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Freitag, 8. Juli 2016
Wohnen mit Hartz IV? Dann reicht es immer öfter nicht für die Kosten der Unterkunft. Beispielsweise in Berlin
Im § 22 SGB II heißt es gleich am Anfang: »Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.« Was sich einfach und klar anhört, entpuppt sich in der Praxis als hoch problematisch. Das lässt sich festmachen an dem unbestimmten Rechtsbegriff "angemessen". Wann genau sind denn die Kosten angemessen und ab wann nicht mehr? Bereits am 20. Dezember 2015 war das hier Thema: Und wieder einmal grüßt täglich das Murmeltier: Hartz IV und die Wohnungsfrage. Darin wurde mit Bezug auf das Jahr 2014 zitiert: »Sparen auf Kosten der Ärmsten: Im vergangenen Jahr versagten Jobcenter Bedürftigen fast 800 Millionen Euro Sozialleistungen. 620 Millionen davon entfielen auf nicht anerkannte Wohnkosten. Im Schnitt musste damit jede der 3,26 Millionen »Bedarfsgemeinschaften«, also Familien, die Hartz IV beziehen, 200 Euro Miete aus dem Regelsatz zuzahlen«, so Christina Müller in ihrem Artikel Zu wenig zum Leben. Und im vergangenen Jahr wurde eine Studie zur Situation in Berlin publiziert unter dem Titel Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems, der man entnehmen kann: »Die sogenannten "Bemessungsgrenzen der Kosten der Unterkunft" der Jobcenter halten mit den steigenden Mieten in der Bundeshauptstadt nicht mehr mit, so dass Betroffene die Differenz entweder aus eigener Tasche zahlen müssen oder dem Vermieter schuldig bleiben.«
Und nun die Fortsetzungsgeschichte unter der trocken daherkommenden Überschrift Hartz-IV-Empfängern reicht das Geld zum Wohnen nicht von Isabell Jürgens, die auch über Berlin berichtet: »Bei 120.000 Hartz-IV-Haushalten in Berlin decken die bewilligten Wohnkostenerstattungen nicht die tatsächlichen Kosten.«
Zur ersten Einordnung dieser Zahl muss man wissen: Es gibt derzeit in Berlin etwa 300.000 Bedarfsgemeinschaften. Seit einem Jahr regelt die "Aufwendungsverordnung Wohnen" (AV Wohnen), wie viel Geld Hartz-IV-Empfängern zur Deckung ihrer Wohnkosten in Berlin zugesprochen wird. Die alte Regelung war über mehrere Gerichtsinstanzen für rechtswidrig erklärt worden.
Die Zahl der Haushalte, denen die Zuzahlungen zu ihren Wohnkosten nicht ausreichen, hat sich sogar deutlich erhöht, seitdem die Neuregelung in Kraft ist, hat das Stadtforschungsinstitut Topos herausgefunden, wie Isabell Jürgens in ihrem Artikel berichtet:
»Aktuell haben 288.500 Berliner Bedarfsgemeinschaften, in denen rund 550.000 Menschen leben, Anspruch auf Leistungen zur Deckung ihrer Wohn- und Heizkosten. Bei 120.540 von ihnen – das sind 41,7 Prozent – liegen die Nettokaltmieten jedoch auch nach der derzeit gültigen AV Wohnen über den Richtsätzen. 2014 waren es nach Angaben von Topos noch 75.000 Hartz-IV-Haushalte.«
Der Grund dafür: Die Höhe der Mietkostenzuschüsse, die nach der AV Wohnen gewährt werden, geht nicht mit der Realität auf dem Mietermarkt einher. In der Verordnung findet man Nettokaltmieten von 5,33 bis 5,71 Euro je Quadratmeter und Monat, die als "angemessen" definiert werden.
»Tatsächlich liege die Miete, die die Bedarfshaushalte zahlen, durchschnittlich bei 7,47 Euro und damit rund zwei Euro höher.«
Verantwortlich für diese erhebliche Lücke ist die Senatsverwaltung, die nicht die realen Mieten, sondern die amtlichen Mietspiegelwerte zugrunde legt. Und diese weisen deutlich niedrigere Mieten aus, als am Markt gefordert würden.
»Als Konsequenz aus den zu hohen Mietzahlungen fordere das Amt jährlich rund 12.000 Bedarfshaushalte auf, in eine günstigere Wohnung umzuziehen, um so die Wohnkosten zu senken. Tatsächlich gelinge es jedoch nur rund 5000 Mietern, eine billigere Wohnung zu finden.«
In der Konsequenz bedeutet das, dass ein Viertel bis zu einem Drittel der Bedarfsgemeinschaften ihre Miete mit den für den Lebensunterhalt vorgesehenen Mitteln begleichen müssen. Die Deckelung der Unterkunftskostenübernahme führt auch zu so einer Entwicklung:
Es ist zu einer »Abnahme der Wohnflächen der Hartz-IV-Haushalte ... (gekommen): Von 2006 bis 2015 sank die pro Kopf zur Verfügung stehende Wohnfläche von 30,3 auf 27,8 Quadratmeter. Im gleichen Zeitraum konnten sich die anderen Berliner Mieter und Besitzer von Eigentumswohnungen über einen Flächenzuwachs freuen. Ihre Wohnfläche stieg von 38,9 auf 40,6 Quadratmeter.«
Hinzu kommt, so die Studie, die von der Fraktion der Berliner Grünen in Auftrag gegeben wurde: »15.000 Haushalte wohnen gravierend überbelegt.«
Was würde passieren, wenn man endlich die angefallenen Unterkunftskosten übernehmen würde? Dazu wird die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen, Katrin Schmidberger, zitiert: Rund 980 Millionen Euro hat das Land Berlin 2014 für das Wohnen bezahlt. Würde die AV Wohnen auf ein angemessenes Maß angehoben, würde dies Mehrkosten von 40 Millionen Euro jährlich für die Landeskasse bedeuten.
Und Schmidberger fügt an: "Das ist keine Luxusausgabe, sondern schlicht Anpassung an die Realität."
Foto: © Stefan Sell