Freitag, 20. November 2015

Die Jugendgewalt geht zurück und verschiebt sich zugleich in die Großsiedlungen am Stadtrand. Über verblassende Mythen, die Umrisse deutscher Banlieues und die Bedeutung von Arbeit

Immer wieder ploppt das im Strom der von den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie beherrschten Medien auf, wird an die Spitze der aufgeregt plappernden Medien gespült, um kurz darauf von der nächsten gesellschaftlichen Sau, die durchs Dorf getrieben wird, abgelöst zu werden. Auslöser ist zumeist ein schrecklicher Einzelfall exzessiver Jugendgewalt, auf den sich die Medien stürzen und der allein schon aufgrund der Tatsache, dass alle ein paar Tage lang rauf und runter darüber berichten, bei den Nachrichten- und Kommentar-Konsumenten den Eindruck vermitteln muss, unser Land versinkt in einem Morast außer Kontrolle geratener Gewalt immer hemmungsloser agierender junger Menschen. In Talkshows wird dann darüber geplaudert, wie man die Sicherheit wieder herstellen kann. Aber wie so oft bei diesem monothematischen Herdentrieb vieler Medien fehlt die sorgfältige Nachbeobachtung und die Berichterstattung, wenn es positive Botschaften zu vermelden gibt, vielleicht weil damit die Angst- und Bedrohungsgefühle nicht aktiviert werden können und ohne Skandalisierung kein Geschäft zu machen ist. So setzen sich bestimmte Bilder in den Köpfen fest, etwa die von der - angeblich - stetig zunehmenden Jugendgewalt, von immer enthemmter ihren Aggressionen freien Lauf lassenden Jugendlichen, von der Korrelation der Jugendgewalt mit Migrationshintergrund.

Wie so oft bleibt es dann der unaufgeregten wissenschaftlichen Beobachtung überlassen, die eigentlich relevante Frage zu stellen und Antwortversuche zu geben: Ist das wirklich so? Was kann man - über spektakuläre Einzelfälle hinaus - generell beobachten? Hierzu erreichen uns aus Berlin interessante und sehr aufschlussreiche Befunde.

Jugendgewalt geht weiter zurück, so lautet einer der (wenigen) Überschriften zu den Erkenntnissen, die man dem Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz - Zweiter Bericht 2015 der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention entnehmen kann. Es sind vor allem zwei zentrale Befunde, die aufhorchen lassen (ein zentraler Punkt - die rückläufige Jugendgewalt insgesamt - wurde schon vor einiger Zeit thematisiert, vgl. hierzu beispielsweise das Interview mit Oberstaatsanwalt Andreas Behm über Fakten und Klischees der Jugendkriminalität: „Jugendgangs gibt es kaum noch“ vom 3. Juli 2015):
  1. In Berlin erreicht die Gewalt von Kindern und Jugendlichen den niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Die messbare Jugendgewalt ist rückläufig. Das ist die eindeutig positive Botschaft.
  2. Allerdings gibt es eine klare Tendenz zu einer Gewaltverschiebung in die Großsiedlungen.
Insbesondere der Bezirk Marzahn-Hellersdorf steht stellvertretend für eine besondere Verdichtung neuer Exklusions- und Gewaltrisiken, heißt es in dem Bericht. Und diese Warnung sollte man nicht beiseite schieben: »Noch sei man zwar weit entfernt von der Gemengelage in den abgehängten französischen Vorstädten, den Banlieues; aber die Gefahr solle man sich vergegenwärtigen«, wird Forschungsleiter Albrecht Lüter von der Arbeitsstelle Jugendprävention zitiert

Und auch ein weiteres Ergebnis der Untersuchung sollte Beachtung finden: Angesichts des geringen Anteils von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Marzahn, Hellersdorf oder Hohenschönhausen trifft hier nicht mehr der sonst landläufige erwartete Befund zu, dass Gewalt vor allem dort herrscht, wo ein schwieriger Sozialstatus mit einem hohen Anteil an Migration zusammenfällt. Charakteristisch für diese Brennpunkte von Jugendgewalt sei vielmehr „die Überlagerung eines schwierigen Sozialstatus mit einer von Großsiedlungen und Hochhausquartieren geprägten städtebaulichen Struktur“.

»Anders als in ...» allen anderen Bezirken ist die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen in Marzahn-Hellersdorf aber nicht rückläufig, sondern stagniert auf hohem Niveau. Das liegt vor allem daran, dass die Gruppe der 8- bis 14-Jährigen und die Gruppe der 14- bis 18-Jährigen wesentlich gewaltbereiter ist als in den anderen Bezirken«, berichtet  Susanne Vieth-Entus in ihrem Artikel über die neuen Erkenntnisse.

Und dann ein ganz entscheidender Punkt - gerade auch mit Blick auf die zu ziehenden sozialpolitischen Konsequenzen:

Die Probleme, die sich aus dem Migrantenstatus ergeben, sind für die Gewaltzahlen viel weniger bedeutsam als die erhöhte Arbeitslosigkeit und der Bezug von Transfereinkommen.

Wo Arbeitslosigkeit der Eltern samt Hartz-IV-Bezug und Perspektivlosigkeit in den Familien der Heranwachsenden vorherrscht, kommt es eher zu Auseinandersetzungen unter Jugendlichen. Thomas Rogalla zitiert in seinem Artikel über die Berliner Studie den bereits erwähnten Albrecht Lüter von der Arbeitsstelle Jugendprävention: „Das Monitoring zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozialer Struktur und Jugendgewalt“. Und der gibt der Politik einen wichtigen Ratschlag: Berlin braucht Wohnungen, „aber bevor man wieder Großsiedlungen plant, sollte man die Erfahrungen der Vergangenheit beachten.“

Diesen Aspekt greift auch  Susanne Vieth-Entus in ihrem Kommentar Wer will neue Hochhaussiedlungen? auf: »Wenn jetzt die Zuwanderung der Flüchtlinge und die mietpreisbedingte Verdrängung aus der Innenstadt verstärkt dazu führen, dass neue Hochbauvisionen in den Blick genommen werden, sollte man sich rechtzeitig überlegen, ob man wirklich neue Märkische Viertel möchte und neue Versionen von Hellersdorf-Nord.«

Es gibt allerdings noch eine zweite zentrale Schlussfolgerung, die man aus den Befunden ableiten könnte, wenn man denn wollte: Wieder einmal zeigt sich an diesem Beispiel die enorme, (in mehrfacher Hinsicht) existenzielle  Bedeutung von Arbeit für die Menschen. Insofern reichte s eben nicht aus, nur die einzelnen jungen Menschen mit gut gemeinten, sicher auch zuweilen wirksamen Präventionsmaßnahmen zu versorgen, sondern eine strukturelle Konsequenz müsste lauten: Schafft Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Und wenn das auf dem normalen Arbeitsmarkt nicht in dem notwendigen Maße funktioniert, dann schafft öffentlich geförderte Beschäftigung. Organisiert sinnvolle, das bedeutet vor allem "echte" Arbeit in den Quartieren, ermöglicht den Teilnehmern, mit einem daraus generierbaren Einkommen aus dem Transferleistungsbezug herauszukommen. Gerade an dem hier relevanten Beispiel Jugendgewalt kann man zeigen, dass der gesellschaftliche Mehrwert enorm wäre.