Unter der Überschrift "Manche sind einfach schlechte Verlierer" wurde am 12.12.2016 in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Peter Bofinger über seinen ewigen Kampf mit der Mehrheit deutscher Volkswirte um Mindestlohn und Sparkurs im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den "fünf Wirtschaftsweisen", veröffentlicht. Die Überschrift ist ein Zitat von Bofinger und bezieht sich auf das Streitthema gesetzlicher Mindestlohn. Die Interviewer führt in seiner Frage aus: »Als er 2014 beschlossen wurde, klatschten Sie. Die Mehrheit der Sachverständigen warnte, er koste viele Jobs. Mancher sprach von Hunderttausenden.« Die Antwort von Peter Bofinger: »Die Bilanz des Mindestlohns ist prächtig. Ich hatte das erwartet. Die Branchen-Mindestlöhne etwa am Bau, im Elektrohandwerk oder bei den Friseuren hatten nie Jobs gekostet. So ist es auch jetzt. Wo die Löhne vorher besonders niedrig waren, entstand sogar mehr Beschäftigung als anderswo ... Davon profitieren Arbeitnehmer, Staat und Sozialkassen.« Manche der Ökonomen, die sich schlichtweg vertan haben in der Diagnose, werden von ihm als schlechte Verlierer bezeichnet. Und an vielen Stellen ist Bofingers Bewertung bestätigt worden, beispielsweise mit Blick auf das besonders gerne und immer wieder als "Opfer" deklarierte Gastgewerbe in diesem Beitrag vom 18. November 2016: Der Mindestlohn nicht als apokalyptischer Reiter, sondern als Stimulus für das Gastgewerbe.
Aber offensichtlich haben wir es mit besonders renitenten schlechten Verlierern zu tun, die einfach nicht locker lassen wollen - und die offensichtlich immer wieder Medien finden, die ihnen zur Hand gehen bei der Aufrechterhaltung einer - nun ja - mehr als eigenwilligen Wirklichkeitskonstruktion.
In der Folge wird man dann am Ende des Jahres 2016 - also zwei Jahre nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns - mit so einem Artikel konfrontiert, bei dem sogar gleich das ansonsten zuweilen noch gesetzte rhetorische Fragezeichen fehlt und wie in Stein gemeißelt dem Leser mit auf den Jahresende gegeben wird: Ohne Mindestlohn gäbe es heute 60.000 Jobs mehr. Punkt und aus. Nehmt das, ihr Gutgläubigen. 60.000 Jobs, die gleichsam im Mutterleib der Wirtschaftsmaschine abgetötet worden sind und niemals das Tageslicht des Arbeitsmarktes haben erblicken dürfen. Wegen diesem Mindestlohn.
Eigentlich hat man den Impuls, das mit einem Achselzucken angesichts der Realitäten wegzuwerfen, aber wir werden Zeugen einer wirklich dreisten Vorgehensweise von Journalisten, die sich nicht zu schade sind, solche hanebüchenen Aussagen aufs Papier zu drücken: "Wirtschaftsforscher ziehen eine verheerende Bilanz". Dann muss doch was an der Sache dran sein, wenn das "Wirtschaftsforscher" sagen, das sind doch Wissenschaftler und nur der Wahrheit verpflichtet.
Wie hier getrickst wird, erkennt man dann schon im nächsten Absatz (den wahrscheinlich viele schon nicht mehr gelesen haben, die Botschaft war ja eindeutig), denn dort wird aus der "verheerenden" eine "ernüchternde" Bilanz, Klingt schon gedämpfter. »Die teilweise befürchteten Jobverluste seien bisher zwar ausgeblieben«, muss man knirschend zugeben, ansonsten wäre der wahrlich postfaktische Gehalt des ganzen Unterfangens zu offensichtlich geworden. Aber da sei letztendlich nur die "gute Konjunktur" für verantwortlich, ansonsten weiß man genau: Die Geringqualifizierten leiden unter dem Mindestlohn.
Und dann wird alles in den Topf der Verzweiflung geworfen:
„Negative Beschäftigungseffekte sind vor allem durch ausgefallene Einstellungen zu beobachten. Ohne den Mindestlohn hätten 60.000 zusätzliche Jobs entstehen können“, sagt Christoph Schröder, Experte für Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln).
