Erneut muss hier berichtet werden von einer der großen nicht nur tarifpolitischen Baustellen des Landes - dem Einzelhandel, insbesondere dem Lebensmitteleinzelhandel. Hier arbeiten hunderttausende Beschäftigte, überwiegend Frauen. Und die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine ständige Wiederholungsschleife der Klage über sich verschlechternde Arbeitsbedingungen für die dort arbeitenden Menschen, über Tarifflucht der Arbeitgeber, garniert mit Berichten über - an eine ausgemachte Donquichotterie erinnernde - Bemühungen der Gewerkschaft ver.di, Widerstand zu organisieren und die Zerbröselung einer vor dem Jahr 2000 mal wohl geordneten Branche mit einem bis dahin allgemeinverbindlichen Tarifvertrag aufzuhalten und umzukehren.
Und die Warenhauskette Real (Eigenschreibweise: real,-), eine Tochter des Metro-Konzerns, taucht neben anderen Unternehmen immer wieder auf, wenn es um die Beschreibung der angesprochenen Entwicklungslinie im Sinne einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen geht. Auch in diesem Blog, beispielsweise am 1. Oktober 2015 unter der Überschrift Tarifflucht des Arbeitgebers und Zwangsteilzeit für die Beschäftigten. Das ist Real. Wieder einmal über eine Branche auf der Rutschbahn nach unten und dann wieder am 18. Dezember 2015 in dem Beitrag Tarifbindung erreicht - Tarifbindung verloren. Das tarifpolitische Hin und Her im Einzelhandel am Beispiel von Primark und Real. Es geht um ein Unternehmen mit mehr als 36.000 Beschäftigten und (noch) 293 Märkten in Deutschland, wo ein Umsatz von 7,7 Mrd. Euro erwirtschaftet wurde.
Im vergangenen Jahr machte dieses Unternehmen solche Schlagzeilen: Mitarbeiter demonstrieren gegen Lohnkürzungen, in dem berichtet wurde: »Die Unternehmensleitung ist aus der Tarifbindung ausgestiegen und will einen Haustarif mit geringerer Bezahlung verhandeln.« Johannes Supe gab uns in seinem Artikel Einzelhändler auf der Flucht weiterführende Informationen: »Am 17. Juni erklärte Real, die Einzelhandelskette der Metro Group, man wolle seine Stellung im Unternehmerverband HDE ändern. Künftig werde man in eine »Mitgliedschaft ohne Tarifbindung« wechseln. Der Flächentarifvertrag des Einzelhandels verzerre den Wettbewerb, erklärte der Vorsitzende der Real-Geschäftsführung, Didier Fleury. Real müsse 30 Prozent höhere Lohnkosten aufbringen als seine Mitbewerber. Deshalb werde man nun einen Haustarifvertrag anstreben.« Die Geschichte ist weiter gegangen.
Noch Ende Mai dieses Jahres wurde man dann mit solchen Meldungen konfrontiert: Real stoppt die Gespräche mit Verdi: »Die Verhandlungen über einen Haustarif bei der SB-Warenhauskette sind ausgesetzt. Der Arbeitgeber bietet eine Rückkehr in den Flächentarif an, stellt dafür aber Bedingungen, die die Gewerkschaft nicht akzeptieren kann«, so Georg Winters in seinem Artikel. Ohne eine Einigung aber drohe bei Real ein deutlicher Stellenabbau, verbunden mit Filialschließungen. Etwa 800 Jobs in der Real-Verwaltung drohten wegzufallen, zwischen 50 und 100 Niederlassungen könnten schließen, heißt es im Umfeld des Konzerns.
Aber bereits wenige Tage später, am 3. Juni 2016, dann diese Meldung: »Im Tarifstreit zwischen der SB-Warenhauskette Real und der Gewerkschaft Verdi gibt es eine Einigung«, so ebenfalls Georg Winters in seinem neuen Artikel Real-Belegschaft verzichtet bis 2017 auf mehr Lohn:
»Unternehmen und Gewerkschaft wollen ab Oktober über einen neuen Tarifvertrag verhandeln, der Vorbildcharakter für die Branche haben soll. Die Regelung soll im ersten Quartal 2018 stehen. Bis dahin soll eine Haustarif-Regelung gelten, bei der die Mitarbeiter bis einschließlich 2017 auf Gehaltssteigerungen verzichten. Danach soll die Vergütung laut Metro "stufenweise wieder auf das Flächentarifniveau zurückgeführt" werden.«
Aber nicht nur der Verzicht auf Gehaltssteigerungen ist der Preis für die Beschäftigten: »Zudem werden das Urlaubsgeld für 2017, 2018 und 2019 sowie das Weihnachtsgeld für die Jahre 2016 bis 2018 auf 40 Prozent abgeschmolzen. Für 2019 soll es 70 Prozent Weihnachtsgeld geben ... Im Gegenzug für den Gehaltsverzicht behält die Belegschaft den Nachtzuschlag, der für die Zeit von 20 bis 22 Uhr gezahlt wird. Über dessen Streichung war bei den Verhandlungen ebenso diskutiert worden wie eine Verlängerung der Arbeitszeit um eine Stunde. Auch die ist vom Tisch.«
Interessant am Rande ist die vorgesehene Sonderzahlung von einem bzw. 1,5 Prozent des Jahresentgelts für "Beschäftigte, die eine ver.di-Mitgliedschaft nachweisen".
Nun könnte der eine oder andere argumentieren, dass Real hier eben wie andere auch unter die Räder eines gewaltigen Konzentrationsprozesses geraten ist, der gerade diese Tage wieder vom Präsidenten des Bundeskartellamts, Andreas Mundt, in einem Interview beklagt wurde mit dem Hinweis, dass bereits heute die vier großen Ketten Edeka, Rewe, Aldi und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland inzwischen mehr als 85 Prozent des Marktes unter sich aufteilen und dass weitere Konzentrationsprozesse anstehen (Stichwort Übernahme von Kaiser's Tengelmann durch Edeka und nun die angekündigte Übernahme der Supermarktkette Coop durch den Branchenzweiten Rewe.
Aber der nun bekannt gewordene (Übergangs-)Kompromiss beinhaltet eine weitere Dimension, die von grundlegender tarifpolitischer Bedeutung werden könnte. Herbert Wulff hat das schon im Titel seines Artikels darüber auf den Punkt gebracht: Rammbock Real.
Seine Hauptthese: Der gefundene Kompromiss beim Warenhauskonzern Real könnte zur Verschlechterung der Lohnstruktur im gesamten Einzelhandel führen. Wie das?
Die Vereinbarung enthält eine Klausel, die weit über das Einzelhandelsunternehmen hinaus Bedeutung erlangen könnte: Ab Oktober soll dort über eine neue Entgeltstruktur verhandelt werden. Und dem wird offensichtlich eine weit über Real hinausreichende Bedeutung zugeschrieben. Wulff zitiert aus der Präambel des Eckpunktepapier, in der es heißt: »Deshalb werden die Vertragspartner auch auf Flächentarifvertragsebene darauf hinwirken, eine neue Entgeltstruktur zu schaffen, die geeignet ist, für allgemeinverbindlich erklärt zu werden.«
»Das bedeutet: Bei Real soll eine grundlegende Tarifreform ausgehandelt werden, die dann auf die Flächentarifverträge übertragen werden könnten. Ausgerechnet bei Real – dem Unternehmen, das als marodestes der Zunft gilt«, so Wulff. Da kann man sich vorstellen, dass am Ende nicht wirklich ein Ergebnis herauskommen kann, mit dem Situation der Beschäftigten verbessert wird, wahrscheinlich - angesichts der Lage des maroden Unternehmens auch plausibel - eher ein Ergebnis, bei dem das Unternehmen durch die Schlechterstellung der Beschäftigten oder eines Teils von ihnen etwas bekommt und die Arbeitnehmer natürlich entsprechend verlieren.
Und wer das sein könnte, der da Federn lassen müsste, kann man konkretisieren:
»Ihre Ziele hat die Unternehmensleitung in den Tarifverhandlungen der vergangenen Jahre mehr als einmal deutlich gemacht: Sie will vor allem die Kassiererinnen abgruppieren. Als sich das Real-Management mit dieser Forderung in der Tarifrunde 2015 nicht durchsetzen konnte, erklärte es noch während der Verhandlungen den Ausstieg aus der Tarifbindung. Jetzt soll dasselbe offenbar auf dem Weg eines unternehmensweiten Tarifvertrags erreicht werden.«
Die Verschlechterung wäre nicht nur für die (noch) vergleichsweise gut bezahlten Kassiererinnen eine Katastrophe, sondern auch die Gewerkschaft muss sich das gut überlegen, denn sie stellen in vielen Betrieben den Kern der gewerkschaftlich Aktiven und sind unverzichtbar, wenn es denn mal um Streikaktionen geht. Angesichts des sowieso niedrigen Organisationsgrades im Einzelhandel geht es hier also um eine Schlüsselgruppe.
Nicht nur vor diesem Hintergrund sind die anstehenden Verhandlungen über neue tarifliche Regelungen bei Real ein Ritt auf der Rasierklinge für die Gewerkschaft. Sollte es dort eine neue Vereinbarung geben, die eine Schlechterstellung gerade der Kassiererinnen beinhaltet, dann könnte sich die Bereitschaft von ver.di, sich darauf einzulassen, damit Real wieder in die Tarifbindung zurückkehrt, als trojanisches Pferd für die gesamte Branche erweisen, denn klar ist doch: Andere Konzerne werden es sich nicht nehmen lassen, Verschlechterungen für die Beschäftigten der Metro-Tochter im Namen der Wettbewerbsfähigkeit auch bei ihren Belegschaften durchzusetzen verlangen. Und man muss wissen: Die Arbeitgeber verlangen seit Jahren eine strukturelle Entgeltreform, bei der die Absenkung der Vergütung für die Kassiererinnen ein wichtiges Element ist. Bislang blockiert die Gewerkschaft dieses Ansinnen.
Es wäre ein Treppenwitz, wenn man das auflockert oder gar beseitigt über den Umweg einer primär erst einmal unternehmensbezogenen Kompromissvereinbarung bei Real. Dann wäre eine zentrale Schleuse geöffnet und die Arbeitgeber wissen, dass sie es im Einzelhandel mit einem gewerkschaftlichen Gegenspieler zu tun haben, der auch wenn er will oftmals schlichtweg gar nicht kann, weil die Truppen zu klein sind. Das könnte sich dann bitter rächen.