Man kann eine Menge Fragen mit genauen Daten beantworten. Beispielsweise die Zahl der Schafe in unserem Land. Die kennt man, werden sie doch akribisch gezählt und in den Tabellenwerken der Statistiker verewigt. Man sollte meinen, dass das hinsichtlich der Frage, wie viele Menschen in unserem Land leben, ebenfalls so ist. Man sollte das schon wissen, denn wenn nicht, wie kann man dann planen und vorsorgen? Wie kann man die Pflegeinfrastruktur entwickeln und anpassen? Wie kann man den Bedarf an Kita- und Schulplätzen in den Blick nehmen? Wenn man nicht ziemlich genau weiß, wie viele Menschen bei uns wo und wie leben. Aber die Frage, wie viele es denn sind, ist weitaus weniger trivial, als viele wahrscheinlich vermuten. Das vergangene Jahr mit der außergewöhnlichen Zuwanderung im Kontext der Flüchtlinge hat uns verunsichern müssen. Immer wieder wurde man mit Berichten konfrontiert, dass man gar nicht genau sagen könne, wie viele Menschen denn nun als Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Frank-Jürgen Weise, der Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), zugleich Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), wird in der Presse zitiert mit Äußerungen, dass es mehrere hunderttausend Menschen gibt, die offiziell noch nicht wirklich erfasst sind. Aber ist da nicht die Aussage des Bundesinnenministeriums, dass es im vergangenen Jahr, also 2015, gut eine Million Menschen waren, die zu uns gekommen sind? »2015 wurden bundesweit insgesamt 1,09 Millionen Migranten im Datensystem Easy registriert – so viele wie nie in der Geschichte der Bundesrepublik«, kann man an dieser Stelle aus diesem Artikel zitieren.
Und dann muss man so einen Artikel zur Kenntnis nehmen: Von wegen eine Million. Der berichtet von ganz anderen Zahlen der Bundesregierung, nachdem diese im Bundestag gefragt wurde: »Demnach lebten Ende 2015 insgesamt rund 1,25 Millionen Menschen als Flüchtlinge in Deutschland. Ende 2014 lebten bereits 627.000 Geflüchtete in Deutschland, so dass ihre Zahl im Jahr 2015 nur um knapp 600.000 gestiegen ist.«
Zwischen mehr als einer Million und "nur" 600.000 gibt es ja nun schon einen nicht geringen Unterschied. Wie kann das sein? »Grund für die große Differenz beim Anstieg der Flüchtlingszahl ist einerseits, dass die Zahl der an der Grenze registrierten Menschen nur schlecht belastbar ist. So meldete die Süddeutsche Zeitung Ende Februar, dass 130.000 Flüchtlinge nach der Registrierung „verschwunden“ seien. Laut BAMF sind viele in andere Länder weitergereist, in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt oder wurden schlicht doppelt erfasst. Hinzu kommt, dass jährlich auch Flüchtlinge abgeschoben der eingebürgert werden.«
Das klingt nicht nur nicht wirklich vertrauenserweckend, das ist es auch nicht. Allerdings hatten wir bereits vor dem großen Flüchtlingszuzug des vergangenen Jahres massive Probleme, die Zahl der bei uns lebenden Menschen exakt bzw. wenigstens halbwegs genau zu taxieren. Und wir sprechen hier nur von der Zahl der Menschen, noch gar nicht von weiterführenden Informationen über diese Menschen.
Um das zu verstehen, muss man sich klar machen, dass die letzte "echte" Volkszählung in den 1980er Jahren stattgefunden hat, ursprünglich war sie bereits für das Jahr 1981 geplant gewesen. Wegen eines Streits um die Höhe des Bundeszuschusses zur Volkszählung verzögerte sich die Verabschiedung des Gesetzes bis 1982 und damit der geplante Zähltermin auf 1983. Dagegen gab es in Teilen der Öffentlichkeit erhebliche Proteste. Die Zählung, die für den 27. April 1983 geplant war, wurde zunächst bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 ausgesetzt, dann schließlich laut Urteil untersagt (in dem historisch bedeutsamen Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 formulierte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich aus der Menschenwürde des Art. 1 GG und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ableitet). Die erfolgreichen Kläger hatten beanstandet, dass die Ausführlichkeit der Fragen in den entsprechenden Volkszählungsbögen bei ihrer Beantwortung Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulasse und somit den Datenschutz unterlaufe, damit folglich gegen das Grundgesetz verstoße. Der Zensus wurde dann 1987 durchgeführt, begleitet von zahlreichen Protesten.
