Donnerstag, 3. November 2016

Sanktionen und Mehrfachsanktionen gegen das Existenzminimum der Menschen in der Willkürzone und der Hinweis auf ein (eigentlich) unverfügbares Grundrecht


Sanktionen im Hartz IV-System sind eine existenzielle Angelegenheit, wird hier doch das staatlich gewährte Existenzminimum unterschritten oder in den Fällen der Vollsanktionierung sogar vollständig entzogen. Der eine oder andere wird sich an das berühmte Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 erinnern, denn dort hatte das höchste deutsche Gericht bereits in den Leitsätzen in aller (scheinbaren) Klarheit ausgeführt: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden« (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. Februar 2010 - 1 BvL 1/09).

Wenn man diese Leitsätze liest, dann kann man schon die Frage stellen, wie es möglich ist, dass dieses "unverfügbare Grundrecht", das eingelöst werden muss, über den Weg der Sanktionierung monatelang unter das Existenzminimum abgesenkt werden kann bzw. darf. Und das BVerfG hat doch auch in dem Urteil über die Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz aus dem Jahr 2012 eine explizite Bezugnahme auf die Entscheidung aus dem Jahr 2010 vorgenommen und in den Leitsätzen gemeißelt: »Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht.«

Letztendlich kann nur Karlsruhe selbst die von vielen vorgetragene Frage nach der Verfassungskonformität der Sanktionen im Hartz IV-System und den Ausführungen zum Grundrechtscharakter beantworten - und man wird das in absehbarer Zeit auch machen müssen (vgl. dazu genauer Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).

Bei dieser grundsätzlichen Frage werden wir uns also noch gedulden müssen, wobei man wirklich sehr gerne Mäuschen spielen würde bei den Beratungen der Verfassungsrichter über diese nicht nur viele Menschen betreffende, sondern auch logisch als schwer zu knackende Nuss daherkommende Frage.

Zwischenzeitlich werden wir täglich konfrontiert mit Frontberichten über eine Sanktionierungspraxis in einigen Jobcentern, die maßlos, ja willkürlich für den Beobachter erscheint und die wie so oft die schwächsten Glieder in der Kette trifft, die sich nicht richtig wehren können oder die nicht ihr Verhalten so ausrichten, dass sie keine Andockstellen für Sanktionen liefern.

In den Medien wird das selten aufgegriffen und problematisiert. Am 1. November 2016 gab es einen Beitrag in der Sendung des Politikmagazins "Report Mainz", in der das mal zum Thema gemacht wurde: Die alltägliche Hartz-IV-Willkür, so ist der Report Mainz-Beitrag überschrieben worden: »Hartz-IV-Empfänger, die Termine beim Job-Center versäumen oder angeblich gegen Mitwirkungspflichten verstoßen, müssen mit harten Sanktionen rechnen. Bis zu 100 Prozent kann die Regelleistung gekürzt werden. Experten kritisieren das seit langem, weil Menschen somit unter dem gesetzlich garantierten Existenzminimum leben müssen.« Und die dazu gehörende Pressemitteilung steht unter der Überschrift Forscher der Bundesarbeitsagentur empfehlen Entschärfung von Hartz-IV-Sanktionen. Bestimmte Hartz-IV-Empfänger werden  im Sanktionssystem benachteiligt. Sie bekommen häufiger Strafen, etwa wegen Meldeversäumnissen oder bei Verstößen gegen Mitwirkungspflichten.  Die Studie nennt als Grund unter anderem "mangelndes Wissen wenig Gebildeter zu institutionellen Vorgaben" und "Negativzuschreibungen in den Akten dieser Personen" durch Fallmanager. Fazit der Studie: "Das Sanktionssystem im SGB II scheint damit soziale Ungleichheit nach Bildung zu reproduzieren und zu verstärken." Bei der erwähnten Studie handelt es sich um diese Veröffentlichung: Franz Zahradnik et al. (2016): Wenig gebildet, viel sanktioniert? Zur Selektivität von Sanktionen in der Grundsicherung des SGB II, Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, Seiten 141–180.

