In den letzten Tagen des Jahres häufen sich die Rückblicke auf das, was im nun auslaufenden Jahr war. Und gerade bei sozialpolitisch relevanten Themen ist das von Bedeutung, denn hier dominiert das immer kurzatmiger werdende Aufrufen aktueller Themen und deren schnelle Ablösung neuer Säue, die durch das Dorf getrieben werden. Regelmäßig kommt dabei das Nachhalten, was denn aus den Themen geworden ist, zu kurz.
Kein halbwegs unabhängiger Beobachter wird sich der Diagnose verweigern, dass wir in den Pflegeheimen und in den Krankenhäusern konfrontiert sind mit einem veritablen Personalproblem - vor allem, neben den qualitativen Fragen, ein zu wenig an Personal, gerade in der Pflege. Auf Twitter wird das nun zu Ende gehende Jahr 2015 eingehen als Jahr des Hashtags #Pflegestreik, unter dem viele Betroffene aus der Pflege selbst den - eigentlich - unabweisbaren Bedarf nach einem großen Konflikt angesichts der immer schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen zum Ausdruck gebracht haben und bringen. In diesem Kontext gab es in diesem Noch-Jahr einen ersten, nur scheinbar kleinen, lokal begrenzten Tarif-Konflikt, der möglicherweise als Initialzündung in die Sozialgeschichte eingehen wird: Gemeint ist der Streik der Pflegekräfte an der Berliner Charité - immerhin Europas größte Universitätsklinik, die mit ihren Tochterfirmen mehr als 16.000 Mitarbeiter beschäftigt und einer der größten Arbeitgeber Berlins ist - im Sommer dieses Jahres, bei dem es nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal ging (vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Blog Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.06.2015 sowie Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 01.07.2015). Wie ist der aktuelle Stand bei diesem so wichtigen Vorstoß zugunsten einer besseren Personalausstattung?
Betrachtet man die aktuelle Berichterstattung, die sich mit der Frage, wie denn eigentlich der Stand der Verhandlungen hinsichtlich der Pflegekräfte an der Charité ist, dann kommt so etwas wie Hoffnung auf: Daniel Behruzi hat seinen Artikel überschrieben mit Charité: Auf der Zielgeraden: »Fortschritte bei Tarifverhandlungen für mehr Personal. Berliner Uniklinik will ab Januar erste Maßnahmen zur Entlastung der Beschäftigten umsetzen«. Und Hannes Heine bringt noch mehr Optimismus schon in seiner Artikel-Überschrift zum Ausdruck: Charité: Tarifvertrag mit Signalwirkung kommt: »Der Tarifstreit zwischen Charité und Verdi steht vor der Lösung - um die Löhne geht es allerdings nicht, sondern um mehr Personal. Eine Mindestbesetzung wäre einzigartig.« Was genau berichten sie?
Bereits seit dem Sommer verhandelt die Gewerkschaft ver.di mit der Charité über Gesundheitsschutz und Mindeststandards bei der Personalbesetzung. Das hat sich in die Länge gezogen, aber nun sei ein "ermutigender Zwischenstand" erreicht worden, so die Charité-Geschäftsführung und auch die Gewerkschaft sieht die reale Option, dass man im Januar zu einem Abschluss kommen kann.
Behruzi berichtet in seinem Artikel, dass »weitgehende Klarheit über die Einführung von Mindestbesetzungsstandards auf Intensivstationen (bestehe). Je nach Betreuungsintensität soll das Zahlenverhältnis zwischen Pflegekräften und Patienten eins zu drei, eins zu zwei oder eins zu eins betragen. Im Durchschnitt aller Stationen soll eine Pflegekraft für nicht mehr als zwei Patienten zuständig sein. Ab Januar soll die Quote von eins zu drei auf keiner Intensivstation mehr unterschritten werden.« Der Fortschritt wird erkennbar, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass bislang eine Pflegefachkraft bis zu fünf Patienten auf den Intensivstationen versorgen musste und muss. Wobei man hier anmerken darf und sollte, dass das, was hier als "Fortschritt" hinsichtlich der Personalbesetzung im Bereich der Intensivstationen gefeiert wird, im internationalen Vergleich in vielen anderen Ländern angesichts der hier eigentlich gebotenen (und in anderen Ländern auch realisierten) 1:1-Betreuung eher für Verwunderung bzw. Kopfschütteln sorgen wird.
