Man kann ein eigenes Archiv eröffnen, wenn es um die
Arbeitsbedingungen im Einzelhandel geht. Und dieses Archiv mit unzähligen
Berichten hätte eine recht eindeutige Unwucht ab dem Jahr 2000. Denn bis dahin
galt der Einzelhandel als eine relativ wohlgeordnete Branche. Die meisten
Beschäftigten hatten eine Ausbildung, die Arbeitgeber waren tarifgebunden –
wenn auch einige nicht freiwillig, sondern weil das Tarifwerk allgemein
verbindlich war. Das bedeutet, alle Unternehmen mussten sich an die tariflichen
Bestimmungen halten. Dadurch gab es eine wirkkräftige Sperre für
Dumpingversuche einzelner Unternehmen, denn die waren schlichtweg nicht
möglich.
Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard
Schröder hat dem ein Ende gesetzt, als auf Druck der Arbeitgeber die
Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben wurde. Seit diesem Schritt muss man
beobachten, wie die gesamte Branche auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt
wurde, denn nunmehr lohnte es sich für einzelne Unternehmen, nach unten
auszubrechen und beispielsweise durch Lohndumping bei den eigenen Beschäftigten
Kostenvorteile gegenüber der Konkurrenz zu „erwirtschaften“. Was dann natürlich
auch prompt geschehen ist. Nun hat so eine Rutschbahn die unangenehme
Konsequenz, dass sie früher oder später auch di mit nach unten zieht, die
eigentlich diesen Weg nicht gehen wollten, denn die Kostenvorteile der anderen,
die die neue Bewegungsfreiheit genutzt haben, wurden bzw. werden in einer
Branche, die sich durch einen brutalen Preiskrieg und sehr niedrige Margen
auszeichnet, so elementar, dass man sich dem dadurch ausgelösten Druck nicht
auf Dauer entziehen kann.
Dass das nicht nur Theorie ist, müssen wir diese Tage an
einem neuen Fallbeispiel beobachten. Es geht um die Einzelhandelskette Real. »Die
Unternehmensleitung ist aus der Tarifbindung ausgestiegen und will einen
Haustarif mit geringerer Bezahlung verhandeln«, berichtet die WirtschaftsWoche
in dem Artikel Mitarbeiter
demonstrieren gegen Lohnkürzungen.
Johannes Supe gibt uns in seinem Artikel Einzelhändler auf der Flucht weiterführende Informationen:
»Am 17. Juni erklärte Real, die Einzelhandelskette der Metro Group, man wolle seine Stellung im Unternehmerverband HDE ändern. Künftig werde man in eine »Mitgliedschaft ohne Tarifbindung« wechseln. Der Flächentarifvertrag des Einzelhandels verzerre den Wettbewerb, erklärte der Vorsitzende der Real-Geschäftsführung, Didier Fleury. Real müsse 30 Prozent höhere Lohnkosten aufbringen als seine Mitbewerber. Deshalb werde man nun einen Haustarifvertrag anstreben.«
Aus der Gewerkschaft ver.di wird berichtet, der Konzern wolle
die Wochenarbeitszeit erhöhen, das Stellenpensum der Belegschaft aber gleich
belassen. Unbezahlte Mehrarbeit wäre die Folge für die Beschäftigten. Das
treibt die Arbeitnehmer/innen verständlicherweise auf die Straße. Vor diesem
Hintergrund haben mehrere Tausend Mitarbeiter der Supermarktkette Real haben am
Mittwoch bundesweit gegen Lohnkürzungen demonstriert. Die zentrale Kundgebung
fand in Düsseldorf vor der Zentrale des Real-Mutterkonzerns Metro statt. Dort
tagte gleichzeitig der Aufsichtsrat. Rund 25.000 Unterschriften zum Erhalt des
Tarifvertrags seien an Vertreter des Metro-Managements übergeben worden.
Real ist im Juni auch deshalb aus dem Tarifvertrag ausgestiegen, um eine an sich fällige Lohnerhöhung für die Mitarbeiter zu vermeiden.
Real ist im Juni auch deshalb aus dem Tarifvertrag ausgestiegen, um eine an sich fällige Lohnerhöhung für die Mitarbeiter zu vermeiden.
