Dienstag, 15. November 2016

Where you live can kill you. Arm und krank ist weit mehr als nur ein Sprichwort


Arm und krank - das ist kein leeres Sprichwort. Dass sozial weniger gut gestellte Menschen einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen, geht auch aus österreichischen Daten hervor. Hinzu kommt, dass für sie Leistungen des Gesundheitswesens in manchen Fällen sprichwörtlich unerschwinglich sind. So beginnt der Artikel Arm und krank ist kein leeres Sprichwort, der entstanden ist im Umfeld der Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit (EUPHA), die vom 9. bis zum 12. November 2016 in Wien stattgefunden hat.
»Menschen in Haushalten unter der Armutsgrenze weisen einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als in Haushalten mit hohen Einkommen und sind doppelt so oft krank wie in solchen mit mittleren Einkommen«, wird aus Österreich berichtet. Dabei bezieht man sich auf den von Florian Riffer und Martin Schenk erstellten Bericht Lücken und Barrieren im österreichischen Gesundheitssystem aus Sicht von Armutsbetroffenen, der von der österreichischen Armutskonferenz  herausgegeben und 2015 veröffentlicht worden ist. Dort findet man auch diesen Hinweis: »Die Ergebnisse zum Einfluss von Armut und sozialem Status auf die Gesundheit in Österreich entsprechen den Forschungsergebnissen, die international vorliegen ...  Das Bild ist überall das gleiche: Mit sinkendem sozialem Status steigen die Krankheiten an, die untersten sozialen Schichten weisen die schwersten Krankheiten auf und sind gleichzeitig mit der geringsten Lebenserwartung ausgestattet. Es lässt sich eine soziale Stufenleiter nachweisen, ein sozialer Gradient, der mit jeder vorrückenden Einkommensstufe die Gesundheit und das Sterbedatum anhebt.«

Dieser Aspekt ist gerade auch für eine andere sozialpolitisch brisante Debatte, die in Deutschland derzeit (wieder einmal) aufgemacht wird, von Bedeutung - gemeint ist hier die Forderung, das Renteneintrittsalter an die (steigende) Lebenserwartung über einen Regelmechanismus der synchronisierten Erhöhung zu koppeln. Das Problem ist wie so oft, dass durchschnittliche Veränderungen zuweilen mehr verschleiern als sie an Informationen verdichten, vor allem dann, wenn wir mit einer erheblichen Streuung konfrontiert sind, was gerade bei der Lebenserwartung und ihrem (Nicht-)Anstieg der Fall ist (vgl. dazu ausführlicher bereits Alles ist ungleich verteilt. Auch die statistische Erwartung eines immer länger werdenden Lebens vom 5. März 2016 sowie Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016).

Aber wieder zurück nach Österreich: »Die 385.000 Personen in Österreich, die als arm und mehrfach ausgegrenzt bezeichnet werden können, sind von einem sehr schlechten allgemeinen Gesundheitszustand, von chronischer Krankheit und starken Einschränkungen bei Alltagstagstätigkeiten betroffen - dreimal so stark wie der Rest der Bevölkerung.«

Es soll hier gar nicht der immer wieder aufgeworfenen Henne-Ei-Frage nachgegangen werden, ob die Armen kränker geworden sind durch die Armut oder ob sie arm geworden sind durch Krankheit (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Armut macht krank und Krankheit kann arm machen und beides zusammen führt oftmals in einen Teufelskreis vom 24. Februar 2016).
Das lässt sich ja auch oftmals gar nicht trennen: »Stress durch finanziellen Druck und schlechte Wohnverhältnisse gehen Hand in Hand mit einem geschwächten Krisenmanagement und hängt unmittelbar mit mangelnder Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und einem ungesunden Lebensstil zusammen«, so der Bericht der österreichischen Armutskonferenz.


