Um das gleich an den Anfang dieses Beitrags zu stellen: Sozialpolitik ist Politik und die ist niemals "wertfrei", "objektiv", "neutral" - sie kann es nicht sein. Die Ambivalenz von Sozialpolitik kann man daran verdeutlichen, dass sie einerseits immer höchst normativ sein muss, was man schon daran erkennen kann, dass eine der wichtigsten Bauelemente jeder Sozialpolitik ein bestimmtes Menschenbild ist, ob nun bewusst oder eher unbewusst, dass dem (Nicht-)Handeln zugrunde gelegt wird. Zum anderen aber haben sozialpolitische Maßnahmen immer auch eine funktionale Dimension, beispielsweise die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in einer Gesellschaft, die selbst von denen zugestanden werden muss, die sich auf der Sonnenseite des Lebens befinden und denen ansonsten die Lebenslagen der unteren Hälfte der Gesellschaft völlig egal sind.
Im öffentlichen Diskurs gibt es nun hinsichtlich der sozialpolitischen Themen eine gewisse Aufgabenteilung, die sich zuweilen auch reflexhaft verfestigt hat. Da sind dann beispielsweise "die" Wohlfahrtsverbände, die für sich selbst eine "Anwaltsfunktion" reklamieren. Und die dann oftmals von der Gegenseite zu hören bekommen, sie würden soziale Probleme "dramatisieren"bzw. "skandalisieren", um sich im Kampf um mediale Aufmerksamkeit zu positionieren - oder gar, sie würden das nur machen, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, die mit ihren Einrichtungen und Diensten verbunden sind, abzusichern.
Vor diesem Hintergrund ist es dann für manche eine erhebliche Irritation (und für andere eine klare Bestätigung), wenn der Generalsekretär des größten Wohlfahrtsverbandes, also der Caritas, Georg Cremer, unter der Überschrift Warnung vor "Sozialpopulismus" so zitiert wird:
»Er sagte ..., das heraufbeschworene Bild von der wegbrechenden Mitte entspreche nicht den Fakten. Cremer sprach von Untergangsrethorik und Sozialpopulismus. Dies verfestige den Eindruck, die Politik kümmere sich überhaupt nicht mehr um die Probleme der Bürger. Tatsächlich sei Deutschland aber ein stabiles, relativ gut regiertes Land.«
Dieser Einwurf des Herrn Cremer passt in die vergangenen Monate und zur Rolle, die sich der Caritas-Generalsekretär selbst gegeben hat. Besonders sichtbar wurde das in der Armutsdebatte in unserem Land, wo sich Cremer gegen Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und andere Akteure zu stellen versucht, die eine zunehmende Armut bzw. Ungleichheit in Deutschland beklagen. Das sieht Cremer ganz anders. Um seine Position zu verbreiten, hat er in diesem Jahr dieses Buch veröffentlicht:
Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?, 2016
Darin kritisiert er die "rituelle Empörung" und die "Superlative der Skandalisierung" in der Armutsdebatte. Diese Veröffentlichung wurde in zahlreichen Medien überaus positiv rezipiert. Dazu nur beispielsweise der Artikel Caritas-Chef Georg Cremer wendet sich gegen Empörungskultur von Andreas Oswald: »Er setzt auf Fakten und konkretes Handeln, statt auf Empörungskultur«, so Oswald. Und Jenni Thier überschlägt sich in ihrem in der FAZ veröffentlichten Porträt schon bei der Überschrift: Der unerhörte Freund der Armen: »Georg Cremer kämpft gegen die Skandalisierung der Armut. Er plädiert für Rationalität statt Emotion. Damit tritt der Mann von der Caritas vielen Menschen auf die Füße.« Und Thier bezieht sich explizit auf die bereits angedeutete Auseinandersetzung mit Ulrich Schneider, wenn sie ausführt, dass sich Cremer selbst nicht geeignet sieht, die "Rolle des den Untergang des Sozialstaats beschwörenden Verbandsfunktionärs" zu besetzen, dafür gebe es einen anderen - eben Ulrich Schneider:
»Der ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, ein anderer großer Player in der Wohlfahrtsbranche. Als Schneider vergangenes Jahr seinen Armutsbericht vorstellte, klang das so: Die Armut in Deutschland sei „sprunghaft angestiegen“, sie habe einen „neuen Höchststand“ erreicht. Cremer hält das für unseriösen Alarmismus, fordert die „Bereitschaft zum Detail“ - und arbeitet sich an den Zahlen ab, damit zwischen „seriöser Analyse und scheinwissenschaftlich verpacktem Unfug“ unterschieden werden kann.«
In anderen Kreisen stößt Cremer auf erhebliche Vorbehalte und Kritik. Beispielsweise beim Vorsitzenden des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland, dem Mediziner Gerhard Trabert, der auch Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz ist. Im Kontext einer Veranstaltung mit Cremer in Rheinland-Pfalz wird er in dem Artikel Mediziner Trabert fordert konkretes Handeln gegen Armut so zitiert:
»Dem Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands, Georg Cremer, warf Trabert vor, die Auswirkungen von Armut zu verharmlosen und zu bagatellisieren. Jeder dritte der von Armut betroffenen Männer erreiche nicht das 65. Lebensjahr. Damit sei die durchschnittliche Lebenserwartung eines von Einkommensarmut betroffenen Mannes nicht höher als in Nordafrika.«
Auch hier spielen Fakten und ihre Wahrnehmung eine Rolle - also ist es offensichtlich nicht so einfach, dass eine Seite, in diesem Fall der Herr Cremer, für sich die Faktenseite reklamiert, während die anderen unter "Ideologieverdacht" gestellt und abgewertet werden.
Aber um die Armutsdebatte, die in diesem Blog mit zahlreichen Beiträgen begleitet wurde und wird, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Sondern eine andere Spur, anhand derer man aufzeigen kann, dass auch Cremer eine höchst normative, manche würde sagen: ideologische Sichtweise auf Sozialpolitik einnimmt, wenn sie ihm passt. In der Meldung Warnung vor "Sozialpopulismus" findet man auch diese Ausführung des Generalsekretärs der Caritas:
»Cremer sagte, eine seriöse sozialpolitische Debatte müsse anerkennen, dass Politiker die Realität nicht dauerhaft ignorieren könnten. So sei die Rentenreform beispielsweise nicht gemacht worden, um die Bürger zu quälen, sondern um die Kosten einer alternden Gesellschaft für die Rentenversicherung in den Griff zu bekommen.«
Wenn Herr Cremer eine "seriöse sozialpolitische Debatte" für sich in Beschlag nimmt, dann sollte er beispielsweise auch solche Fakten zur Kenntnis nehmen: Rente wird mager. Jeder zweite Beschäftigte käme höchstens auf 795 Euro, berichtet Stefan Vetter in der Saarbrücker Zeitung. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland kann im Alter nur mit einer gesetzlichen Rente auf Grundsicherungsniveau rechnen. Das geht aus Zahlen der Bundesregierung und des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden hervor, die der Zeitung vorliegen. Schauen wir einmal genauer hin:
Aktuell ist ein monatliches Bruttogehalt von 2.330 Euro notwendig, um im Laufe eines durchschnittlich langen Arbeitslebens (gegenwärtig 38 Jahre) eine Rente in Höhe der staatlichen Grundsicherung im Alter zu erzielen. Und wie stellt sich die reale Verteilung dar?