Johannes Supe illustriert die Vorgänge am Beispiel von
Sigrid Maaß. Seit 1992 arbeitet sie beim Einzelhändler Real im Berliner Stadtteil
Treptow:
»Ab dem heutigen Donnerstag hätte Sigrid Maaß mehr verdient. 2,5 Prozent mehr sah die Tariferhöhung im Einzelhandel noch in diesem Jahr vor, dazu zwei Prozent im kommenden. Für Maaß wären das immerhin 80 zusätzliche Euro im Monat gewesen. Die bekommt sie nun nicht. Für die Frau mit der jahrzehntelangen Erfahrung in der Branche bleibt es bei monatlich 1.900 Euro brutto. Dafür arbeitet sie jede Woche 32,5 Stunden. Mehr gesteht der Konzern kaum jemandem zu. Nur noch Führungskräfte und einige, die Kunden besonders beraten müssten, bekämen Vollzeitstellen, sagt Maaß. Viele ihrer Kolleginnen arbeiteten unter 30 Stunden. Es gebe gar interne Stellenausschreibungen für nur acht Stunden Arbeit in der Woche.«
»Ab dem heutigen Donnerstag hätte Sigrid Maaß mehr verdient. 2,5 Prozent mehr sah die Tariferhöhung im Einzelhandel noch in diesem Jahr vor, dazu zwei Prozent im kommenden. Für Maaß wären das immerhin 80 zusätzliche Euro im Monat gewesen. Die bekommt sie nun nicht. Für die Frau mit der jahrzehntelangen Erfahrung in der Branche bleibt es bei monatlich 1.900 Euro brutto. Dafür arbeitet sie jede Woche 32,5 Stunden. Mehr gesteht der Konzern kaum jemandem zu. Nur noch Führungskräfte und einige, die Kunden besonders beraten müssten, bekämen Vollzeitstellen, sagt Maaß. Viele ihrer Kolleginnen arbeiteten unter 30 Stunden. Es gebe gar interne Stellenausschreibungen für nur acht Stunden Arbeit in der Woche.«
Wenn Real mit der Tarifflucht erfolgreich sein sollte, dann
hat ver.di allen Grund zur Sorge, denn dann sei absehbar, dass weitere
Einzelhandelsketten nachziehen – etwa Kaufland oder Thalia.
Insgesamt gerät die Branche in gefährliches Gelände aus
gewerkschaftlicher Sicht, denn der Flächentarifvertrag ist schon jetzt
erheblich angeschlagen. Bundesweit unterliegen ihm nur etwa die Hälfte der
Betriebe. In Berlin sind es nochmal weniger.
»Scheitere die Gewerkschaft bei Real, dann seien die
Arbeitsbedingungen in der ganzen Branche in Gefahr«, so Erika Ritter, die Leiterin
des ver.di-Fachbereichs Handel in Berlin-Brandenburg.
Vor diesem Hintergrund sind die Protestaktionen allerdings
mit einem Fragzeichen zu versehen. Denn eine erfolgreiche Abwehr kann es nur
geben, wenn die Mehrheit der Beschäftigten dabei ist. Angesichts dieser Zahlen
kommen einem da schon Zweifel:
»Mehr als 4.000 Angestellte nahmen laut ver.di an der zentralen Streikkundgebung in Düsseldorf teil. Das wäre eine kleine Minderheit der Belegschaft, denn die Gewerkschaft spricht von rund 38.000 Beschäftigten, die für Real arbeiten. In der Hauptstadt fanden sich gar nur 80 Streikende aus allen dortigen Filialen ein.«
»Mehr als 4.000 Angestellte nahmen laut ver.di an der zentralen Streikkundgebung in Düsseldorf teil. Das wäre eine kleine Minderheit der Belegschaft, denn die Gewerkschaft spricht von rund 38.000 Beschäftigten, die für Real arbeiten. In der Hauptstadt fanden sich gar nur 80 Streikende aus allen dortigen Filialen ein.«
Das verweist wieder einmal auf ein zentrales Dilemma von
ver.di gerade im Bereich vieler Dienstleistungen. Denn hier, gerade in den
Branchen mit einem hohen Frauenanteil, ist der Organisationsgrad der
Gewerkschaft überschaubar, um das höflich auszudrücken. Aber wenn keine
ausreichende Zahl an Beschäftigten in der Gewerkschaft ist, kann diese noch so
viel fordern, sie wird im Arbeitgeberlager nicht wirklich Eindruck machen
können, fehlt ihr in letzter Konsequenz doch das Druckmittel, die Arbeitgeber
mit einem wirksamen Arbeitskampf empfindlich treffen zu können.
Natürlich gäbe es auch die Option, dass die Politik tätig
wird und beispielsweise eine Rückkehr zur Allgemeinverbindlichkeit des
Tarifvertrags ins Auge fasst. Das hätte sie angesichts der Zustände im
Einzelhandel schon längst ernsthaft erwägen müssen. Warum das gar nicht so
einfach, aber dennoch dringend notwendig ist, wurde in diesem Beitrag thematisiert: Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge.