - und jeder der davon Betroffenen kann sich aber auch gar nichts davon kaufen, dass es "uns" angeblich immer besser geht oder gar, dass es bei uns doch eigentlich gar keine "richtige" Armut geben würde. Mit diesem Dilemma sind nicht nur wir konfrontiert - sondern auch die Menschen in Österreich.

Da erfahren wir - der Logik der großen einen Zahl folgend: 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind armutsgefährdet. Und direkt nach der Überschrift folgt ein zusammenfassendes Stakkato:

»Die Gefährdung sank seit 2008 um 2,6 Prozentpunkte und ist geringer als im EU-Schnitt, die tatsächliche Armut halbierte sich von 5,9 auf 3 Prozent. Langzeitarbeitslose zählen zur Hochrisikogruppe, 8,3 Prozent sind trotz Erwerbstätigkeit armutsgefährdet.«

Bereits an dieser Stelle trifft man auf die für die ganze Armutsdebatte so typischen hochproblematischen, aber wie selbstverständlich verwendeten Formulierungen wie "die tatsächliche Armut". Die soll ja angeblich nur bei 3 Prozent liegen - und dann erfährt der Leser zugleich: »18 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung oder 1.542.000 Menschen waren im Vorjahr von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen.«

Quelle für solche Berichte war eine Mitteilung von Statistik Austria, die unter der Überschrift Armut und soziale Ausgrenzung 2016: Sinkende Tendenz setzt sich fort veröffentlicht wurde. Es handelt sich um Zahlen aus der  aktuellen EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC). Die gibt es auch für Deutschland (vgl. beispielsweise für 2015 Leben in Europa (EU-SILC). Einkommen und Lebensbedingungen in Deutschland und der Europäischen Union, 2017).
Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich bei den hier ausgewiesenen Zahlen um Hochrechnungen auf der Basis einer Stichprobe handelt, bei dem pro Jahr rund 6.000 österreichische Haushalte befragt werden.

Die neuen Zahlen von Statistik Austria haben eine interessante Debatte ausgelöst. Dazu beispielsweise dieser Artikel von Andreas Sator: Armut lässt Experten rätseln und sorgt für Kopfweh bei Statistikern. »Die Armut in Österreich ist im Sinkflug. Je nach Indikator sind ihr entweder seit 2008 über 150.000 Menschen entflohen, oder sie hat sich sogar halbiert.« Satire mahnt allerdings zur Vorsicht bei der Bewertung der Ergebnisse, die doch eigentlich ganz nüchtern daherkommen.
  • Da ist zum einen der Zweifel am Bezugsjahr 2008: »Die offiziellen Armutszahlen aus dem Jahr 2008 sind nicht sehr aussagekräftig. Sie sind wahrscheinlich zu hoch gegriffen. Denn der starke Rückgang im nächsten Jahr – die Armutsgefährdung ist um 1,5 Prozentpunkte gefallen – ist unplausibel.«
  • Hinzu kommt: Die Zahlen stammen aus einer Hochrechnung, es wird von 6.000 Haushalten auf ganz Österreich geschlossen. Das wird zwar sorgfältig gemacht, wie bei Wahlumfragen gibt es deshalb aber eine sogenannte Schwankungsbreite. »Das echte Ergebnis ist: Die Armutsquote liegt irgendwo zwischen 16,5 Prozent und 19,4 Prozent.«
  • Dennoch: Die Armut sinkt trotzdem – nur langsamer. Nimmt man als Beispiel die Menschen mit "erheblicher materieller Deprivation": »Ignoriert man die Daten von 2008 und zieht 2009 als Vergleich heran, ist die Quote seither von 4,6 auf drei Prozent gesunken. Der Rückgang ist stärker als die Schwankungsbreite, heißt es aus der Statistik Austria.«
  • Es bleiben Fragezeichen: Dass die Armut jetzt sogar zurückgeht, obwohl die Arbeitslosigkeit und die Wohnungs- und Lebensmittelpreise so stark gestiegen sind, kann sich niemand erklären. "Ich rätsle", wird Martin Schenk von der Diakonie zitiert, einer der renommiertesten Armutsforscher des Landes. "Plausibler wäre es umgekehrt." Schenk weiter: "Der Sozialstaat funktioniert." Es gebe aber trotzdem noch zu viele Arme, Migranten und Alleinerzieher seien seit jeher betroffen. Zusätzlich trifft es jetzt auch ältere Langzeitarbeitslose, sagt Schenk, "die sind seit der Krise eine Riesengruppe". 
Perspektiven- oder Seitenwechsel

»Rationierte Lebensmittel und schimmelige Wohnungen: Wie arme Menschen mitten in der Gesellschaft leben und hoffen, nur nicht aufzufallen« - das ist das Thema des Artikels Es reicht kaum zum Essen von Maria Sterkl. In dem berichtet sie aus der österreichischen Hauptstadt Wien. 