Ich werde in dem Beitrag so zitiert: »Der Befund der neuen Forschung ist wirklich niederschmetternd aus sozialpolitischer Sicht, weil er belegt einmal mehr, dass die schwächsten Glieder in der Kette am meisten betroffen sind. Gerade diejenigen, die offensichtlich Missbrauch betreiben, gehen ihnen im Regelfall durch die Lappen. Wer übrig bleibt in diesem großen Fangnetz der Sanktionen sind die Leute, die nicht mutwillig, böswillig gegen irgendetwas verstoßen, sondern die beispielsweise bestimmte Dinge gar nicht verstehen« (vgl. auch eine längere Fassung des Interviews).

Im Beitrag selbst werden Beispiele genannt. Und an anderer Stelle kommen die nächste Fälle aus den Untiefen des Sanktionsregimes.

Beispielsweise dieser Artikel: Jobcenter ignoriert Gerichts-Urteil und streicht Hartz IV. Da wird über ein echtes Husarenstück eines wildgewordenen Sachbearbeiters berichtet:

»Eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern aus Soest wartet derzeit vergeblich auf Hartz IV-Leistungen, obwohl das Sozialgericht in einer einstweiligen Anordnung das Soester Jobcenter angewiesen hat, das Geld auszuzahlen. Die forsche Begründung des Sachbearbeiters: Die Entscheidung des Gerichts sei „nicht korrekt“.«

Der die Hartz IV-Empfängering vertretende Rechtsanwalt Jan Strasmann wird mit diesen Worten zitiert: „Ich habe das nicht für möglich gehalten, dass sich eine staatliche Institution (Jobcenter) weigert, einen richterlichen Beschluss umzusetzen.“ Strasmann prüft nun, ein Zwangsgeld gegen das Soester Jobcenter zu beantragen und dort womöglich die Hartz-IV-Leistungen zu pfänden.

»Was war passiert? Dem Sachbearbeiter des Jobcenters waren beim letzten Hausbesuch ein Paar Herrenschuhe im Flur aufgefallen. Daraus schloss er wohl, „dass ein Mann mit im Haus wohnt, der genug Geld hat“, so Anwalt Strasmann. Tatsächlich aber lebe seine Mandantin allein, die Schuhe gehören ihrem Ex-Mann, der gelegentlich vorbeischaue, um seine Kinder zu besuchen und vorübergehend abzuholen.«

Martin Steinmeier, der Leiter des Soester Jobcenter, hat den Sachverhalt bestätigt. »Der betreffende Mitarbeiter habe tatsächlich das Geld trotz anderslautender Anweisung des Gerichts nicht ausgezahlt, sondern Beschwerde gegen die Gerichtsentscheidung eingelegt – und gehofft, dass binnen weniger Tage die nächste Instanz (Landessozialgericht) die Sache abschließend kläre.«

Inzwischen hat sich das Jobcenter anders besonnen und entschieden, „jetzt sofort“ die Hartz-IV-Leistungen zu überweisen - nachdem die Medien darüber zu berichten begonnen haben. Nicht ohne einen zynischen Kommentar an die Betroffene Mutter zu richten: » Im übrigen sei die Soesterin nicht mittellos, da sie Eltern- und Kindergeld beziehe.«

Ein weiteres Beispiel gefällig? Wie wäre es damit: Jobcenter zahlt junger Mutter kein Geld mehr. Jobcenter in Ostprignitz-Ruppin hat einer jungen Mutter aus Rheinsberg, die einen dreijährigen Sohn und eine gut einen Monat alte Tochter hat, alle Bezüge gestrichen.

»Selbst ein Darlehen, eine Zahlung unter Vorbehalt oder eine Teilzahlung der ihr zuständigen Beihilfen hat die Behörde abgelehnt. Die Begründung: Das Amt geht davon aus, dass die junge Frau mit dem Vater ihrer Tochter in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebt.«

Die Mutter bestreitet das. Und nicht nur die:

»Selbst der sogenannte Bedarfsermittlungsdienst des Jobcenters hat laut Miesbauer dafür keinerlei Anzeichen gefunden. Der Anwalt findet es „unglaublich“, dass die Behörde ihren eigenen Prüfern nicht glaubt und seiner Mandantin einfach sämtliche Beihilfen streicht.«

Zur Situation der betroffenen Mutter und ihren beiden Kindern erfahren wir:

»Bis zur Geburt ihre Tochter bekam sie monatlich 900 Euro, wobei knapp 300 Euro stets sofort für die Miete abgingen, 190 Euro Kindergeld waren und 150 Euro Unterhaltsvorschuss. Nun muss die Rheinsbergerin mit 675 Euro leben. Der Betrag kommt allein durch das Kindergeld und den Unterhaltsvorschuss für die zwei Kinder zusammen. Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht. Ohne Hilfe der Mutter, die als Verkäuferin an der Ostsee arbeitet, könnte die junge Rheinsbergerin nicht mal mehr den Kitaplatz für ihren Sohn bezahlen.«

Und vollends kafkaesk wird es, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass der Rechtsanwalt »beim Sozialgericht auch eine einstweilige Verfügung beantragt. Das Ziel: Das Jobcenter soll bis zur Klärung des Hauptstreits wenigstens vorläufig die Kosten der Unterkunft gewähren. Der Anwalt befürchtet sonst, dass das Jugendamt einschreitet und der jungen Mutter ihre Kinder wegnimmt, weil sie diese nicht ausreichend versorgen kann.«

Willkür, Demütigung, Körperverletzung von Amts wegen ... Es ist unglaublich, was sich das draußen abspielt.

Und dann erreicht uns auch noch die Nachricht, dass immer mehr Menschen im Hartz IV-System nicht nur mit einer, sondern mit mehreren Sanktionen in die Mangel genommen werden. Hartz IV: Mehrfachsanktionen auf dem Vormarsch, so hat O-Ton Arbeitsmarkt die Ergebnisse einer Sonderauswertung von Statistiken der BA überschrieben.

»Mehrfachsanktionen werden immer häufiger. Im Juni war jeder dritte Sanktionierte betroffen. 27.000 Sanktionierte hatten zwei Strafen gleichzeitig, rund 11.000 drei, 4.000 vier und 3.200 fünf oder mehr.« Vgl. dazu auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

»Der Anteil der Mehrfachsanktionierten ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Im Juni 2012 waren 29 Prozent betroffen, im Juni 2010 waren es 17 Prozent. Unter ihnen sind immer mehr Personen mit sehr vielen Sanktionen (vier oder mehr) gleichzeitig. Im Juni 2010 entfielen auf „lediglich“ 1.300 Sanktionierte vier oder mehr Strafen gleichzeitig, 2016 ist ihre Zahl auf 7.400 Menschen angewachsen.«

Bei der dritten wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres können die Hartz-IV-Leistungen einschließlich Miet- und Heizkosten sowie Krankenversicherungsbeiträge vollständig eingestellt werden. Für Unter-25-Jährige gelten verschärfte Bedingungen. Hier entfällt bereits bei der ersten Verletzung ihrer Pflichten der komplette Regelbedarf, bei der zweiten werden auch die Unterkunftskosten nicht mehr übernommen. Die Betroffenen können in diesen Fällen (nur noch) Lebensmittelgutscheine erhalten.

Und die Datenauswertung zeigt auch, dass die Sanktionen zunehmen, wenn man die Entwicklung der Zahl der Hartz IV-Empfänger insgesamt berücksichtigt:

»Mit rund 132.000 Menschen waren im Juni dieses Jahres mehr Hartz-IV-Empfänger von Sanktionen betroffen als im selben Monat 2008 (120.500), zu einer Zeit, als es noch deutlich mehr Hartz-IV-Empfänger gab. Tatsächlich wurden ab 2010 deutlich mehr Menschen sanktioniert und auch mehr Sanktionen ausgesprochen, obwohl die Zahl der Hartz-IV-Bezieher sank.«

Muss man noch erwähnen, dass parallel zu dieser Entwicklung die Fördermittel für Hartz IV-Empfänger massiv reduziert wurden und zugleich das Förderrecht seitens des Gesetzgebers immer restriktiver - und an der Lebenswirklichkeit vieler Betroffener vorbeigehend - ausgestaltet wurde? Ja, man muss, denn das gehört auch zu der Geschichte mit der völlig im Ungleichgewicht befindlichen angeblichen Gleichzeitigkeit von Fordern und Fördern.

Hier kommt einiges unter die Räder, vor allem Menschen.