In der Diskussion über das Gesundheitswesen entsteht oft der Eindruck (bzw. er wird hergestellt), dass vor allem die medizinische Versorgung Gesundheit "produziert". Das ist falsch. Den größten Anteil machen Einkommen und Sozialstatus aus, so auch Armin Fidler, der  jahrelang für die WHO, die Weltbank und das US-Zentrum für Krankheitskontrolle (CDC) gearbeitet hat, auf der Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit. Fidler präsentierte in Wien diese Zahlen:
»Einkommen und sozialer Status bestimmen den Gesundheitszustand zu 40 Prozent. Gesundheitsrelevantes Verhalten macht 30 Prozent aus. Die klinisch-medizinische Versorgung ist für weitere zehn Prozent verantwortlich. Weitere zehn Prozent machen individuelle biologische Faktoren aus.«

Die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen in den meisten Staaten der Erde läuft aber ganz anders: Zumeist gehen fast 90 Prozent in direkte medizinische Versorgung.

Und dann zitiert der Artikel Sir Michael Marmot, dem Präsidenten des Welt-Ärzteverbandes. Der hatte im vergangenen Jahr bei den Alpbecher Gesundheitsgesprächen gesagt:

»Es ist nicht ein Mangel an Gesundheitswesen, der krank macht. Es ist nicht ein Versorgungsengpass an Aspirin, der Kopfweh verursacht. Der Grund für Krankheit liegt hauptsächlich in den sozialen Unterschieden. Das ist kein Phänomen von 'uns' und den Anderen, den Armen. Das ist ein Gradient, der uns alle betrifft. Die etwas weniger Reichen haben schon eine geringere Lebenserwartung als die ganz Reichen, die ganz Armen haben eine geringere Lebenserwartung als die etwas weniger Armen. Ich kann in London mit dem Rad binnen einer halben Stunde von den reichsten Teilen zu den ärmeren Gebieten fahren. Es gibt einen Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung von 20 Jahren.«

Und wenn wir schon in Großbritannien angekommen sind, dann kann man auch diesen Artikel aufrufen: Where you live can kill you von Clare Bambra. Sie beginnt mit dem Hinweis, dass 1842 von dem englischen Sozialreformer Edwin Chadwick ein 30-Jahres-Unterschied zwischen der Lebenserwartung der Männer in der ärmsten Schicht gegenüber denen aus der Oberschicht dokumentiert wurde. Außerdem fand er ein Nord-Süd-Gefälle bei allen sozialen Klassen hinsichtlich der Lebenserwartung, die im Süden höher war als im Norden.

Diese Spaltungen haben sich bis heute erhalten in Großbritannien: »People in the most affluent areas of the United Kingdom, such as Kensington and Chelsea, can expect to live 14 years longer than that those in the poorest areas, such as Glasgow or Blackpool. Men and women in the North of England will, on average die 2 years earlier than those in the South.«

Selbst die neue Premierministerin Theresa May hat bei ihrer Antrittsrede den 9-Jahres-Unterschied zwischen den reichsten und ärmsten Jungen im heutigen England hervorgehoben.

Das ist nicht nur, aber auch ein ökonomisches Problem. Vgl. dazu beispielsweise die Studie von Mackenbach et al. (2011): Economic costs of health inequalities in the European Union, veröffentlicht im Journal of Epidemiology Community Health:

»Inequality related losses to health amount to more than 700 000 deaths per year and 33 million prevalent cases of ill health in the EU as a whole. These losses account for 20% of the total costs of healthcare and 15% of the total costs of social security benefits. Inequality related losses to health reduce labour productivity and take 1.4% off GDP each year. The monetary value of health inequality related welfare losses is estimated to be €980 billion per year or 9.4% of GDP.«

Clare Bambra arbeitet mit internationalen Vergleichen (in ihrem neuen Buch Health divides. Where you live can kill you) und sie kommt zu einer für viele nicht überraschenden Erkenntnis:

»It has been clearly demonstrated that more equal societies almost always do better in health terms and the poorest and most vulnerable groups, say in Sweden or Norway, are far healthier and live longer than the equivalent groups in the UK or the US. These countries have done so through the development of stable, inclusive economy, a supportive welfare system and a high standard of living.«

Was wieder einmal die im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Bedeutung einer Sozialpolitik unterstreicht, der es um den Abbau von Ungleichheit und eine Verbesserung der Lebenslagen der Menschen im unteren Teil der Gesellschaft geht.