Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) genießt in weiten Teilen der Bevölkerung einen exzellenten Ruf. Das hängt nicht nur, aber auch mit den Themen zusammen, die hier aufschlagen sowie der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts dazu. Immer wieder geht es um fundamentale Freiheitsfragen und den Schutz der individuellen Freiheitsrechte gegenüber staatlichen Anmaßungen und Zumutungen.
Als eine solche fundamentale Freiheitsfrage kann und muss man sicherlich die Möglichkeit des Staates, Menschen auch gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung zu unterziehen, einordnen. Jeder wird erwarten, dass man diese letzte Option so restriktiv wie möglich ausgestaltet, um Missbrauch und übergriffiges Verhalten zu verhindern. Und man wird prima facie erwarten dürfen, dass das BVerfG diesen Schutz im Auge hat und verteidigt. Vor diesem Hintergrund wird der eine oder andere vielleicht mehr als überrascht gewesen sein, als aus Karlsruhe diese Entscheidung bekannt gegeben wurde: Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar, so hat das Gericht eine Pressemitteilung überschrieben. »Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden dürfen«, so das Gericht mit Bezug auf den Beschluss vom 26. Juli 2016 - 1 BvL 8/15. Also das Recht des Staates, sich gegen den Willen der Menschen eine Behandlung durchzuführen, wurde nicht begrenzt, sondern die Pflicht des Staates, das zu machen, wurde ausgeweitet.
Dieses auf den ersten Blick überraschende Ergebnis der Rechtsprechung des BVerfG verdient eine genauere Betrachtung. Deshalb zuerst einmal ein Blick auf den Sachverhalt, der diesem Beschluss zugrunde liegt:
»Die zwischenzeitlich verstorbene Betroffene des Ausgangsverfahrens litt unter einer schizoaffektiven Psychose. Sie stand deswegen seit Ende April 2014 unter Betreuung. Anfang September 2014 wurde die Betroffene kurzzeitig in eine Pflegeeinrichtung aufgenommen. Dort lehnte sie es ab, die zur Behandlung einer Autoimmunerkrankung verordneten Medikamente einzunehmen, verweigerte die Essensaufnahme und äußerte Suizidabsichten. Nachdem die Betroffene mit richterlicher Genehmigung auf eine geschlossene Demenzstation in einem Klinikum verlegt worden war, wurde sie auf der Grundlage mehrerer betreuungsgerichtlicher Beschlüsse im Wege ärztlicher Zwangsmaßnahmen medikamentös behandelt. Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Betroffene auch an Brustkrebs erkrankt war. Zu diesem Zeitpunkt war sie körperlich bereits stark geschwächt, konnte nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Geistig war sie in der Lage, ihren natürlichen Willen auszudrücken. Auf richterliche Befragung äußerte sie wiederholt, sie wolle sich nicht wegen der Krebserkrankung behandeln lassen. Daraufhin beantragte die Betreuerin, die Unterbringungsgenehmigung für die Betroffene zu verlängern und ärztliche Zwangsmaßnahmen, insbesondere zur Behandlung des Brustkrebses, zu genehmigen. Das Amtsgericht wies den Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Die Betroffene könne mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht nach § 1906 Abs. 1 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Die Beschwerde zum Landgericht blieb erfolglos. Auf die Rechtsbeschwerde der Betreuerin hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung der Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung vom 18. Februar 2013 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG).«
Das BVerfG hat nun die auf der Ebene des Amts- und Landgerichts getroffene Zurückweisung des Antrags auf Zwangsbehandlung verworfen. Als Schlüsselsatz hierfür kann man den Leitsätzen aus dem Beschluss des Gerichts entnehmen:
»Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt die Schutzpflicht des Staates, für nicht einsichtsfähige Betreute bei drohenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter strengen Voraussetzungen eine ärztliche Behandlung als letztes Mittel auch gegen ihren natürlichen Willen vorzusehen.«
Die Verfassungsrichter sprechen den niemals auflösbaren Zielkonflikt an, wenn sie ausführen: »Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Es stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet.« Und bezogen auf den konkreten Sachverhalt: »Bei Betreuten, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, verdichtet sich die allgemeine Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht.«
Eine "konkrete Schutzpflicht" bedeutet, dass der Staat handeln muss, auch gegen den Willen des Betroffenen.
»Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen. Diese Schutzpflicht folgt aus der spezifischen Hilfsbedürftigkeit der unter Betreuung stehenden Menschen. Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.«
Aber gibt es da nicht noch eine andere grundrechtlich zu schützende Seite? Die wird natürlich auch gesehen und auf den Punkt gebracht:
»Ein medizinisches Tätigwerden gegen den natürlichen Willen der Betreuten kollidiert mit deren Selbstbestimmungsrecht und ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Jeder ist nach dem Grundgesetz grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Seine Entscheidung, ob und inwieweit er eine Krankheit diagnostizieren und behandeln lässt, muss er nicht an einem Maßstab objektiver Vernünftigkeit ausrichten.«
Die Positionierung in diesem Dilemma erfolgt mit diesem Satz: »Die staatliche Schutzpflicht gegenüber den Hilflosen überwiegt ... im Verhältnis zu deren Selbstbestimmungsrecht und ihrer körperlichen Integrität und setzt sich durch.« Unter zwei einschränkenden Bedingungen:
1. ) Gehen mit der zur Abwehr der Gefahr notwendigen medizinischen Maßnahme keine besonderen Behandlungsrisiken einher und
2.) gibt es auch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Behandlungsverweigerung dem ursprünglichen freien Willen der Betreuten entspricht.
Vor diesem Erläuterungshintergrund wird klar, dass das Gericht dem Gesetzgeber den Ball nicht unkompliziert wieder zurückspielt: »Weil sich die konkrete Schutzpflicht im Ergebnis gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht und der körperlichen Integrität der Betroffenen durchsetzt, ist der Gesetzgeber im Interesse einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf die zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen gehalten, inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte Voraussetzungen für eine medizinische Zwangsbehandlung zu schaffen.«
Was der Beschluss praktisch bedeutet? »Hilflose und nicht einsichtsfähige Menschen können künftig einfacher einer medizinischen Zwangsbehandlung unterzogen werden ... kann dies auch abseits einer geschlossenen Unterbringung - etwa in regulären Kliniken oder Pflegeheimen - zulässig und angezeigt sein«, so Martin Wortmann in seinem Artikel Verfassungsgericht erleichtert die Zwangsbehandlung.
Und der Gesetzgeber? Der hat jetzt einen unmittelbaren Handlungsauftrag bekommen und muss zugleich sein gesetzbereischhn Gestaltungsspielraum ausfüllen. Dazu das Verfassungsgericht in seiner Pressemitteilung:
»In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können nicht nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden.« Das ist das Rechtsproblem, denn durch diese Ausschlussregelung wird den Betroffenen »nicht der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil«, was das BVerfG als verfassungswidrig festgestellt hat.
Die Nichterfüllung einer konkreten Schutzpflicht des Gesetzgebers für eine bestimmte Personengruppe führt zu folgender Konsequenz:
»Es liegt in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob er die Schutzlücke durch Einbeziehung der betroffenen Personengruppe in den § 1906 Abs. 3 BGB unter Verzicht auf eine freiheitsentziehende Unterbringung oder außerhalb dieser Norm gesondert behebt.«
Das wird natürlich dauern. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang: Die festgestellte Schutzlücke für Betreute ist »unverzüglich zu schließen«, so das Gericht. Und weiter:
»Mit Rücksicht darauf, dass die geltende Rechtslage auch bei drohenden gravierenden oder gar lebensbedrohenden Gesundheitsschäden dieser Personengruppe die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, ist die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung anzuordnen.«
Mit anderen Worten: Ab sofort kann nicht nur, sondern muss nach Maßgabe des § 1906 Abs. 3 BGB gehandelt werden auch in den Fällen, in denen dieser Paragraf eigentlich nicht gilt.