Sein Kollege Hagen Lesch kritisierte vor allem die anstehende Erhöhung zum 1. Januar 2017 auf 8,84 Euro je Stunde. „Die jetzt vorgenommene Anhebung halte ich für verfrüht, weil wir einen gewaltigen Integrationsbedarf von weniger gut qualifizierten Flüchtlingen haben.“
Ach ja, das Institut der deutschen Wirtschaft. Die müssen als ein von den Arbeitgebern finanziertes Institut natürlich ständig nach möglichen Kritikpunkt am Mindestlohn fahnden. Aber man sollte sich schon damit auseinandersetzen - weniger mit der Instrumentalisierung "der" Flüchtlinge für ein Anti-Mindestlohn-Politik, das ist durchschaubar (und gefährlich).
Sondern woher kommt eigentlich diese präzise Quantifizierung von 60.000 zusätzlichen Jobs, die nun nicht entstanden sind? So ex cathedra von einem Wirtschaftsforscher - da muss doch was dran sein. Hat er das berechnet? Werden in dem Artikel irgendwelche Quellen genannt? Aber nein, natürlich nicht, es geht ja auch nicht um einer seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern schlichtweg um Propaganda.
Wie gut, dass es Menschen gibt, die in der fachlichen Debatte drin sind und nicht nur die Studien zur Kenntnis nehmen, die lediglich eine Seite beleuchten, sondern auch die Arbeit der anderen. Und seriöse Mindestlohnbefürworter kennen sehr wohl die Quelle für die im Artikel genannten 60.000 Jobs, die angeblich den Mutterleib des deutschen Arbeitsmarktes nicht haben verlassen können.
Diese Quelle geht zurück auf eine Veröffentlichung des IAB. Das ist in diesem Blog bereits vor Monaten behandelt und auch auseinandergenommen worden, vgl. hierzu den Beitrag Mindestlohn: Von leckeren Erdbeeren und Spargelstangen bis hin zu rechnerisch nicht geschaffenen Niedriglohnjobs, die zu einem tatsächlichen Verlust deklariert werden vom 9. April 2016.
Es geht um diese Studie:
Mario Bossler und Hans-Dieter Gerner: Employment effects of the new German minimum wage Evidence from establishment-level micro data. IAB-Discussion Paper 10/2016, Nürnberg, 2016
Ein fast schon putzig zu nennender Versuch, irgendwas nachzuweisen, was man dem Mindestlohn an Schlechtigkeit doch noch anhängen kann, wenn schon die ursprünglich vorhergesagte Beschäftigungskatastrophe ausgeblieben ist. Das Ergebnis ihrer Arbeit wurde damals (!) in einer Agenturmeldung so zusammengefasst:
»Der gesetzliche Mindestlohn hat nach Erkenntnissen von Arbeitsmarktforschern in Deutschland etwa 60 000 Stellen gekostet. Zwar seien nur wenige Arbeitsplätze wegen der Lohnuntergrenze von 8,50 Euro die Stunde gestrichen worden; manche Betriebe hätten aber wegen der Regelung auf die Schaffung neuer Jobs verzichtet.«
Markus Krüsemann hat in seinem Blog-Beitrag Ein Nicht-Plus als Minus? Dann schadet auch der Mindestlohn irgendwie so auf den Punkt gebracht: »Faktisch sind so gut wie gar keine Arbeitsplätze abgebaut worden, denn der negative Beschäftigungseffekt, die „employment reduction“, von der Bossler/Gerner ausdrücklich sprechen, beruht hauptsächlich auf einer Zurückhaltung bei Neueinstellungen.«
Alles klar? Es geht nicht um Jobs, die wegen des Mindestlohns verloren gegangen sind, denn die vom Mindestlohn betroffenen Betriebe haben ihr Personal weitgehend konstant gehalten, sondern um mögliche Jobs, die ohne Mindestlohn möglicherweise entstanden wären, wenn die ökonometrischen Gleichungen (denen ja ganz bestimmte Annahmen zugrunde liegen, wie sich die Unternehmen hinsichtlich Jobaufbau und –abbau verhalten werden), stimmen. Eine Menge „wenn’s“.
Na ja. Erstens ist es wie dargestellt ein hypothetischer „Jobverlust“ und zweitens wird von den Autoren überhaupt nicht erörtert, wie es dann die »empirisch beobachteten Zunahme der Beschäftigung in ausgewiesenen Niedriglohnbranchen wie etwa dem Gastgewerbe« hat geben können. Man hat schlichtweg nicht nach links und rechts geschaut. Aber genau das wäre eigentlich die volkswirtschaftliche Aufgabe, wenn sich viele Vertreter der Mainstream-VWL nicht selbst auf eine eben nur betriebswirtschaftliche Logik im engeren Sinne reduzieren würde, was die BWLer übrigens viel besser können.
