Montag, 24. Oktober 2016

Raus aus der Fürsorge - aber rein in was? Das geplante Bundesteilhabegesetz und die technokratische Stückelung der Behinderung


Es geht um viele Menschen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 7,6 Millionen schwerbehinderte Menschen (also Menschen, denen ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt wurde) am Jahresende 2015 in Deutschland. Das waren 9,3 Prozent der Bevölkerung. Am 7. November 2016 wird es im Deutschen Bundestag eine Anhörung geben zum geplanten Bundesteilhabegesetz. Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) der Bundesregierung liegt vor (BT-Drs. 18/9522 vom 05.09.2016). Mit dem Bundesteilhabegesetz soll die Behindertenpolitik im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt werden. Die UN-Konvention wurde von Deutschland 2008 ratifiziert und fordert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Sie definiert Inklusion als ein Menschenrecht.

Unter der vielversprechenden Überschrift Raus aus der Fürsorge wird uns in Aussicht gestellt: »Schwerpunkt des Gesetzes ist die Neufassung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX). Eine wesentliche Änderung hier: Die Eingliederungshilfe (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe) wird aus dem "Fürsorgesystem" der Sozialhilfe herausgeführt und in das neu gefasste SGB IX integriert. Das SGB IX wird dadurch zu einem Leistungsgesetz aufgewertet.« Das klingt modern, Fürsorge hingegen irgendwie verstaubt und nach Gnadenbrot. Aber zwischen Semantik und Realität liegen oftmals Welten - und immer öfter beschleicht einen das Gefühl, man sollte Begriffe wie Fürsorge lieber wieder reaktivieren statt sie technokratisch zu "modernisieren", auch so ein gesichts- und prima facie inhaltsleerer Terminus. Dazu ein Beispiel.

Die Bundesregierung spricht von einem "kompletten Systemwechsel", der mit dem BTHG vollzogen werden soll - alte Hasen der Sozialpolitik wissen, dass das nicht ohne Opfer abgehen kann und wird.

Greifen wir uns einen Bereich heraus. In dem Artikel Raus aus der Fürsorge kann man diese vielversprechende Botschaft lesen: »Erstmals wird die Teilhabe an Bildung als eine eigene Reha-Leistung anerkannt. Damit werden Assistenzleistungen für höhere Studienabschlüsse oder auch eine Promotion ermöglicht.«
Das wäre doch ein echter Fortschritt, wenn es denn so werden wird.

Kommen wir zugleich zu einem genau so echten Rückschritt, der einhergehen würde mit einer vorgesehenen Regelung im BTHG und der nun zu Recht heftig kritisiert wird: Unter der Überschrift Nicht behindert genug fürs Studium greift Ottmar Miles-Paul eine echte Verschlechterung auf. Er bezieht sich dabei auf den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Mises-Paul hatte bereits am 30.09.2016 unter der Überschrift Behinderten Studierenden droht Exklusion statt Inklusion den Sachverhalt angesprochen, dabei auf die Stellungnahme des Deutschen Studentenwerks zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes seitens Bezug genommen:
»Das Bundesteilhabegesetz ist eigentlich angetreten, um mehr Teilhabe für behinderte Menschen zu ermöglichen. Stattdessen soll nun sehbehinderten Menschen Unterstützung verweigert werden.« Wie das? Miles-Paul zitiert die DBSV-Präsidentin Renate Reymann:

"Im Moment haben sehbehinderte Menschen mit einem Sehvermögen von bis zu 30 Prozent grundsätzlich Anspruch auf Eingliederungshilfe, sie dürfen also beispielsweise Hilfsmittel oder Vorlesekräfte fürs Studium beantragen. Der Gesetzentwurf des Teilhabegesetzes sieht jedoch vor, dass nur noch derjenige Leistungen erhält, der eine sogenannte 'erhebliche Teilhabeeinschränkung' hat. Bevor über den eigentlichen Antrag auf Eingliederungshilfe entschieden wird, ist erst einmal der Nachweis zu erbringen, dass man in mindestens fünf von neun Lebensbereichen nicht allein zurechtkommt, also auf ständige personelle oder technische Hilfe angewiesen ist. Zu den Lebensbereichen gehören unter anderem Selbstversorgung (Waschen, Anziehen, Essen etc.), häusliches Leben (Einkaufen oder Wohnung putzen), Mobilität und die Pflege der Beziehungen zu anderen Menschen. Viele sehbehinderte Menschen fallen damit aus dem System."

