Samstag, 30. Juli 2016

Abschied von einer Lebenslüge der deutschen Pflegepolitik reloaded? Eine „Mischstrategie der Regulierung und der Förderung“ mit Blick auf die "24-Stunden-Pflege"


So viele tun es. Und in aller Regel tun sie es in einer Schattenwelt, im halblegalen, ein man es genau nimmt im illegalen Bereich. Sie viele Angehörige von Pflegebedürftigen, die sich eine "Svetlana" oder "Olga" ins Haus holen, für eine "24-Stunden-Pflege" ihres Pflegefalls. Und seit Jahren wissen wir, dass das eine Schattenwelt in mehrfacher Hinsicht ist, eben nicht nur nach unseren rechtlichen Maßstäben, sondern auch mit Blick auf die Menschen, die überwiegend aus Osteuropa nach Deutschland kommen und teilweise Monate am Stück in den Wohnungen der Pflegebedürftigen ihre Arbeit verrichten.

Der Terminus „Lebenslüge“ wurde von dem Dramatiker Henrik Ibsen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Er prangerte damit scheinheilige Verlogenheit, Doppelmoral und krampfhaftes Festhalten am schönen Schein an, was in seiner Sicht typisch war für das Bürgertum seiner Zeit. Nun hat sich seither vieles verändert – unter anderem die pflegerische Versorgung alter Menschen –, aber die genannten Ausdrucksformen der Lebenslüge im Sinne von Ibsen haben sicherlich nichts an ihrer Bedeutung und Aktualität verloren. In vielen Bereichen der Sozialpolitik haben wir mit solchen Lebenslügen zu kämpfen und ein ganz besonders „prächtiges“ Exemplar können und müssen wir in der Pflegepolitik verorten. Gemeint ist hier die Tatsache, dass immer wieder Namen wie Olga, Svetlana oder Anna als letzte Rettung in Situationen der höchsten Not genannt werden, wenn es um die Versorgung und Betreuung eines pflegebedürftigen Menschen zu Hause geht, zugleich aber die meisten Familien, die eine Olga, Svetlana oder Anna beschäftigen, permanent „mit einem Bein im Knast stehen“, weil sie teilweise gegen mehrere Vorschriften gleichzeitig verstoßen – und verstoßen müssen, auch wenn sie es gar nicht wollen, womit wir uns dem Kern des Problems zu nähern beginnen.

Mit diesen Worten begann eine Veröffentlichung von mir, die im Jahr 2010 erschienen ist:

Sell, Stefan: Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 09-2010, Remagen 2010

Darin findet man neben etwas, um das sich viele herumgedrückt haben und vor dem sie sich weiterhin drücken, weil man sich unumgänglich die Hände schmutzig machen muss: Mögliche Lösungswege für eine Legalisierung der Beschäftigung von Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten (Sell 2010: 8-11).

Geht man aus von der doppelten Zielbestimmung, dass den Privathaushalten neben einer bezahlbaren Betreuungs- und Grundpflegedienstleistung durch ausländische Betreuungs- und Pflegekräfte vor allem ein so weit wie möglich einfach ausgestalteter Weg der legalen Beschäftigung dieser Kräfte eröffnet werden soll, dann lassen sich zwei Ansatzpunkte für eine „personenbezogene Sonderregelung“ dieses Bereichs identifizieren.

1. Eine der tatsächlichen Praxis entsprechende Legalisierung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung der Arbeitskräfte im Privathaushalt, also der bereits heute grundsätzlich vorhandenen Möglichkeit („BA-Modell“), allerdings erweitert um zwei an der Lebensrealität orientierten Erweiterungen: (1.1) Zum einen muss die Illusion einer tatsächlichen Einhaltung der Arbeitszeitbegrenzung auf eine 38,5-Stunden-Woche aufgegeben werden, um dieses Einfallstor einer immer möglichen Kriminalisierung des Arbeitgebers Privathaushalt zu schließen und (1.2) zum anderen muss man den Privathaushalten durch eine unterstützende Infrastruktur bei der korrekten Abwicklung des Beschäftigungsverhältnisses helfen, denn oftmals sind diese mit dem damit verbundenen administrativen Aufwand völlig überfordert, den sie deshalb übernehmen müssen, weil sie – anders als bei der Fallkonstellation der entsandten Pflegekräfte heute – zwingend die Arbeitgebereigenschaft zugeschrieben bekommen (so ja auch im bereits heute vorhandenen „BA-Modell“).

