Mittwoch, 5. August 2015

Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge


Regelmäßig werden wir konfrontiert mit Berichten über problematische, in Teilbereichen nur als mies zu bezeichnende Arbeitsbedingungen des Personals im Lebensmitteleinzelhandel. Immer wieder Lohndumping-Versuche der Arbeitgeber in einer Branche, in der nicht einige wenige Leute beschäftigt sind, sondern sehr viele Menschen, vor allem Frauen, mit ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt verdienen (müssen). Und auch immer ganz vorne dabei die großen Discounter, aus denen dann den Medien Bruchstücke einer Arbeitswelt zugespielt werden, die ziemlich wenig zu tun hat mit dem Euphemismus „Jobwunder“, mit dem so gerne in Deutschland hantiert wird. Und diese Berichte in den Medien haben in den zurückliegenden Jahren immer mehr zugenommen und sie betreffen fast alle der auf diesem hart umkämpften Markt tätigen Unternehmen. Netto, Lidl, Rewe, auch Edeka – um nur einige aufzurufen. Allein in dieser Woche durchaus prominent platziert kritische Fernsehberichte über Lidl (Lidl als Arbeitgeber vom 03.08.2015) im Wirtschaftsmagazin „WISO“ (ZDF) und nur einen Tag später am 04.08.2015 im Politikmagazin „Report Mainz“ (ARD) der Beitrag Rewe in der Kritik: Wie durch den Verkauf der Märkte Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt werden. Und immer sind es die gleichen Muster, mit denen die betroffenen Arbeitnehmer/innen konfrontiert werden. Immer mehr Teilzeitverträge, immer öfter nur Stundenkontingente und Arbeit auf Abruf und immer wieder: unbezahlte Mehrarbeit. Zugleich kaum oder keine betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen bzw. da, wo es welche gab, wurden sie beseitigt im Zuge von „Privatisierungen“, also der Übernahme von bislang konzerneigenen Filialen durch selbständige Kaufleute.
In diesem Beitrag soll es nicht darum gehen, den seit Jahren immer und immer wieder vorgetragenen Einzelfällen weitere hinzuzufügen, sondern einen Schritt zurückzutreten und die letztendlich entscheidende Frage zu stellen: Kann es jenseits der wichtigen und berechtigten Kritik an dem Verhalten einzelner Unternehmen - die teilweise schon Änderungen bewirken kann, aber bei anderen, z.B. dem Discounter Netto, so gut wie keinen Effekt zeigen - eine strukturelle Lösung eines offensichtlich eben strukturellen, also die gesamte Branche betreffenden Problems geben? Und warum tut sich auf dieser grundsätzlichen Baustelle so wenig? Es geht also um die von mir in vielen Beiträgen in den vergangenen Jahren, in denen über die gleichen Muster in unterschiedlichen Unternehmen berichtet wurde, immer und immer wieder beschriebene „Rutschbahn nach unten“, auf der sich die Arbeitsbedingungen im Lebensmitteleinzelhandel befinden (müssen) und die Aufgabe, wenn schon nicht das Rad wieder zurückzudrehen in die alte Welt, so doch zumindest den Neigungswinkel der Rutschbahn erheblich zu verkleinern.


Wenn wir über den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland sprechen, dann wird man mit einem überaus konzentrierten Markt konfrontiert. Die Abbildung über die Verteilung der Marktanteile im Lebensmittelhandel verdeutlicht, dass wir es mit einem – wie die Ökonomen sagen – sehr engen Angebotsoligopol zu tun haben, also einige wenige marktstarke Anbieter stehen vielen kleinen marktschwachen Nachfragern (den Verbrauchern) gegenüber. Eine Marktform, die aus Wettbewerbsgründen mit größter Vorsicht und Argwohn zu behandeln ist. Genau das ist Aufgabe des Bundeskartellamtes und die tun das dann auch ganz praktisch, man denke hier aktuell an den Fall der beabsichtigten Übernahme von 450 Filialen von Kaiser's Tengelmann durch EDEKA, die Anfang April dieses Jahres vom Bundeskartellamt untersagt wurde (vgl. hierzu Bundeskartellamt untersagt Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA).