Da wäre beispielsweise Anna Femi. »Täglich 26 Euro für vier Personen. So viel bleibt der 55-Jährigen, wenn man von ihrem Haushaltsbudget die Kosten für Wohnen und Energie abzieht. 26 Euro für sich und jene drei ihrer vier Kinder, die bei ihr wohnen, für U-Bahn-Tickets, Handyrechnungen, Reparaturen, Bücher, Einkäufe. Femi ist eine von vielen. Wer mehrere Kinder zu versorgen hat, zählt zur Hauptrisikogruppe. Während die Politik die Flüchtlinge im Visier hat, wenn sie an Sozialhilfekürzungen denkt, trifft es alle; ganz besonders aber alleinerziehende Frauen. Unter ihnen ist der Anteil der Working Poor, also jener, die von ihrem Einkommen nicht leben können, besonders hoch ... Auch Anna Femi könnte mit ihrem Teilzeitgehalt als Museumsrestauratorin und der Familienbeihilfe nicht leben, ihr Lohn wird durch eine Mindestsicherungszahlung aufgestockt.«
»Wenn sie irgendwo sparen könne, dann am ehesten beim Essen, sagt Femi.« Brot kauft sie einmal in der Woche ein. »Dafür stellt sie sich vorm Sozialmarkt an, einem Laden, in dem man nur einkaufen darf, wenn man sich als armer Mensch ausweisen kann: ein Exklusivclub für Unterprivilegierte.«

Oder Maria Meixner, 65 Jahre alt. »Meixner lebt von der Mindestpension. Armut kannte sie schon als Kind ... "Früher war es leichter, in der Stadt arm zu sein", erzählt Meixner. Seit den siebziger Jahren hat sich die Miete ihrer Wohnung verdreifacht. Fürs Essen bleiben ihr heute 100 Euro im Monat. Trotzdem: "Hunger habe ich nie." Das sei alles eine Frage der Planung ... Die Wienerin singt ein Loblied auf die Kartoffel. "Ein wahres Wundernahrungsmittel" sei die Knollenfrucht, sie liefere nicht nur Kohlenhydrate, sondern auch Vitamine, im Gegensatz zum Brot, von dem sie sich nur die allerbilligste Variante leisten könne, die "nur aus Mehl besteht". Kartoffeln gibt es im Fünf-Kilo-Sack um 2,50 Euro, und sie kommen bei Meixner fast jeden Tag auf den Tisch.«

Und zu ihrer Geschichte erfahren wir: »Als Maria Meixner jung war, hatte sie ein hübsches Einkommen. Sie war Angestellte in der Finanzbranche und "so etwas wie eine Karrierefrau". Dann, mit über dreißig, kamen die Kinder, und bald ging der Mann. Sie war Alleinerzieherin. Erst hatte sie ihre Kinder zu versorgen, später auch die Eltern. In den Job kehrte sie nicht zurück. Das Geld war immer knapp. Sobald die Kinder groß genug waren, hörte sie auf, im Winter ihre Wohnung zu heizen. Das hält sie bis heute so. Wenn es draußen wirklich kalt ist, "dann sitzen halt alle im Bett".«
Wie die ältere Dame mit ihrer Situation umgeht - man ahnt schon, was jetzt kommt: »Sie meidet auch den Sozialmarkt, weil es sie stört, dass man sich dort in eine Datenbank eintragen, sich outen muss.«

Man könnte die Liste mit solchen immer einzigartigen Fallbeispielen unendlich verlängern, auch wenn natürlich bestimmte Muster erkennbar sind. Denn die Armen sind ja im Regelfall nicht arm, weil sie sich das bewusst so ausgesucht haben, sondern meistens sind sie da reingerutscht, sie waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und die gesellschaftlichen Strukturen um sie herum können sie weiter runter schubsen oder auffangen.

Aber auch der Artikel von Maria Sterkl, dessen Fokus der einzelne Mensch ist, adressiert am Ende eine leider zu beklagende Diagnose:

»Arm zu sein gilt als Makel. Es wird den Armen angelastet, arm zu sein. Wenn wieder eine Studie belegt, dass Armsein krank macht, kommt immer einer, der höhnt: Sollen sie weniger Junkfood essen. Es ist eben einfacher, das Verhalten der Armen anzuprangern als die Verhältnisse, die Armut schaffen.«

Aber selbst wenn die Armen ihre Ernährung umstellen würden, aus den Mauern der sie umgebenden und nicht selten arm machenden gesellschaftlichen Prozesse kommen sie deshalb noch lange nicht raus. "Wenn ich in einer schimmligen Wohnung lebe und einen Job habe, der meine Gesundheit ruiniert, kann ich mich noch so gut ernähren", so Martin Schenk von der österreichischen Diakonie.