2. Ein „Selbständigkeits-Modell“, bei dem auch eine Beschäftigung einer selbständig tätigen Betreuungs- und Pflegekraft im Privathaushalt möglich wird. Die wichtigste vom deutschen Normalmodell abweichende Regelung würde sich hierbei auf den Tatbestand der heute immer gegebenen faktischen Scheinselbständigkeit beziehen, es müsste also bei der Realisierung eines Selbständigkeits-Modells von der Zuordnung zur Scheinselbständigkeit aufgrund der Tatsache, nur einen Auftraggeber zu haben, abgesehen werden, denn dieser Tatbestand liegt in den hier interessierenden Fällen einer Arbeit in einem Privathaushalt logischerweise immer vor und deshalb muss von vornherein als abweichende Option die selbständige Tätigkeit auch bei nur einem Auftraggeber als aus der Sache zwingend sich ergebend zugelassen werden. Beim Selbständigkeits-Modell stellt sich natürlich die ergänzend Frage nach einer ausreichenden Absicherung der auf dieser Grundlage tätigen ausländischen Arbeitskräfte. Diese Frage lässt sich aufspalten in eine Absicherung im engeren Sinne, die sich also vor allem darauf bezieht, wie der Kranken- und Unfallversicherungsschutz bei uns organisiert wird, darüber hinaus in einem weiteren Sinne aber auch die Frage, wie eine Berücksichtigung der Tätigkeit inden Heimatlandsystemen der sozialen Sicherung erfolgen kann bzw. ob dies passieren soll. Etwas zuspitzend ließe sich an dieser Stelle formulieren: Das „Selbständigkeits-Modell“ ist aus Sicht der Privathaushalte in Deutschland durch deren Reduktion auf den Status eines Auftraggebers tendenziell attraktiver als der sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-Modell, bei dem sie zugleich zu Arbeitgebern mutieren, während für einen größeren Teil der Arbeitskräfte aus dem Ausland das „Selbständigkeits-Modell“ eher ungünstiger erscheint, wenn sie eine Gegenüberstellung mit dem versicherungspflichtigen „Beschäftigungs-Modell“ vornehmen würden.

Beide Modelle können und müssten eingebunden werden in ein „Verbundmodell“ mit den professionellen ambulanten Pflegediensten, das wir in praxi ja auch heute schon vielerorts haben und das mehr oder weniger gut praktiziert wird. Denn die meisten Haushalte, in denen Haushaltshilfen und Betreuungs- und Pflegekräfte beschäftigt werden, nehmen parallel spezielle pflegerische Dienstleistungen seitens der Pflegedienste in Anspruch.

Soweit meine damaligen Überlegungen. Aber immer wieder musste ich in den Folgejahren die Erfahrung machen, dass die Politik bei diesen viele Familien existenziell bewegenden Fragen auf Tauchstation geht. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Nun gibt es in dieser Angelegenheit einen neuen Vorstoß. Bernhard Emunds, Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie sowie Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts, hat ein Modell entwickelt, das die Pflegearbeit von osteuropäischen Migrantinnen in deutschen Seniorenhaushalten regulieren soll, berichtet Alexander Keller in seiner Rezension Damit es Oma gutgeht: Gegen Pflegeausbeutung in der „24 Stunden Pflege“.
Auch Bernhard Emunds beklagt, dass „die Bundesregierung vor den teilweise skandalösen Arbeits- und Lebensbedingungen die Augen verschließt. Sie tut so, als gäbe es bei dieser Beschäftigung in Privathaushalten keine Probleme“.

»Die sogenannten 24-Stunden-Pflegerinnen, die meist auch in den Senioren-Haushalten wohnen, seien in der Regel an sieben Tagen die Woche im Einsatz. Pausen von zwölf oder mehr Stunden, in der sie nichts für ihre betagten Arbeitgeber tun müssten, seien die Ausnahme. „Von den 100.000 bis 200.000 Polinnen, Bulgarinnen, Rumäninnen und Ungarinnen arbeiten die meisten schwarz oder als Scheinselbstständige“, sagte der Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Emunds hat seine Forschungsergebnisse in dem Buch „Damit es Oma gutgeht“ veröffentlicht.«

Emunds rät trotz der regelmäßigen Gesetzesverstöße gegen Steuer-, Sozial- und Arbeitsrecht von Razzien und Steuerfahndungen in Privathaushalten ab. Statt einer „Regulierung mit der Brechstange“ empfiehlt der Frankfurter Sozialethiker eine „Mischstrategie der Regulierung und der Förderung“. Wie soll die aussehen? Keller berichtet von drei Komponenten:

»Erstens solle der Gesetzgeber eine Sonderregelung für die Arbeitszeit der osteuropäischen Pflegekräfte einführen. „Die Arbeitgeber könnten verpflichtet werden, ihren Arbeitnehmern in jeder Woche mindestens 24 Stunden arbeitsfreie Zeit am Stück einzuräumen.“ Außerdem sollte ein Arbeitnehmer nicht länger als drei Monate durchgehend arbeiten dürfen. Zweitens schlägt Emunds vor, in der gesetzlichen Pflegeversicherung – nach österreichischem Vorbild – einen Zuschuss von rund 500 Euro pro Monat für Pflegehaushalte einzuführen, in denen eine solche Pflegekraft tätig wird. Dieser Pflegezuschuss sollte aber nur gezahlt werden, wenn die Angehörigen die Angestellte sozialversicherungspflichtig beschäftigen. Drittens sollten die deutschen Haushalte verpflichtet werden, einer professionellen Wohlfahrtsorganisation Einblick die häusliche Betreuung zu geben. Dazu gehöre dann mindestens ein monatlicher Besuch in jedem Haushalt: zur Unterstützung, aber auch zur Kontrolle.«

Man kann unschwer de Parallelen zu den 2010 veröffentlichten Vorschlägen erkennen. Es bleibt dringend zu hoffen, dass wir endlich überhaupt eine Diskussion über das Thema bekommen und das endlich die "Vogel-Strauß"-Haltung der Politiker ein Ende findet. Die Menschen sind da und wir müssen Antworten geben.