Das Kartellamt hatte im vergangenen Jahr eine „Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel“ veröffentlicht, in dem die Verfasstheit dieses Marktes ausführlich beschrieben worden ist (vgl. dazu: Bundeskartellamt: Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel. Darstellung und Analyse der Strukturen und des Beschaffungsverhaltens auf den Märkten des Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland. Bericht gemäß § 32 e GWB - September 2014, Bonn). Aus der Kurzfassung der Sektoruntersuchung:

»Durch die Konzentrationsentwicklungen der letzten Jahre ist heute nur noch eine über- schaubare Zahl an Lebensmitteleinzelhändlern in Deutschland tätig. Auf nationaler Ebene handelt es sich im Wesentlichen um die fünf führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland), Aldi und mit Einschränkungen Metro. Auch der Discounter Norma verfügt über ein überregionales Filialnetz ... Auf die führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe und Aldi entfallen deutlich mehr als drei Viertel aller Umsätze im Lebensmitteleinzelhandel, die mit Endkunden in Deutschland erzielt werden.«

Die oftmals hoch problematischen Folgen des gewaltigen Konzentrationsprozesses betreffen nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Zulieferer, auf die ein gnadenloser Preis- und damit Kostendruck ausgeübt wird (den sie oft nur an die eigenen Beschäftigten weitergeben können, wenn sie im Markt bleiben wollen) und auch für die Verbraucher. Auch das wird von den Medien aufgegriffen, vgl. beispielsweise die ZDF-Dokumentation Die Macht von Aldi, Edeka & Co. Kundenkampf um jeden Preis, die am 08.07.2015 ausgestrahlt wurde.

Hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsbedingungen in den Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels muss man von einer Welt „vor“ und einer „nach“ dem Jahr 2000 sprechen. Bis zum Jahr 2000 war die Welt des Einzelhandels insgesamt und damit auch in diesem Teilbereich des Wirtschaftszweigs relativ wohlgeordnet, in der Arbeitsmarktforschung hat man von einer „stabilen Branche“ gesprochen. Und das hatte damit zu tun, dass bis zu diesem Jahr eine flächendeckende Tarifsystematik über alle Unternehmen vorhanden war, denn: Bis 1999 waren im Einzel- und im Großhandel nahezu alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, die Lohn- und Gehaltsstruktur insgesamt, die Manteltarifverträge und die Tarifverträge zu vermögenswirksamen Leistungen usw. Bis zum Jahr 1999 gab es einen Konsens zwischen Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels und den damaligen Gewerkschaften HBV und DAG, nach Unterzeichnung der Tarifverträge einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu stellen.

Dieser Konsens wurde im Jahr 2000 von der Arbeitgeberseite aufgekündigt. Das stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Spaltung der Arbeitgeberverbände, denn im Jahr 2000 erfolgte die Abspaltung der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe) als selbständiger Tarifträgerverband und dort wurde die OT-Mitgliedschaft zugelassen, also eine Mitgliedschaft im Verband ohne Tarifbindung. Peek und Cloppenburg war das erste große Handelsunternehmen, das in die OT-Mitgliedschaft wanderte. Unter Zugzwang gesetzt führte dann auch der HDE (Hauptverband des deutschen Einzelhandels) die OT Mitgliedschaft ein. Übrigens: Diese Spaltung war nicht von Dauer: Ende 2009 war die BAG wirtschaftlich am Ende, denn Karstadt als Hauptfinanzier der BAG konnte diese nicht mehr finanzieren und der Mitgliederverlust war ein weiterer Sargnagel in die Existenz dieses Verbandes. Seit dieser Zeit existiert als Tarifträgerverband im Einzelhandel nur noch ein Arbeitgeberverband – der HDE Handelsverband Deutschland.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Allgemeinverbindlichkeit im Einzelhandel wurde Anfang des neuen Jahrtausends von den Arbeitgebern zerstört, denn die OT-Mitgliedschaft stand im Widerspruch zur Allgemeinverbindlichkeit, denn die betreffenden Unternehmen wollten sich ja gerade aus der Tarifbindung verabschieden. Außerdem wurde das Erfordernis des mindestens 50%-Anteils tarifgebundener Unternehmen durch den Austritt von Unternehmen aus den Verbänden nicht mehr erreicht. Im Jahr 2000 wurde dann seitens der Arbeitgeber der Konsens aufgekündigt, beantragte Allgemeinverbindlichkeitserklärungen über die Arbeitgebervertreter im Tarifausschuss abgelehnt und das bis dato bewährte Ordnungssystem im Einzelhandel einem sich selbst beschleunigenden Zerstörungsmechanismus ausgeliefert. Dabei lohnt es sich, noch einmal in die Zeit vor 2000 zurückzublicken, mit welchen Argumenten man die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gerechtfertigt hat – und zwar von beiden Seiten, also Gewerkschaften und Arbeitgeber. Man wird auf eine überaus moderne, weil heute hoch relevante Begründungslinie stoßen:
Danach ist der Einzelhandel eine Branche mit extrem hoher Wettbewerbsintensität. Personalkosten spielen eine strategisch wichtige Rolle. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung dient dazu, dass nicht durch Nichtbeachtung der Tarifverträge Personalkostenvorteile gegenüber tarifgebundenen Konkurrenten erzielt werden können. Außerdem wurde gesehen, dass darüber realisierte Personalkosteneinsparungen in eine Intensivierung des Verdrängungswettbewerbs fließen würden.