»In den sogenannten Funktionsbereichen wie OPs, Kreißsäle und Anästhesie werden Orientierungswerte für die Personalbesetzung festgeschrieben. Auch auf den »Normalstationen« soll sich die Lage merklich verbessern. Hier soll die Stellenzahl laut Eckpunktepapier um fünf Prozent erhöht werden – plus mehr Personal im Nachtdienst und Berücksichtigung von »Sondertatbeständen« wie eine Häufung schwerer Fälle oder Fluktuation.«
Wahrscheinlich ist also eine Einigung im Bereich der Intensivstationen und auch für bestimmte Funktionsbereiche wird man dahin kommen. Noch sehr unsicher sind die Aussichten für die "Normalstationen" und deren Personalbesetzung, hier würde es natürlich richtig teuer werden, wenn sich die Gewerkschaft durchsetzen würde mit ihren Vorstellungen.
Behruzi legt in seinem Artikel den Finger auf eine nicht kleine Herausforderung: »Entscheidend bei den Verhandlungen ist die Frage, was passiert, wenn die Vorgaben nicht eingehalten werden. Denn die Erfahrungen mit einem ersten »Kurzzeittarifvertrag« im Jahr 2014 haben gezeigt, dass Zusagen der Charité-Spitze alles andere als verlässlich sind. Die Gewerkschafter an Europas größtem Uniklinikum pochen deshalb auf ein verbindliches, automatisiertes Verfahren, das bei Verstößen zum Tragen kommt.« Aber angeblich hat die Geschäftsleitung des Klinikums hier Entgegenkommen signalisiert, denn schon im Januar soll ein abgestimmtes Reaktionsverfahren, die sogenannte Interventionskaskade, als Standardprozess eingeführt werden, so die Gewerkschaft:
»In Überlastungssituationen soll demnach zunächst versucht werden, zusätzliches Personal über den Stellenpool oder Leasingkräfte zu finden. Gelingt das nicht, sollen Leistungen reduziert und gegebenenfalls Betten gesperrt werden. Offen ist noch, was geschieht, wenn dieser Mechanismus trotz Vereinbarung nicht eingehalten wird. Nach den Vorstellungen der ver.di-Aktiven müsste das Klinikum die Beschäftigten in diesem Fall mit zusätzlicher Freizeit und/oder Geld entschädigen.«
Man erkennt an diesen Beschreibungen, dass man dort vor Ort angekommen ist an den steinigen und höchst komplexen Mühen der tarifpolitischen Regelungsebene.
Aber auch wenn - was unbedingt zu hoffen ist angesichts des Pilotcharakters - ein Abschluss für mehr Personal an der Charité gelingen wird: Es wäre neben der konkreten Verbesserung in Berlin ein lokal und institutionell begrenzter Erfolg, der (noch) nicht das System und das offensichtliche Systemversagen adressieren kann.
Und dieses Systemversagen kann nur verstanden und schlussendlich aufgelöst werden, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass wir hier konfrontiert werden mit den eben systembedingten Folgen der seit Anfang des Jahrtausends eingeführten neuen Krankenhausfinanzierung in Deutschland - und das in Kombination mit einer fehlenden gesetzlichen Normierung von Mindestpersonalbestimmungen für die Pflege, die man nicht unterschreiten darf, sowie darüber hinausreichend einer nicht vorhandenen aufwandsadäquaten Personalbemessung, die Standards guter Arbeit abzubilden vermag.
Auf diese Zusammenhänge wurde bereits am 8. September 2014 in dem Beitrag Pflegenotstand - und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal ausdrücklich hingewiesen. Die dort präsentierte Diagnose gilt unverändert fort:
»Laut der Gewerkschaft ver.di fehlen insgesamt 162.000 Beschäftigte, allein 70.000 in der Pflege. Diese Situation hat viel mit der Einführung des DRG-Systems vor gut zehn Jahren zu tun, mit dem die Krankenhausfinanzierung in Deutschland von dem damals geltenden System krankenhausindividueller tagesgleicher Pflegesätze sukzessive umgestellt wurde auf landes- und bundesweit einheitliche durchschnittskostenkalkulierte Fallpauschalen.