Die Autoren der Studie selbst weisen auf einen überaus positiven Effekt der Mindestlohneinführung für die real existierenden Beschäftigten in den betroffenen Betrieben hin: Bei denen führte der Mindestlohn zu einem Anstieg der durchschnittlichen Löhne um 4,8 Prozent. Angesichts der nun wirklich niedrigen Löhne, über die wir hier sprechen, ist davon auszugehen, dass es sich um Haushalte mit einer marginalen Konsumquote von 100 Prozent handelt, was bedeutet, dass jeder zusätzliche Euro in den Konsum fließen und somit nachfragewirksam wird. Dadurch wurde eine ordentliche Kaufkraft genriert und diese zusätzliche Kaufkraft ist sicher eine der Quellen dafür, dass wir im vergangenen Jahr einen Beschäftigungsaufbau in der Größenordnung von mehreren hunderttausend neuen Stellen bilanzieren durften. Das Aufzeigen genau solcher Zusammenhänge muss man von Volkswirten erwarten dürfen.
Und für die Weiter-Zweifler sei an dieser Stelle noch auf eine andere Studie verwiesen, die Markus Krüsemann in einem Blog-Beitrag am 17.10.2016 fundiert unter die Lupe genommen hat: Ein exzellentes Zeugnis für den Mindestlohn. Konkret geht es um diese Studie:
Garloff, A. (2016): Side effects of the new German minimum wage on (un-)employment: First evidence from regional data. IAB Discussion Paper, Nr. 31/2016, Nürnberg 2016
Krüsemann weist mit Blick auf die verwendete Methodik darauf hin, dass Garloff einen nicht uninteressanten alternativen Ansatz zur Schätzung des mindestlohnbedingten Wachstums von Arbeitslosigkeit und/oder Beschäftigung gewählt hat. »Unter Verwendung von Regionaldaten aus der Arbeitslosen- und der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit werden regionale Beschäftigtengruppen in Hinblick auf ihre Betroffenheit verglichen. Die Vergleichsgruppen ... variieren nicht nur nach den 141 Arbeitsmarktregionen, sondern auch nach Alter und Geschlecht. So hat Garloff etwa Frauen mittleren Alters im nördlichen Mecklenburg-Vorpommern als stark von der Mindestlohneinführung betroffene Erwerbstätigengruppe Männern mittleren Alters in der Arbeitsmarktregion Frankfurt als kaum von der neuen Lohnuntergrenze betroffene Regionalgruppe gegenübergestellt.«
Und Krüsemann hat dann auch das Ergebnis der Analyse von Garloff kompakt zusammengefasst:
»Im ersten Jahr nach Einführung des allgemeinen Mindestlohns (weiter reicht das Analyseverfahren nicht) war in Zellen, die stark vom Mindestlohn betroffen waren, kein langsameres Wachstum der Gesamtbeschäftigung (sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte) erkennbar als in Zellen, die weniger stark betroffen waren. Vielmehr sind in diesen Zellen sogar besonders viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstanden.
Auch in Bezug auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit waren keine Unterschiede feststellbar. Garloff schlussfolgert daraus, dass der Mindestlohn bisher weder zu Rückgängen der Gesamtbeschäftigung bei den analysierten Gruppen noch zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hat.«
Und ja, auch wenn es den notorischen Mindestlohngegnern schwer fällt, das Fazit kann man wie Krüsemann so zusammenfassen: »Kein mindestlohnbedingter Anstieg der Arbeitslosenquoten messbar; kein langsameres Wachstum der Gesamtbeschäftigung durch den Mindestlohn nachweisbar; auffällige Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in von der Mindestlohneinführung besonders betroffenen regionalen Beschäftigtengruppen; in Westdeutschland kein Verlust von Minijobs nach Mindestlohneinführung erkennbar, und bundesweit wurde die große Mehrzahl der verschwundenen Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt.«
Mit einer umfassenden volkswirtschaftlichen Analyse kann man das erklären, also vor allem, wenn man nicht die vorherrschende angebotsorientierte Perspektive auch noch verengt auf eine nur betriebswirtschaftliche Wahrnehmung der Löhne (die aus betrieblicher Sicht immer nur als Kosten wahrgenommen werden), sondern eben auch die Nachfrageeffekte der Löhne, vor allem im unteren und mittleren Einkommensbereich berücksichtigt. Wie gesagt, genau das wäre eigentlich von Volkswirten zu erwarten.