Genau so ist es dann ja auch in den Jahren nach 2000 passiert.

Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald haben kürzlich eine Studie veröffentlicht, aus der man ganz praktisch die Folgen gerade für die Arbeitnehmer ablesen kann, die sich aus der abnehmenden Tarifbindung in der Branche ergeben (Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte, in: ifo Schnelldienst, Heft 11/2015, S. 33-40):

»Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene ... und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.«

Diese für die gesamte Branche ermittelten Werte decken sich gut mit konkreten Erfahrungen, die man machen kann bzw. muss hinsichtlich der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte gerade im Lebensmitteleinzelhandel, wenn Filialen, die bislang als Konzernfilialen geführt wurden, „privatisiert“, also an selbständige Kaufleute abgegeben werden, die dann weiter unter dem Namensdach des Konzerns segeln. Diese Umwandlung passiert gerade bei Rewe, Vorreiter der Entwicklung ist aber EDEKA. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der „Privatisierungsstrategie“ hat die Gewerkschaft ver.di 2012 veröffentlicht:

Ver.di Bundesverwaltung (Hrsg.): Schöne neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handels am Beispiel der Firma EDEKA, Berlin 2012.

Auch hier wird immer wieder von Einkommenseinbußen in Höhe von 20 bis 30 Prozent gegenüber vorher berichtet. Hinzu kommen weitere deutliche Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Neben der Gestaltung der Arbeitsverträge gerade hinsichtlich der Stundenvorgaben beobachtet man in aller Regel ein Verschwinden der bereits vorher mehr als dünnen betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen, denn in den „privatisierten“ Märkten gibt es in aller Regel keinen einzigen Betriebsrat.

Interessanterweise spielt dieser Aspekt sogar eine Rolle in der ablehnenden Stellungnahme der Monopolkommission hinsichtlich der beantragten Ministererlaubnis für eine Übernahme der 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA (vgl. herzu Monopolkommission: Zusammenschlussvorhaben der Edeka Zentrale AG & Co. KG mit der Kaiser’s Tengelmann GmbH. Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 42 Abs. 4 Satz 2 GWB. Bonn. August 2015):

»Nach Ansicht der Monopolkommission sind Vereinbarungen, mit denen ein Unternehmen den Erhalt sämtlicher Arbeitsplätze verspricht, in tatsächlicher Hinsicht nicht geeignet, den betriebswirtschaftlichen Zwängen, die gegebenenfalls einen Abbau von Arbeitsplätzen erfordern, wirksam zu begegnen. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass eine Vereinbarung mit der Edeka Zentrale keine rechtliche Bindungswirkung für die selbstständigen Einzelhändler, an die Filialen übertragen werden sollen, entfalten würde. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass das häufige Fehlen von Mitbestimmungsstrukturen in den privatisierten Filialen zu Einschränkungen des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes in der Praxis führen wird, wovon auch ältere Beschäftigte und solche mit einem hohen Qualifikationsniveau betroffen wären.« (S. 49 f.)

Was also tun angesichts dieser Entwicklungen und vor allem der bekannten Folgen, die sich in den vielen Einzelfällen besichtigen lassen? Immer wieder einzelne Unternehmen vor das zumeist kurzlebige Auge einer zu Recht skandalisierenden Medienberichterstattung zu zerren, reicht offensichtlich nicht aus, denn die Branche sitzt strukturell auf einer „Rutschbahn nach unten“, deren innere Rationalität dazu führen muss, dass selbst „gut meinende“ Unternehmen gezwungen sind, sich an dem Lohnkostensenkungsautomatismus zu beteiligen, wollen sie nicht über kurz oder lang aus dem Markt gekegelt werden.

Systematisch gesehen ergeben sich drei grundsätzliche Optionen, um die Tarifbindung der „alten Welt“ wieder herzustellen bzw. wenigstens einige Aspekte der damit verbundenen Ordnungs- und Schutzfunktion wieder herzustellen:

1.) Eine Rückkehr zu einer umfassenden Tarifbindung von Unternehmen und Beschäftigten, wie es sie mal gegeben hat – allerdings ist diese „beste“ Option unrealistisch, nicht nur aufgrund der massiven Tarifflucht der Arbeitgeber, sondern auch aufgrund des niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Beschäftigten in vielen Dienstleistungsbereichen.

2.) Dann bliebe als „ große mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gesamter Branchentarifverträge bzw. als „kleine mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeit eines Branchen-Mindestlohns als unterste Haltelinie, wobei die kleinere Variante der AVE das Grundproblem hat, dass eben nur ein branchenspezifischer Mindestlohn für alle gilt, nicht aber die gesamte Tarifvertragssystematik.

3.) Auf der untersten Ebene steht dann das, was wie gerade erlebt haben, der Substitutionsversuch durch die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes. Das mag hier und da ein wichtige und gute Verbesserung sein, birgt aber auch die übrigens derzeit schon beobachtbare Gefahr, dass die Vergütungen abgesengt werden auf den Referenzpunkt des Mindestlohns.

Vor diesem Hintergrund drängt sich der Lösungsvorschlag auf, einen deutlichen Schritt „zurück“ zu gehen und die Allgemeinverbindlichkeit der tarifvertraglichen Ordnung wieder herzustellen. Und dafür gibt es durchaus im Grunde einen Ansatzpunkt: die Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifverträge (AVE) auf der Basis des Tarifvertragsgesetzes.  Aber warum passiert dann an dieser Stelle nichts? Um das zu verstehen, muss man kurz eintauchen in die Systematik und die Hürden einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung.

Der grundsätzliche Weg der AVE läuft über das Tarifvertragsgesetz. Dazu gleich mehr. Daneben gibt es den Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Dieses seit 1996 vorhandene Gesetz hatte das Ziel, dass ausländische Unternehmen an die tariflichen Mindestarbeitsbedingungen (Entgelt, Urlaub, Urlaubsgeld) hier in Deutschland gebunden werden sollten. Bis zum Jahr 2007 war lediglich das Bauhauptgewerbe und das Baunebengewerbe vom Arbeitnehmerentsendegesetz erfasst. Bereits im Jahr 1998 gab es eine Neuregelung dieses Gesetzes, durch die eine bis dahin bestehende Hürde beseitigt wurde, nämlich die Anforderung, dass die tarifgebundenen Unternehmen mindestens 50 % der Beschäftigten der Branche umfassen. Außerdem wurde geregelt, dass das BMAS durch Rechtsverordnung die AVE eines Tarifvertrags herstellen kann – auch gegen den Willen der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber. Hierbei handelt es sich um einen ganz entscheidenden Passus der ein Grunddilemma der AVE auflösen könnte.  Könnte deshalb, bei dieser Option bislang noch nie genutzt wurde. Die AVE im Kontext des Arbeitnehmerentsendegesetzes wurde in den Jahren nach 2007 vor allem für die Implementierung von Branchen-Mindestlöhnen benutzt, also für die oben beschriebene „kleine mittlere Variante“.

Der normale Weg eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung der tarifvertraglichen Strukturen im Einzelhandel müsste über das Tarifvertragsgesetz laufen. Und an und für sich könnte man meinen, dass die Voraussetzungen, diesen Weg zu gehen, durch die große Koalition deutlich verbessert worden sind. Bereits in dem Koalitionsvertrag vom Dezember 2013 haben sich die Unionsparteien und die SPD auf das folgende Vorhaben unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ verständigt:

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn alternativ:
die Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (Sozialkassen) gesichert werden soll,
die AVE die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
die Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies umgesetzt werden kann.« (S. 48)

Und es ist nicht so, dass die Große Koalition untätig geblieben wäre, denn mit dem „Tarifautonomiestärkungsgesetz“, mit dem der allgemeine gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde, hat man auch das 50%-Quorum abgeschafft und damit eine bisherige Hürde auf dem Weg zur AVE. Allerdings bleibt es wie bei einem beschwerlichen Hürdenlauf: Auch wenn eine Hürde weniger da ist, die nächste baut sich unbezwingbar vor einem auf. Dazu genügt ein Blick in das Tarifvertragsgesetz und hierbei konkret in den § 5 TVG. Dort heißt es im Absatz 1:

»Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.«

Entscheidend ist hier die Formulierung: „im Einvernehmen“ mit dem Tarifausschuss. Daraus resultiert eine effektive Blockademöglichkeit einer wieder stärkeren Nutzung der AVE seitens der Arbeitgeber, denn wenn die das im Tarifausschuss verweigern, dann wird nichts passieren (können). Weil das BMAS hier eben nicht die Option hat, auch gegen den Widerstand beispielsweise der Arbeitgeber einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn denn das öffentliche Interesse dafür spricht – und das öffentliche Interesse wird definiert über zwei Merkmale: Sicherung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Wahrung der Tarifautonomie. Gerade mit dem letzten Punkt könnte man angesichts der Tarifflucht-Realitäten im Einzelhandel argumentieren.

