Es gibt sie natürlich immer noch, vielleicht sogar immer drängender, die "anderen" Themen neben der Flüchtlingsfrage. Auch wenn ein Blick nicht nur in die Talk-Shows diese Wochen, sondern auch in die Zeitungen und sonstigen Medien den Eindruck vermitteln könnte, es geht nur noch um Flüchtlinge (und Parteien, die auf dieser Welle surfen).
Zu den einerseits drängenden, andererseits für eine parteipolitische Auseinandersetzung eigentlich überhaupt nicht passungsfähigen Themen von grundsätzlicher Bedeutung zählt sicher die Pflege. Über die Frage der Weiterentwicklung des Pflegesystems, hier insbesondere bezogen auf den Bereich der Altenpflege, wird auf allen Ebenen des föderalen Systems entschieden (oder eben nicht) - aber auf der kommunalen Ebene manifestieren sich die Betreuungs- und Pflegerealitäten. Und allein schon angesichts der enormen Anzahl unterschiedlicher Akteure, ganz abgesehen von den vielen Handlungsfeldern, sieht sich jede seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema zukünftige Gestaltung der Pflege konfrontiert mit einer hoch komplexen Vielgestaltigkeit an einzelnen Stellschrauben, an denen zu drehen wäre, zuzüglich des Denkens neuer Wege und Instrumente. Genau damit musste sich auch die am 27. März 2014 vom baden-württembergischen Landtag eingesetzte Enquetekommission „Pflege in Baden-Württemberg zukunftsorientiert und generationengerecht gestalten“ auseinandersetzen. Deren voluminöser Abschlussbericht ist nun veröffentlicht worden - insgesamt 1.012 Seiten in kleiner Schriftgröße verdeutlichen schon rein quantitativ die herkulische Aufgabe, eine Gesamtschau dessen vorzulegen, was es bedarf, um eine bessere Pflegepolitik zu gestalten.
Der umfangreiche Bericht und Empfehlungen der Enquetekommission "Pflege" beinhaltet viele Problembeschreibungen und Handlungsempfehlungen. Er deckt sämtliche Aspekte der Pflegepolitik ab: Von der akutstationären Pflege im Krankenhaus bis zu Formen ambulanter oder (teil-)stationärer Altenpflege, Fragen der Pflegeberatung, der Aus- und Weiterbildung bis hin zu möglichen Formen der Aufwertung der Pflege im Vergleich zu den Heil- und Gesundheitsberufen. Entsprechend kann man die Lese- und Rezeptionsaufgaben, wenn man sich ihnen denn stellen will, auch so ausdrücken: 600 Empfehlungen für bessere Pflegepolitik, so hat Florian Staeck seinen Artikel in der Ärzte Zeitung dazu überschrieben.
Nun könnte man die Frage aufwerfen, warum sich eigentlich ein Landtag mit dieser Fragestellung beschäftigt. »Die Länder hätten jenseits der Sozialgesetzbücher viele eigene Gestaltungsoptionen, sagte Bärbl Mielich, Landtagsabgeordnete der Grünen und Obfrau ihrer Fraktion in der Enquete ... Als Beispiel verwies sie auf die Ausgestaltung der Heimgesetze durch die Länder«, zitiert Staeck in seinem Artikel. Es sei in der Enquete um die "langen Linien" jenseits der Tagespolitik gegangen. Eine mögliche Umsetzung der vielen Empfehlungen allerdings wird Aufgabe der nächsten Legislaturperiode, denn am 13. März wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt.
Wer sich im Bericht selbst einen Überblick verschaffen möchte, dem sei die Zusammenfassung auf den Seiten 11-21 empfohlen.
Staeck weist in seiner Zusammenfassung darauf hin, dass es teilweise bemerkenswerte fraktionsübergreifende Konsense in dem Bericht gibt, aber sich natürlich parteipolitische Differenzen an verschiedenen Stellen Bahn brechen. Aus seiner Zusammenfassung hier einige Punkte, die eine teilweise sehr kontroverse Behandlung in der aktuellen pflegepolitischen Debatte erfahren:
»Personalausstattung: In der Altenpflege wie im Krankenhaus müsse der Personalschlüssel "an die Versorgungsrealität" angepasst werden. Für Kliniken solle die Bundesregierung eine "verbindliche gesetzliche Festlegung der Personalrichtwerte" prüfen. Nötig sei ein eigenes "Kostengewicht Pflege im DRG-System", damit der Pflegebedarf in der Finanzierungslogik abgebildet wird.«
Im Bericht selbst findet man in der Zusammenfassung diesen Hinweis: »Die Enquetekommission sieht es als notwendig an, die Personalschlüssel für Pflegeeinrichtungen, die in den 1990er Jahren festgelegt wurden und im Jahr 2003 kleinere Anpassungen erfuhren, der Versorgungsrealität anzugleichen« (Enquetekommission 2016: 14).
»Im Abschlussbericht werden größere Kompetenzen vor allem für die akademisierte Pflege als "unumgänglich" bezeichnet. Bei einer neuen Aufgabenverteilung müssten die "Vorbehaltsaufgaben bei der Heilbehandlung neu definiert" werden. Und: Die veränderten Aufgabenspektren müssten sich im "Budget der Leistungserbringer widerspiegeln".«
Bekanntlich gibt es derzeit eine intensive befürwortende und ablehnende Diskussion über die "Verkammerung" der Pflegeberufe, erst vor wenigen Tagen hat die erste Pflegekammer in Rheinland-Pfalz ihre Arbeit aufgenommen. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind auch in den Abschlussbericht eingeflossen:
»Pflegekammer: Nur auf einen Minimalkonsens hat sich die Enquete beim Thema Verkammerung geeinigt. Die Entscheidung über das Für oder Wider könne nicht "ohne ein Votum der in der Pflege beschäftigten Personen getroffen werden", heißt es.
Schon das ging CDU und FDP zu weit: Sie plädieren dafür, die Entwicklung in anderen Bundesländern nur zu beobachten. Ende 2019 solle die Regierung dazu einen Bericht vorlegen.«
Relativ deutlich hingegen ist die Positionierung beim Thema Pflegeberatung:
»Pflegeberatung: Die Enquete verteilt schlechte Noten an die Pflegekassen: Nur wenige von ihnen würden dem Anspruch wohnortnaher Pflegeberatung gerecht, heißt es. Zudem seien die Beratungsangebote zu wenig bekannt. Unabhängig von den Kostenträgern und aufbauend auf die Pflegestützpunkte solle die Landesregierung ein "leistungsfähiges Beratungs- und Casemanagement" aufbauen. Beratung müsse "kleinteiliger, mobiler und zugehender" werden.«
Bei dem wichtigen Punkt der Pflegefinanzierung musste die Kommission die Segel streichen, denn hier war ein Konsens nicht erreichbar, deshalb hat die Komission die jeweiligen Positionen zur Pflegefinanzierung von CDU und FDP einerseits sowie Grünen und SPD andererseits gegenübergestellt.
Ansonsten findet man in dem Abschlussbericht sehr viel Material und Anregungen für die pflegepolitische Debatte.
Einen "Ausstrahlungseffekt" hat die 21-monatige Arbeit in Baden-Württemberg auf alle Fälle - nach Sachsen. »Dort ist das Gremium jüngst unter dem Arbeitstitel "Sicherstellung der Versorgung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege älterer Menschen im Freistaat Sachsen" eingesetzt worden und hat vergangene Woche zum ersten Mal getagt.«