Dann kam ein historischer Einschnitt, also die Wiedervereinigung. Und allein das hätte eine neue Volkszählung gerechtfertigt. Die war auch geplant, hat aber nie das Licht der Welt erblickt:
»Die ursprünglich für 1991 in der Bundesrepublik und der DDR geplanten Volkszählungen wurden nicht mehr durchgeführt. So fanden seit 1987 in der Bundesrepublik keine Volkszählungen mehr statt – auch nicht nach der Wiedervereinigung von 1990, nachdem die ostdeutschen Länder der Bundesrepublik beigetreten waren und damit etwa 16 Millionen weitere Bürger mit anderen infrastrukturellen Voraussetzungen zum Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland hinzu kamen. Dies geschah überwiegend aus finanziellen Gründen – die letzte Volkszählung 1987 hatte umgerechnet rund 500 Millionen Euro gekostet –, aber auch wegen fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung und der skeptischen Grundhaltung zahlreicher Politiker in allen Parteien.«
2011 wurde ein kleingeschrumpfter Ansatz gewählt, keine echte Volkszählung, sondern deren Substitution durch Registerauswertungen und Stichproben-Verfahren, nur acht Millionen Menschen wurden persönlich befragt.
Das ist übrigens kein auf Deutschland beschränktes Vorgehen. Beispiel Schweiz: »Während die Erhebung von 1850 bis ins Jahr 2010 alle zehn Jahre durchgeführt wurde, wird sie inzwischen jährlich gemacht. Das System hat sich vor sechs Jahren markant verändert: Seither entnimmt der Bund die Informationen zu Altersstruktur, zum Anteil der AusländerInnen in der Schweiz, zum Arbeitsmarkt und zum PendlerInnenverhalten primär den EinwohnerInnenregistern. Schriftlich befragt werden nur noch rund fünf Prozent der EinwohnerInnen. Dazu kommen alle fünf Jahre stichprobenartige Telefonumfragen, die ein Thema vertiefen, sowie jährliche Omnibusbefragungen zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Themen«, so Sarah Schmalz in ihrem Artikel Wem dient das, dem Staat oder den Menschen?
Angesichts des Bedarfs an halbwegs validen Informationen über die Grundgesamtheit der Menschen, die in Deutschland leben, kann diese Aussage nicht überraschen: »Wir brauchen einen Zensus nach alter Art, um Politik modern gestalten zu können.« So das Plädoyer von Andreas Rinke und Christian Schwägerl in ihrem Gastbeitrag Zählen wie Augustus:
»Deutschland steckt in einem dramatischen demografischen Wandel. Nur fällt dieser ganz anders aus, als Wissenschaftler und Politiker ihn in den vergangenen Jahren beschrieben hatten: Anstatt zu sinken, wächst die Bevölkerungszahl, anstatt weniger Babys gibt es mehr. Das Land befindet sich nicht auf dem prognostizierten Schrumpfkurs, vielmehr wächst die Bevölkerung. Somit erweist sich eine der zentralen Grundannahmen für fast alle Politikbereiche als falsch – und das hat gewaltige Folgen ... Hinzu kommt, dass – auch infolge der massiven Einwanderung in den vergangenen Monaten – unser Staat den Überblick verloren hat: Er kennt die Zahl seiner Bewohner und Bürger nicht. Deshalb ist es Zeit für eine ehrliche demografische Bestandsaufnahme. Nur ein genauer Überblick über die in Deutschland lebenden Menschen ermöglicht eine realistische Vorausschau in der Städte-, Verkehrs-, Energie- und Bildungsplanung oder der Rentenpolitik. Deutschland braucht daher eine neue Volkszählung, eine Kopfzählung alter Art, bei der Haus für Haus, Wohnung für Wohnung festgestellt wird, wer wo lebt in unserem Land. Es wäre die erste Volkszählung überhaupt im wiedervereinigten Deutschland ... Die Methoden der bisherigen Bevölkerungsvorausberechnungen erscheinen angesichts der Realität zunehmend fraglich.«
Aber wird es nicht erneut wie in de 1980er Jahren enorme Widerstände in der Bevölkerung geben? Die beiden Autoren haben da keine große Sorge, denn »beim Thema Datenschutz (hat) längst ein gesellschaftlicher Wertewandel stattgefunden. Tagtäglich geben Millionen Menschen via Google, Facebook und WhatsApp Daten preis, die während der Kontroverse um die Volkszählung der achtziger Jahre noch als sakrosankt galten. Da sollte es auch in einem demokratischen Staat möglich sein, dass die Regierung jene Informationen einholen darf, die sie braucht, um die wichtigsten Zukunftsaufgaben meistern zu können.«
So ist das. Und tatsächlich brauchen gerade diejenigen, die für die Menschen planen wollen, vernünftige Datengrundlagen. Es wäre durchaus an der Zeit für eine neue und echte Volkszählung. Man kann das den Menschen sicher gut erklären. Wenn man wollte.