Ein aktuelles und handfestes Beispiel zu der Totalblockademöglichkeit seitens der Arbeitgeber kommt aus dem Saarland (vgl. hierzu bereits meinen Blog-Beitrag vom 16.07.2015): Heftiger Streit um Löhne in der Saar-Gastronomie, so hat Joachim Wollschläger seinen Artikel überschrieben.

Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) Saarland wirft der Vereinigung der saarländischen Unternehmensverbände (VSU) vor, auskömmliche Gehälter zu verhindern. Was ist passiert? Die NGG im Saarland wirft der VSU vor, sie »habe durch ihr Veto verhindert, dass die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel- und Gastgewerbe nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien ... Und das nicht aus sachlichen Gründen, sondern nur aus Prinzip, um nicht im Saarland Vorreiter zu werden, so der Vorwurf.«

Der Pressemitteilung der NGG (VSU betreibt rückwärtsgewandte Blockadepolitik) kann man entnehmen:

»Die Tarifvertragsparteien hatten unter anderem das Ziel, mit einem allgemeinverbindlichem Einstiegsentgelt für Fachkräfte in Höhe von 9,40 €/h, die Attraktivität einer Ausbildung im Gastgewerbe zu steigern und sicherzustellen, dass Fachkräfte flächendeckend mehr Entgelt erhalten als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 €/h. Mit dem ersten Einstieg in die AVE sollte außerdem ein fairer Wettbewerb gewährleistet werden und dem öffentlichen Interesse nach einem zukunftsfähigen Gastgewerbe Rechnung getragen werden. Die AVE der unteren 2 Entgeltgruppen sollte zudem eine Mindestentlohnung für Mitarbeiter im Gastgewerbe ohne Ausbildung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns festschreiben.«

Man muss an dieser Stelle besonders hervorheben: Im Vorfeld des Antrags auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) - wohlgemerkt nicht des gesamten Tarifvertrags, sondern der drei unteren Entgeltgruppen - hatte die Gewerkschaft NGG gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Saar einen Tarifvertrag ausgehandelt und gleichzeitig beschlossen, diesen für die untersten drei Entgeltgruppen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Mit dem Ziel, dass Fachkräfte deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden. Es handelt sich also um eine konzertierte Aktion der beiden Tarifvertragsparteien, nicht nur der Gewerkschaft.

Aber hier wird ein systematisches Problem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offensichtlich. Zwar hat man eine Hemmschwelle beseitigt, aber eben nur eine. Konkret am Beispiel dessen, was im Saarland abläuft:

»Der Gesetzgeber hat zur Erleichterung einer AVE zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2015 die starre Quotenregelung, wo nach 50 % der Beschäftigten einer Branche im antragsstellenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen, zu Gunsten des öffentlichen Interesses aufgegeben.
Leider wurde branchenfremden Verbänden weiterhin eine Veto-Möglichkeit im Gesetz eingeräumt, wie sie die Vereinigung saarländischer Arbeitgeberverbände (VSU) in der Anhörung zur AVE am 9. Juli 2015 im saarl. Wirtschaftsministerium, auch genutzt hat. DEHOGA- Saarland und NGG haben im Rahmen der Anhörung ausführlich Stellung zum Antrag bezogen. Beide Tarifvertragsparteien sind allerdings nicht stimmberechtigt, was aus Sicht der NGG eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellt«, so die NGG Saarland in ihrer Pressemitteilung.

Fazit: Wenn die Bundesregierung dabei bleibt, nur das 50%-Quorum abzuschaffen, nicht aber die überaus harte und hohe Hürde des Einvernehmens im Tarifausschuss auch zu schleifen für die Fälle, in denen aus übergeordneten Erwägungen eine AVE im gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen, letztendlich aber mit Blick auf die Verwüstungen in der Branche sogar betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, dann wird es weiter keine Bewegung geben (können). Die Politik könnte entscheiden, wenn sie denn wollte. Um endlich wieder mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Es steht aber zu befürchten, dass aufgrund der scheinbar bereits eingesetzten Handlungsstarre vor der nächsten Bundestagswahl 2017 (!) alle Akteure in der Großen Koalition in eine Art Dauerwinterschlaf verfallen sind und keine erkennbaren Bestrebungen zu beobachten sind, dieses Problem wenigstens mal anzugehen, geschweige denn zu lösen. Machbar aber wäre das. Wenn der Wille da wäre.