Aber dieser Bericht aus der Boom-Stadt München verdeutlicht, wo die realen Probleme liegen, gerade in den (groß)städtischen Räumen liegen, in denen der Bedarf an Kindertagesbetreuung besonders groß ist (und zugleich weiter ansteigt): Es fehlt vorne und hinten an Personal - wohlgemerkt zu den heutigen Bedingungen, also zu Personalschlüsseln, die in der Fachdiskussion gerade bei den kleinen Kindern als eindeutig zu schlecht gebrandmarkt werden.
Später offen, früher zu, so hat Melanie Staudinger ihren Artikel in der Süddeutschen Zeitung überschrieben.
Oder mit ein paar Zahlen: »Zwei Dutzend Kindertagesstätten müssen ihre Betriebszeit einschränken, weil mehr als 160 Erzieherstellen derzeit unbesetzt sind.«
Da gibt es beispielsweise eine städtische Kita, die bereits nachmittags früher zumacht, »weil Mitarbeiter fehlen. Vier Vollzeit- und drei Teilzeitkräfte kümmern sich um 60 Kinder, bis auf Weiteres dürfen sie keinen Urlaub nehmen. Das sei "eine Bankrotterklärung der Personalpolitik der Stadt München", schimpft ein betroffener Vater.« Und die Eltern bekamen dann noch einen Brief, dass sie besonders darauf achten sollten, kein krankes Kind in die Kita zu bringen, weil wenn nur noch eine Mitarbeiterin ausfällt, dann müsse man eine Teilschließung der Einrichtung vornehmen.
Offensichtlich kein Einzelfall, denn seitens der Stadt wird ausgeführt:
»Nach Angaben des städtischen Bildungsreferats arbeiten derzeit 23 der gut 400 kommunalen Kindertagesstätten mit reduzierten Öffnungszeiten. Das bedeutet, dass sie morgens um bis zu 60 Minuten später öffnen oder nachmittags bis zu eine Stunde eher schließen. Insgesamt seien 164,5 der gut 3000 Stellen für Erzieher bei der Stadt unbesetzt.«
Wenn bei so einer Ausgangslage weitere, z.B. krankheitsbedingte Ausfälle oder Fluktuationen hinzukommen, dann kann man die nicht mehr, auch nicht irgendwie kompensieren.
Und die angespannte Ist-Situation trifft auf eine steigende Nachfrage, berichtet Staudinger:
»Die Stadt wie auch alle freien, sonstigen und privaten Träger stehen vor einem Dilemma: Sie müssen das Betreuungsangebot weiter ausbauen. In München etwa entstehen bis Ende 2016 knapp 2000 Plätze für Kinder unter drei Jahren und 2400 Plätze im Kindergartenbereich. Gleichzeitig aber fehlen Erzieher.«
Die Stadt als Arbeitgeber versucht vieles, um den Mangel zu beheben: »2015 seien 340 Erzieher und 231 Kinderpfleger, also insgesamt 671 Beschäftigte, in den städtischen Einrichtungen eingestellt worden. Im Vergleich zum Vorjahr seien das 33 mehr gewesen, was unter anderem an der Einführung der Arbeitsmarktzulage liegen könnte.« Mit Arbeitsmarktzulage ist gemeint, dass die Stadt seit November 2014 ihren Erzieherinnen monatlich einen Bonus von 200 Euro brutto gewährt, wegen der hohen Lebenshaltungskosten.
Im laufenden Jahr will die Stadt mindestens 490 Erzieher und 160 Kinderpfleger einstellen. Erstmals soll eine "Recruitingmesse" für pädagogisches Personal Werbewellen ausstrahlen.
»Zudem übernimmt die Stadt die Kosten von Deutschkursen für das Erziehungspersonal, hat die Mittel für das Freiwillige Soziale Jahr angehoben, eigene Ausbildungskapazitäten erhöht sowie alternative Ausbildungswege, etwa das Assistenzkräftemodell, geschaffen«, berichtet Melanie Staudinger über die vielfältigen Aktivitäten der Stadt.
Und wieder einmal geht es erst einmal nur um Quantitäten und die dann auch noch mal bezogen auf die bestehenden und von vielen als bereits defizitär beklagten Strukturen. Aber ging es bei den Debatten nicht auch immer um die "gute Qualität" der frühkindlichen Bildung und Betreuung und dass man - um die sicherstellen zu können - eigentlich mehr Personal als heute zugewiesen bräuchte? Was dann natürlich den Personalbedarf weiter nach oben treiben würde.
Dazu einer der betroffenen Eltern mit Blick auf das Hier und Jetzt:
»Von einer guten Betreuung wolle er gar nicht mehr sprechen, erklärt der Vater aus dem städtischen Kindergarten. Damit meint er die Gesamtsituation, die einzelnen Mitarbeiter nämlich würden sich "ein Bein ausreißen", um ihren Aufgaben nachzukommen.«
Eines ist sicher: München ist hinsichtlich der beschriebenen Problematik sicher kein Solitär in der bundesdeutschen Kita-Landschaft, vielleicht deshalb ein etwas verzerrtes Beispiel, weil die von städtischer Seite im Vergleich zu anderen Kommunen schon immer mehr getan haben und auch mit engagierten Konzepten die Arbeit zu fundieren versucht haben.
Wer wissen will, was real existierender Fachkräftemangel bedeutet, wird bei diesem Thema mehr als fündig.
Nun kann man argumentieren, dass das in München sicher ein Problem ist und in vielen anderen Großstädten auch, während es in anderen Regionen anders aussieht. Das ist grundsätzlich richtig, die regionale, zuweilen gar lokale Streuung ist in diesem Fall - wie meistens bei Mismatch-Fragen auf den Arbeitsmärkten - enorm.
Auf dieser Seite findet man auch das Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2014 als Veröffentlichung.
Das sich die Fachkräftemangelsituation zuspitzt und angesichts des Leerlaufens der Reserven, aus denen man die enorme Expansion des eingesetzten Personals in den zurückliegenden Jahren hat abdecken können, weiter an Schärfe gewinnen muss (ohne den zusätzlichen Personalbedarf angesichts der eigentlich notwendigen Verbesserungen des Personalschlüssels hier überhaupt zu berücksichtigen), wurde vor genau einem Jahr in diesem Blog-Beitrag ausführlich unter die Lupe genommen: Erzieher/innen verdienen mehr. Tarifpolitik für und mit den Kita-Beschäftigten: Gut gemeint, aber mit welchem Risiko? vom 19. Januar 2015.
Natürlich stellt sich auch hier die Frage, was denn getan werden könnte bzw. müsste, um das besser und en Griff zu bekommen. Nun muss man fairerweise darauf hinweisen, dass die Deckung des Personalbedarfs im Bereich der Kindertagesbetreuung - zu der übrigens auch die Kindertagespflege gehört - ganz überwiegend eine regionale Angelegenheit ist, auch und gerade, was die Ausbildung neuer Fachkräfte angeht, denn man kann hier nun nicht wirklich von bundesweiter Mobilität ausgehen. Daraus resultieren sehr schwierige regionale Planungsfragen beispielsweise die Ausbildungskapazitäten betreffend. Das kann und soll hier abschließend nicht aufgerissen werden. Aber wenn man die berechtigten Forderungen nach zusätzlichem Personal und einer notwendigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Rechnung stellt, dann wird ein echter Schritt nach vorn angesichts der Tatsache, dass die Kommunen immer noch der Hauptkostenträger sind in diesem wichtigen Feld, nur gelingen, wenn man wie seit Jahren immer wieder gefordert die Finanzierungsarchitektur dergestalt verändert, dass der Bund in eine regelgebundene anteilige Finanzierung der Betriebskosten eingebunden wird.
Finanztechnisch ließe sich das beispielsweise mit dem von mir vorgeschlagenen KiTa-Fonds realisieren (vgl. ausführlicher dazu Stefan Sell: Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen. Das Modell eines „KiTa-Fonds“ zur Verringerung der erheblichen Unter- und Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung in Deutschland. Remagener Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 07-2014, Remagen 2014). Aber darf der Bund das überhaupt? Und darf er beispielsweise über ein von vielen gefordertes Bundesqualitätsgesetz Vorgaben machen, was die notwendigen Personalschlüssel in den Kitas angeht? Er darf, so jedenfalls das Fazit eines Gutachtens, das der renommierte Verfassungsrechtler Joachim Wieland erstellt hat. Dazu aus der Pressemitteilung der Verbände, die das Gutachten in Auftrag gegeben haben:
Ein Bundesqualitätsgesetz für Kitas ist möglich: Der Bund verfüge über die notwendige Gesetzgebungskompetenz, die Länder seien für die Umsetzung zuständig. Zu diesem Ergebnis kommt ein Rechtsgutachten von Prof. Joachim Wieland von der Universität für Verwaltungsrecht Speyer, das er heute im Rahmen einer Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt hat. Eine bundesgesetzliche Regelung sei erforderlich, um gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen sowie die Rechts- und Wirtschaftseinheit in Deutschland zu wahren, erklärte Wieland. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) hatte die Expertise in Absprache mit dem Deutschen Caritasverband (DCV) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Auftrag gegeben. „Rechtlich ist damit der Weg frei für ein Bundesqualitätsgesetz“, stellen die drei Organisationen fest. „Jetzt ist der politische Wille von Bund, Ländern und Kommunen erforderlich, um die Qualität in den Kindertageseinrichtungen in den Vordergrund zu rücken“, unterstreicht der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer.
Wolfgang Stadler, Vorstandsvorsitzender der AWO, sagt: „Vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Kindern mit Fluchterfahrung ist die qualitative Verbesserung der Rahmenbedingungen jetzt unerlässlich. Denn frühkindliche Betreuungsangebote können den Grundstein für eine erfolgreiche Integration legen. Diese Chance gilt es zu nutzen.“ GEW-Vorsitzende Marlis Tepe betont, dass Kinder pädagogische Fachkräfte brauchten, die durch bessere Rahmenbedingungen entlastet werden, um die gesellschaftlichen Anforderungen erfüllen zu können: „Dazu gehören eine bessere Fachkraft-Kind Relation, ausreichende Vor- und Nachbereitungszeit für pädagogische Fachkräfte, hinreichende Freistellung von Kita-Leitungen sowie Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Für die finanzielle Absicherung dieser Qualitätsstandards müssen Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen.“
Das Gutachten im Original:
Joachim Wieland: Ein Bundesqualitätsgesetz – verfassungsrechtlicher Rahmen. Rechtsgutachten für den Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Speyer, 18.12.2015