Und wer das ganz konkret illustriert haben möchte, wie die Verschlechterung in der Lebensrealität eines Menschen aussehen würde, für den wird Sebastian T. als Beispiel genannt:

Der 24-jährige hat ein Sehvermögen von 20 bis 25 Prozent und studiert technische Informatik. Wegen seiner Sehbehinderung wird ihm eine Studienassistenz finanziert, die beispielsweise in Vorlesungen erklärt, was an die Wand projiziert wird. Ohne Assistenz wäre es ihm unmöglich, dem Unterricht zu folgen. Sein Problem: "Im Alltag komme ich gut zurecht. Ständige Unterstützung brauche ich ausschließlich im Studium – und nicht etwa in vier weiteren Bereichen, wie es in den Regelungen des neuen Bundesteilhabegesetzes vorgesehen ist, um Unterstützung zu erhalten. Das bedeutet, ich müsste meine Assistenz, wenn das Gesetz unverändert in Kraft tritt, selbst bezahlen, weil ich dann nicht mehr als 'behindert genug' angesehen würde. Von den 450 Euro BAföG, die mir im Monat zur Verfügung stehen, könnte ich mir das nicht leisten."

Das kann und darf am Ende des Gesetzgebungsprozesses nicht herauskommen. Aber das schreibt sich leichter als es getan werden kann, denn dem Bundesteilhabegesetz liegt ein unlösbares Dilemma zugrunde: Es soll Verbesserungen bringen, die Inklusive vorantreiben, zugleich aber soll es "aufkommensneutral" umgesetzt werden, also unterm Strich nicht mehr kosten. Viel Spaß bei dieser Übung.

Zugleich kann man an diesem einen Beispiel aus der realen Welt der Beeinträchtigungen erkennen, dass der so modern daherkommende technokratische Zugriff auf das, was die Betroffenen brauchen und was man ihnen zugesteht, eine sehr unangenehme, exkludierende Seite hat (und haben muss, um das in die eigenen Sortierschablonen pressen zu können). Vielleicht sollte man über die warme Seite von Fürsorge nochmal nachdenken.

Auch Alexander Drewes aus dem Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben Düsseldorf hat in einem Blog-Beitrag unter der Überschrift Weshalb darf der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes in der jetzigen Form auf keinen Fall Gesetz werden? vom 22.09.2016 diesen kritischen Aspekt aufgegriffen:

Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes (BTHG-E) will das aus dem Fürsorgerecht der 1920er Jahre stammende Prinzip der Eingliederungshilfe komplett auf neue Füße stellen. Sowohl der Gesetzestext als auch die Begründung klingen in großen Teilen „modern“, in Wahrheit sind sie es aber nicht, so Drewes.

Langjährig tradierte Prinzipien werden, sofern sie zugunsten behinderter Menschen gewirkt haben, einfach „über Bord geworfen“.

So soll ein neuer Grundsatz etabliert werden, der die Hilfe zur Pflege im Rang vor die Eingliederungshilfe setzt.

Das hat Folgen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung:
»Menschen, die Einkünfte erzielen und „nur“ Eingliederungshilfe beziehen, werden nunmehr ein bisschen weniger arm gemacht als bislang. Menschen, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, werden genau so arm belassen, wie das schon heute der Fall ist.« Schon das stellt eine evidente Ungleichbehandlung eines dem Grunde nach gleichen Sachverhaltes dar. Das ist nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz einfach verfassungswidrig, so der Jurist Drewes.
»Die Bundesregierung kann auch nicht erklären, weshalb sie in Zukunft Leistungen „poolen“ will. Beim „Pooling“ ist angedacht, dass mehrere Leistungsbezieher einen identischen Leistungserbringer teilweise oder sogar zur gleichen Zeit nutzen.

Die Erklärung kann auch hier ausschließlich eine fiskalpolitische sein ... Wie sich mehrere Nutzer zur gleichen Zeit ein und dieselbe Assistenzkraft teilen können sollen, wenn sie gleichzeitig – ggf. sogar differente – Bedarfe haben, auch das bleibt das Geheimnis des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.«
Auch Drewes kritisiert massiv die im Gesetzentwurf geplante "5 von 9"-Voraussetzung, also »dass wenigstens aus fünf von neun Bereichen die Notwendigkeit der konkreten Hilfestellung bei der Teilhabe nachgewiesen werden muss (sofern Assistenzleistungen benötigt werden, immer noch aus drei von neun). Das hebelt den Bedarfsdeckungsgrundsatz weitgehend aus, weil viele Menschen zwar hohe Bedarfe an Hilfen haben, diese aber häufig nicht in fünf von den neun Bereichen, die der Gesetzgeber nennt.«

Und dann bringt er das in diesem Beitrag angesprochene Dilemma auf den Punkt:

»Bei Durchsetzung des vorliegenden Entwurfes werden fundamentale Prinzipien des Rechts der Eingliederungshilfe wie der Bedarfsdeckungsgrundsatz durchbrochen und ein Individualisierungsgrundsatz etabliert, der nicht individuell, sondern modular vorgeht.«

Man sollte sich bewusst machen, was das bedeuten wird.

Abbildung: BMAS (2016): Maßnahmen und Ziele des Bundesteilhabesetzes