»Von den gut 37 Millionen Beschäftigungsverhältnissen, die in der aktuellen Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2014 erfasst wurden, verdienten jedoch rund 19,5 Millionen Beschäftigte weniger als 2.330 Euro im Monat. Damit bekämen 52 Prozent der Beschäftigten im Alter eine Rente von weniger als 795 Euro. Das ist der aktuelle bundesdurchschnittliche Grundsicherungsbedarf im Alter.«
Nun wird an dieser Stelle immer wieder und nicht zu Unrecht kritisch angemerkt, dass man aus niedrigen Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung nicht automatisch auf Grundsicherungsabhängigkeit im Alter schließen kann und darf, denn dafür ist immer das tatsächliche Haushaltseinkommen entscheidend, das sich zum einen aus dem Gesamteinkommen aller im Haushalt lebenden Personen zusammensetzt und zum anderen auch aus mehreren Quellen stammen kann.
Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass gerade hier in diesem Blog immer wieder ein professioneller Umgang mit den Statistiken angemahnt und eingefordert wird. Dazu nur ein Beispiel aus dem April 2016: Der WDR hat Ergebnisse einer Recherche zur drohenden Altersarmut ab dem Jahr 2030 veröffentlicht. Mit einer mehr als beunruhigenden Botschaft, die natürlich sofort aufgegriffen wurde: Fast jedem Zweiten droht die Altersarmut: »2030 werden von 53,7 Mio Rentnern etwa 25,1 Mio. von Altersarmut bedroht sein.« Das war und ist schlichtweg falsch und das muss man entsprechend kritisieren, auch wenn man anders als ein Herr Cremer mit guten Gründen davon ausgeht, dass die Altersarmut ganz erheblich ansteigen wird. Die Zahlen wurden in dem Beitrag Viele Menschen stehen vor der Altersarmut, wenn sich im System nichts ändert. Aber gleich mehr als 25 Millionen Menschen? Wohl kaum vom 12. April 2016 auseinandergenommen.
Auch Stefan Vetter führt in seinem Artikel aus, dass die Bundesregierung immer wieder darauf hingewiesen, dass sich das Einkommen der Senioren auch noch aus anderen Quellen zusammensetzt. Dadurch lasse sich eine „deutlich höhere Gesamtversorgung“ erzielen. »Nach dem aktuellen Rentenversicherungsbericht von Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) stammen durchschnittlich 63 Prozent der Rentnereinkünfte, also knapp zwei Drittel, aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Rest verteilt sich auf andere Bezüge wie zum Beispiel Betriebsrenten und Lebensversicherungen.«
Nur ist es doch eine Binsenweisheit, dass alles im Leben ungleich verteilt ist - und man muss nur ein paar Minuten in Ruhe nachdenken, um die These nachvollziehen zu können, dass die, die derzeit deutlich weniger als die 2.230 Euro im Monat verdienen (und dabei handelt es sich um Millionen Menschen), in der Regel auch weniger bis gar nicht in der Lage sind, zusätzliche Einkommensquellen für das Alter aufbauen zu können, beispielsweise über eine private Altersvorsorge. Oder die eben unterdurchschnittlich bis gar nicht von Betriebsrenten profitieren werden, die man eher bei denen finden kann, die über höhere Einkommen (und damit auch höhere gesetzliche Renten) verfügen. Und selbst wenn der einzelne Arbeitnehmer jetzt anfängt, privat vorzusorgen - tolle Aussichten angesichts der erzielbaren "Renditen".
Das ist eine durchaus faktenbasierte sozialpolitische Bewertung, während die Position, die Regierung hätte bei den "Rentenreformen" gar nicht anders können, eine weniger faktenbasierte als denn eine ideologische Position ist, die natürlich von den Vertretern des herrschenden Systems und ihren Unterstützern sehr gerne legitimatorisch in Anspruch genommen wird. Und schon ist man Teil einer Maschinerie, deren Mechanik man bei den anderen als "scheinwissenschaftlich verpacktem Unfug" gebrandmarkt hat.
Nachtrag: Das Interview mit dem Caritas-Generalsekretär Georg Cremer ist am 25.12.2016 online gestellt worden und kann hier im Original eingesehen werden: Die Mittelschicht fürchtet den sozialen Abstieg. Zu Recht?