Mit dem neuen Fallpauschalen-System verfolgte man mehrere Ziele, unter anderen wollte man eine Kostensenkung erreichen durch eine Reduzierung der Verweildauer in den Krankenhäusern und eine Angleichung der mit ihren Kosten über den Fallpauschalen liegenden Krankenhäusern. Die Auswirkungen dieses neuen Systems sind mittlerweile klar erkennbar: Mit Blick auf die Pflege ist zu beobachten, dass es eine erhebliche Arbeitsverdichtung gegeben hat, dies vor allem aufgrund der deutlichen Verkürzung der Verweildauer der Patienten in den Kliniken, was dazu geführt hat, dass die im alten System immer vorhandenen Patienten, die im Grunde nur Hotellerie-Leistungen am Ende ihrer Aufenthaltsdauer in Anspruch genommen haben, heute in den Krankenhäusern schlichtweg nicht mehr vorhanden sind, was natürlich auf der anderen Seite eine deutliche Erhöhung der Pflegeintensität bedeutet. Gleichzeitig gab es aus Sicht des Krankenhausmanagements starke Anreize, beim Pflegepersonal, dass weiterhin den größten Kostenblock innerhalb des Personals darstellt, Einsparungen vorzunehmen, dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass gleichzeitig mehr Ärzte beschäftigt und damit finanziert werden mussten (auch durch Veränderungen bei den Arbeitszeitregelungen), sowie eine Ausweitung des Personals im Verwaltungsbereich, vor allem in den Bereichen Codierung und Controlling.«
Die handfesten Folgen für das Pflegepersonal: Es gibt weniger von ihnen und die leiden angesichts der - mit dem neuen System gewollten und auch erreichten - Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit der Patienten und der damit verbundenen deutlichen Erhöhung der Pflegeintensität der Patienten, die immer kürzer in den Kliniken verbleiben (dürfen) unter einer erheblichen Arbeitsverdichtung. Die Perversität der Systemlogik wird deutlich erkennbar, wenn man sich den "Kellertreppeneffekt" vor Augen führt: Der Abbau von Pflegepersonal verringert die Kostenanteile der Pflege in den Fallpauschalen, was den Druck, weitere Stellen zu streichen, erhöht.
Man kann nun versuchen, innerhalb des Fallpauschalensystems für Änderungen dergestalt zu sorgen, dass der tatsächliche pflegerische Aufwand besser abgebildet wird. Das aber würde (noch) nicht das Problem lösen, dass den Krankenhäusern das Geld insgesamt überwiesen wird und sie entsprechende Freiheitsgrade bei der konkreten Verteilung auf die einzelnen "Kostenstellen" (besser wäre hier: Leistungsstellen) haben, was ja auch im Grunde angesichts der dabei zum Ausdruck kommenden unternehmerischen Autonomie nicht schlecht sein muss - wenn es nicht systembedingt auf Kosten der Pflege gehen würde. Mithin wäre eine gesetzliche Personalbemessung die logische Konsequenz, die man ziehen muss und die bislang gescheut wird wie das Weihwasser vom Teufel. Denn das wäre nicht wirklich neu, sondern man hat in der Vergangenheit bereits kurzzeitig Erfahrungen sammeln können mit diesem Instrumentarium, das unter dem Kürzel PPR geführt wird: PPR ist eine Abkürzung für die "Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)". Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt.
Das ist sie, die Systemfrage - und der werden wir uns im kommenden Jahr widmen müssen, wenn es wirklich eine Änderung geben soll. Denn bei allem Respekt über die mühsamen Versuche in der Charité - sollte dort eine für die Pflege erfreuliche Verbesserung erreicht werden können, löst das gerade nicht das Konkurrenzproblem zu anderen Kliniken, die die damit verbundenen Kosten nicht tragen müssen und sich so (kurzfristig und auf Kosten der Mitarbeiter) einen ökonomischen Vorteil verschaffen können angesichts der Wirkmechanismen des Fallpauschalensystems.